07.08.2025

Traum, Trieb und Trance

Breathing Matter(s)
Großflächige Video-Ausstellung
(Foto: Silent Green © Bernd Brundert)

Das Berliner Silent Green wird zur Projektionsfläche für die sinnliche Ethnographie von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel. »Breathing Matter(s)« lässt Dokumentation, Körperlichkeit und Unterbewusstsein verschmelzen

Von Jonas Nestroy

Eine Ausstel­lung im Berliner Kultur­quar­tier Silent Green zu besuchen, heißt, in sie hinab­zu­steigen. Eine lange Rampe führt immer tiefer unter die Erde des ehema­ligen Krema­to­riums, in die soge­nannte Beton­halle des Geländes. Sie zu Beginn der Ausstel­lung »Breathing Matter(s)« entlang­zu­schreiten, fühlt sich an wie das langsame Eintreten in einen halb­wa­chen Zustand, wie die Regres­sion auf ein früheres Stadium des Mensch­seins, in dem die eigenen Sinne nicht mehr der Vernunft unter­liegen und das Unter­be­wusste regiert. Die Schritte entlang des Gefälles werden auto­ma­tisch träger, während man mit Haut und Haar in die Video­ar­beit »The Last Judgment« eintaucht. Besetzt wird das Gehör von einem lauten Blubbern, Rumoren, Rauschen, der Blick gefangen von über und neben einem flie­genden Möwen – als würde man sich von den Bewe­gungen eines Mobiles hypno­ti­sieren lassen. In einem kleinen Seiten­raum der Rampe wartet die Video­in­stal­la­tion »Hell Roaming Creek«, in der endlos viele Schafe einen reißenden Bach über­queren. Die Aufnahme einer Farm in Montana wirkt wie eine realis­ti­sche Umsetzung der bekannten Einschlaf­technik.

Wenn am Ende des Abstiegs die eigene Hand vor Augen nur noch sche­men­haft zu erkennen ist und das reine Sehen nicht mehr ganz verläss­lich erscheint, könnte man wohl kaum besser auf das Werk des Filme­ma­cher-Paars Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor einge­stimmt sein. Seit ihrem gemein­samen Durch­bruch mit dem Film Leviathan (2012) arbeiten sie an einem Œuvre irgendwo zwischen Doku­mentar-, Essay- und Expe­ri­men­tal­film. Selten wird hier die Begegnung mit dem Menschen als distan­zierte Beob­ach­tung gedacht. Eher als Intro­spek­tion in das Mensch­sein an sich, vermit­telt durch jene Momente in Psyche und Handlung, die sich der bewussten Kontrolle entzogen haben. Bewusste Kontrolle bleibt auch beim Sehen ihrer Filme schwierig. Zu sehr ist man auf den eigenen Körper und seine Sinne zurück­ge­worfen, die gerne mitge­rissen, aber oft auch über­for­dert oder abge­stoßen werden. Für Leviathan haben die Schwei­zerin und der Brite Mini-DV-Kameras an einem indus­tri­ellen Fish­trawler und den Körpern seiner Crew befestigt. Heraus­ge­kommen ist ein in Knochen und Mark gehender Bilder­strom, wenn das Meer und seine Bewohner immer wieder gegen die Kame­ra­linse schwappen, man mit dem schwan­kenden Schiff und seinen schweren Fang­netzen ins Wasser getaucht und wieder heraus­ge­zogen wird. In »Breathing Matter(s)« ist der gesamte 90-minütige Film zu durch­leben, während man in Sitz­sä­cken versinkt, aus denen es genauso schwer hinaus­zu­kommen ist wie aus dieser alle Wahr­neh­mungs­kanäle affi­zie­renden Film­erfah­rung.

In den Bildern der indus­tri­ellen Fischerei liegt eine tiefere Frage nach der mensch­li­chen Hand­lungs­macht. Wenn das Anthro­pozän das Zeitalter ist, in dem der Mensch die Erde formt, dann ist auch die Gefahr präsent, Kräfte entfes­selt zu haben, die er nicht mehr bändigen kann. Leviathan thema­ti­siert dieses gesell­schaft­lich Unbe­wusste – »Breathing Matter(s)« erweitert es um das indi­vi­duell Unbe­wusste. Leviathan in einem Nach­bar­raum gegen­ü­ber­ge­stellt ist somni­lo­quies (2017), der auf der Tonspur die Traum­ta­ge­bücher des US-ameri­ka­ni­schen Song­wri­ters Dion McGregor versam­melt. Über Jahre hat McGregors Mitbe­wohner in New York sein ausuferndes Sprechen im Schlaf aufge­zeichnet. Es sind ausfor­mu­lierte Träume samt entspre­chender Logik, die McGregor vorträgt: von einer Dame mit Platin­busch zwischen den Beinen hin zu einer ganz neuen Zeitform, der Schne­cken­zeit. Proji­ziert dazu werden stark verschwom­mene Bilder eines Körpers. Wie er dort nackt und spärlich beleuchtet in der absoluten Dunkel­heit schwebt, wirkt es, als sei er noch einmal in eine schüt­zende Hülle zurück­ge­kehrt, wo die Gedanken noch keine Sozia­li­sa­tion erfahren haben und trotzdem den Ausdruck einer Sprache finden. Es ist eine der schönsten Leis­tungen der Ausstel­lungs­ku­ra­tion des Silent Green, dass man sich diesem sonder­baren Bild so nahe fühlt.

In der Film- und Video­in­stal­la­tion »Commensal« fällt das Verhältnis von Sonder­bar­keit und Nähe deutlich frag­wür­diger aus. Entstanden ist sie aus Castaing-Taylors und Paravels kontro­versem Film Caniba. Fast zu nah kommt man dem darin porträ­tierten Issei Sagawa, der in den 1980er-Jahren in Paris eine Kommi­li­tonin ermordete und teilweise verspeiste. Zu nah sind die Bilder, wie sie den geal­terten und inzwi­schen pfle­ge­be­dürf­tigen Körper Sagawas abtasten. Zu nah auch der Blick auf die selbst­ge­zeich­neten Mangas, welche seine Tat genau schildern. Wenn Sagawa dabei etwa vom zartesten Fleisch des mensch­li­chen Körpers berichtet, schiebt sich in diesem Film keine Refle­xi­ons­ebene zwischen ihn und die Besucher der Ausstel­lung. Mehr verweist noch der zweite Kanal, eine Super-8-Projek­tion aus der Kindheit Sagawas, auf so etwas wie ein fehlendes Angebot seiner Psycho­lo­gi­sie­rung. Wo eine Erzählung fehlt, die helfen könnte, das Gesehene und Gehörte zu erklären, stellt sich die Frage nach der Natür­lich­keit seines Verlan­gens.

Solche Fragen nach grund­le­genden Anlagen, Trieben und Wünschen des Menschen sind in Castaing-Taylors und Paravels Werk kaum zu verkennen. Auch wenn sie ihre Herkunft von der klas­si­schen Anthro­po­logie der Wissen­schaft hinter sich lassen wollten, hört doch das Schaffen von Wissen in ihren Arbeiten nicht auf. Castaing-Taylor hat dafür 2003 das Ethno­graphy Sensory Lab an der Univer­sität in Harvard gegründet, das er bis heute leitet. Anspruch dessen Arbeit ist ein ethno­gra­fi­scher Blick, der nicht von außen fest­stellt, sondern sich einer Erfahrung hingibt und sie versucht, fühlbar zu machen. Teilnahme soll Beob­ach­tung ersetzen, die rohe Sensorik tritt an die Stelle der Ratio.

In der Haupt­at­trak­tion der Ausstel­lung wird das unmit­telbar spürbar: Aus ihrem Film De Humani Corporis Fabrica haben Castaing-Taylor und Paravel eine die gesamte Haupt­halle einneh­mende Multi­kanal-Video­in­stal­la­tion eigens für das Silent green ange­fer­tigt. Die Linea­rität des Kinos wird aufge­bro­chen, indem sieben Kanäle jeweils eine Szene dieser visze­ralen Reise in den mensch­li­chen Körper zeigen. Was in der Kino­ver­sion fast schon klassisch doku­men­ta­risch als filmi­sches Porträt eines Kran­ken­hauses funk­tio­niert, offenbart als Video­in­stal­la­tion ein neues ästhe­ti­sches Potenzial. Kaum lässt sich hier einer Szenerie konzen­triert zuschauen, zu dicht beiein­ander sind die Leinwände ange­ordnet. In ein mittels Haken aufge­ris­senes Auge zu schauen, dem die Linse ausge­tauscht wird, geht dann etwa einher mit dem Blick auf die Sezierung eines flei­schigen Uterus und zäher Venen. Mehr noch als im Kino, wo sich in Ruhe auch den Stimmen der Pfleger und Ärzte zum Geschehen lauschen lässt, steht hier die Diver­sität des körper­li­chen Materials selbst im Vorder­grund.

Im Zentrum aber steht die Schluss­szene des Films, die die größte Projek­tion bekommen hat. Hier feiert die Kran­ken­haus­be­leg­schaft in der Cafeteria sich den Stress von der Seele. Alle 20 Minuten schwillt der Sound von »I Will Survive« und »New Orders Blue Monday« so stark an, dass die Körper­auf­nahmen der anderen Szenen eine eigen­wil­lige rhyth­mi­sche Dynamik offen­baren. Kleine Robo­ter­arme wühlen sich zum Beat durch einen Fleisch­kanal, der sich langsam mit Blut füllt. Mikro­sko­pi­sche Aufnahmen von Brust­krebs­zellen präsen­tieren sich als abstraktes Gemälde mit bunter Farb­kom­po­si­tion. Und beides löst sich von der realen Szenerie des Kran­ken­hauses und wird zur spie­le­ri­schen Visua­li­sie­rung der Musik. Wo weder ein körper­li­ches noch intel­li­gi­bles Wissen erzeugt oder über­tragen wird, erfährt man einen weiteren Trieb des Menschen am eigenen Leib: ein tief­lie­gender Spiel­trieb mit ästhe­ti­schen Formen. Eben ein Bedürfnis nach Kunst.

Breathing Matter(s) – Véréna Paravel & Lucien Castaing-Taylor

Silent Green, Berlin
Noch bis 24.08.2025

Öffnungs­zeiten: Mo–Fr, 14–20 Uhr / Sa–So, 11–20 Uhr
Eintritt frei