Traum, Trieb und Trance |
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Großflächige Video-Ausstellung | ||
(Foto: Silent Green © Bernd Brundert) |
Von Jonas Nestroy
Eine Ausstellung im Berliner Kulturquartier Silent Green zu besuchen, heißt, in sie hinabzusteigen. Eine lange Rampe führt immer tiefer unter die Erde des ehemaligen Krematoriums, in die sogenannte Betonhalle des Geländes. Sie zu Beginn der Ausstellung »Breathing Matter(s)« entlangzuschreiten, fühlt sich an wie das langsame Eintreten in einen halbwachen Zustand, wie die Regression auf ein früheres Stadium des Menschseins, in dem die eigenen Sinne nicht mehr der Vernunft unterliegen und das Unterbewusste regiert. Die Schritte entlang des Gefälles werden automatisch träger, während man mit Haut und Haar in die Videoarbeit »The Last Judgment« eintaucht. Besetzt wird das Gehör von einem lauten Blubbern, Rumoren, Rauschen, der Blick gefangen von über und neben einem fliegenden Möwen – als würde man sich von den Bewegungen eines Mobiles hypnotisieren lassen. In einem kleinen Seitenraum der Rampe wartet die Videoinstallation »Hell Roaming Creek«, in der endlos viele Schafe einen reißenden Bach überqueren. Die Aufnahme einer Farm in Montana wirkt wie eine realistische Umsetzung der bekannten Einschlaftechnik.
Wenn am Ende des Abstiegs die eigene Hand vor Augen nur noch schemenhaft zu erkennen ist und das reine Sehen nicht mehr ganz verlässlich erscheint, könnte man wohl kaum besser auf das Werk des Filmemacher-Paars Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor eingestimmt sein. Seit ihrem gemeinsamen Durchbruch mit dem Film Leviathan (2012) arbeiten sie an einem Œuvre irgendwo zwischen Dokumentar-, Essay- und Experimentalfilm. Selten wird hier die Begegnung mit dem Menschen als distanzierte Beobachtung gedacht. Eher als Introspektion in das Menschsein an sich, vermittelt durch jene Momente in Psyche und Handlung, die sich der bewussten Kontrolle entzogen haben. Bewusste Kontrolle bleibt auch beim Sehen ihrer Filme schwierig. Zu sehr ist man auf den eigenen Körper und seine Sinne zurückgeworfen, die gerne mitgerissen, aber oft auch überfordert oder abgestoßen werden. Für Leviathan haben die Schweizerin und der Brite Mini-DV-Kameras an einem industriellen Fishtrawler und den Körpern seiner Crew befestigt. Herausgekommen ist ein in Knochen und Mark gehender Bilderstrom, wenn das Meer und seine Bewohner immer wieder gegen die Kameralinse schwappen, man mit dem schwankenden Schiff und seinen schweren Fangnetzen ins Wasser getaucht und wieder herausgezogen wird. In »Breathing Matter(s)« ist der gesamte 90-minütige Film zu durchleben, während man in Sitzsäcken versinkt, aus denen es genauso schwer hinauszukommen ist wie aus dieser alle Wahrnehmungskanäle affizierenden Filmerfahrung.
In den Bildern der industriellen Fischerei liegt eine tiefere Frage nach der menschlichen Handlungsmacht. Wenn das Anthropozän das Zeitalter ist, in dem der Mensch die Erde formt, dann ist auch die Gefahr präsent, Kräfte entfesselt zu haben, die er nicht mehr bändigen kann. Leviathan thematisiert dieses gesellschaftlich Unbewusste – »Breathing Matter(s)« erweitert es um das individuell Unbewusste. Leviathan in einem Nachbarraum gegenübergestellt ist somniloquies (2017), der auf der Tonspur die Traumtagebücher des US-amerikanischen Songwriters Dion McGregor versammelt. Über Jahre hat McGregors Mitbewohner in New York sein ausuferndes Sprechen im Schlaf aufgezeichnet. Es sind ausformulierte Träume samt entsprechender Logik, die McGregor vorträgt: von einer Dame mit Platinbusch zwischen den Beinen hin zu einer ganz neuen Zeitform, der Schneckenzeit. Projiziert dazu werden stark verschwommene Bilder eines Körpers. Wie er dort nackt und spärlich beleuchtet in der absoluten Dunkelheit schwebt, wirkt es, als sei er noch einmal in eine schützende Hülle zurückgekehrt, wo die Gedanken noch keine Sozialisation erfahren haben und trotzdem den Ausdruck einer Sprache finden. Es ist eine der schönsten Leistungen der Ausstellungskuration des Silent Green, dass man sich diesem sonderbaren Bild so nahe fühlt.
In der Film- und Videoinstallation »Commensal« fällt das Verhältnis von Sonderbarkeit und Nähe deutlich fragwürdiger aus. Entstanden ist sie aus Castaing-Taylors und Paravels kontroversem Film Caniba. Fast zu nah kommt man dem darin porträtierten Issei Sagawa, der in den 1980er-Jahren in Paris eine Kommilitonin ermordete und teilweise verspeiste. Zu nah sind die Bilder, wie sie den gealterten und inzwischen pflegebedürftigen Körper Sagawas abtasten. Zu nah auch der Blick auf die selbstgezeichneten Mangas, welche seine Tat genau schildern. Wenn Sagawa dabei etwa vom zartesten Fleisch des menschlichen Körpers berichtet, schiebt sich in diesem Film keine Reflexionsebene zwischen ihn und die Besucher der Ausstellung. Mehr verweist noch der zweite Kanal, eine Super-8-Projektion aus der Kindheit Sagawas, auf so etwas wie ein fehlendes Angebot seiner Psychologisierung. Wo eine Erzählung fehlt, die helfen könnte, das Gesehene und Gehörte zu erklären, stellt sich die Frage nach der Natürlichkeit seines Verlangens.
Solche Fragen nach grundlegenden Anlagen, Trieben und Wünschen des Menschen sind in Castaing-Taylors und Paravels Werk kaum zu verkennen. Auch wenn sie ihre Herkunft von der klassischen Anthropologie der Wissenschaft hinter sich lassen wollten, hört doch das Schaffen von Wissen in ihren Arbeiten nicht auf. Castaing-Taylor hat dafür 2003 das Ethnography Sensory Lab an der Universität in Harvard gegründet, das er bis heute leitet. Anspruch dessen Arbeit ist ein ethnografischer Blick, der nicht von außen feststellt, sondern sich einer Erfahrung hingibt und sie versucht, fühlbar zu machen. Teilnahme soll Beobachtung ersetzen, die rohe Sensorik tritt an die Stelle der Ratio.
In der Hauptattraktion der Ausstellung wird das unmittelbar spürbar: Aus ihrem Film De Humani Corporis Fabrica haben Castaing-Taylor und Paravel eine die gesamte Haupthalle einnehmende Multikanal-Videoinstallation eigens für das Silent green angefertigt. Die Linearität des Kinos wird aufgebrochen, indem sieben Kanäle jeweils eine Szene dieser viszeralen Reise in den menschlichen Körper zeigen. Was in der Kinoversion fast schon klassisch dokumentarisch als filmisches Porträt eines Krankenhauses funktioniert, offenbart als Videoinstallation ein neues ästhetisches Potenzial. Kaum lässt sich hier einer Szenerie konzentriert zuschauen, zu dicht beieinander sind die Leinwände angeordnet. In ein mittels Haken aufgerissenes Auge zu schauen, dem die Linse ausgetauscht wird, geht dann etwa einher mit dem Blick auf die Sezierung eines fleischigen Uterus und zäher Venen. Mehr noch als im Kino, wo sich in Ruhe auch den Stimmen der Pfleger und Ärzte zum Geschehen lauschen lässt, steht hier die Diversität des körperlichen Materials selbst im Vordergrund.
Im Zentrum aber steht die Schlussszene des Films, die die größte Projektion bekommen hat. Hier feiert die Krankenhausbelegschaft in der Cafeteria sich den Stress von der Seele. Alle 20 Minuten schwillt der Sound von »I Will Survive« und »New Orders Blue Monday« so stark an, dass die Körperaufnahmen der anderen Szenen eine eigenwillige rhythmische Dynamik offenbaren. Kleine Roboterarme wühlen sich zum Beat durch einen Fleischkanal, der sich langsam mit Blut füllt. Mikroskopische Aufnahmen von Brustkrebszellen präsentieren sich als abstraktes Gemälde mit bunter Farbkomposition. Und beides löst sich von der realen Szenerie des Krankenhauses und wird zur spielerischen Visualisierung der Musik. Wo weder ein körperliches noch intelligibles Wissen erzeugt oder übertragen wird, erfährt man einen weiteren Trieb des Menschen am eigenen Leib: ein tiefliegender Spieltrieb mit ästhetischen Formen. Eben ein Bedürfnis nach Kunst.
Silent Green, Berlin
Noch bis 24.08.2025
Öffnungszeiten: Mo–Fr, 14–20 Uhr / Sa–So, 11–20 Uhr
Eintritt frei