Der »Sohn des Himmels« und sein Fall |
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DVD-Cover von Bernardo Bertoluccis Der letzte Kaiser | ||
(Foto: Amazon) |
Unter dem Reihentitel »Revisionen« werden wir hier in Zukunft in loser Folge Filme einem zweiten Blick unterziehen, nicht nur »wichtige« Filme oder »Klassiker«, sondern auch Gelegenheitswerke und Beiläufiges; nicht »revisionistisch«, sondern neugierig, aber mit Lust am frischen Urteil; manchmal aus konkreten Anlässen, wie einer Wiederaufführung in einem Filmmuseum oder im regulären Kino, manchmal auch 'einfach so – weil wir den Film wiedergesehen oder sogar zum ersten Mal gesehen haben, und er uns beschäftigt. Praktizierte Cinephilie eben.
Die Musik hat jeder schon einmal gehört: Ausgerechnet von einem Japaner, von Ryushi Sakamoto stammen diese für unsere westlichen Ohren ur-chinesischen Töne. Der Komponist bekam dafür 1987 einen Oscar – dies war nur einer von insgesamt neun Oscars, darunter für den »Besten Film« und die »Beste Regie«, die Bernardo Bertoluccis »Der letzte Kaiser« zu einem der erfolgreichsten Filme der Filmgeschichte machten.
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Auch in anderer Hinsicht war dieser Film ein Meilenstein: Die erste gemeinsame Produktion zwischen einem Hollywood-Studio und dem damals noch ganz und gar kommunistischen China, knapp 15 Jahre nach der Annäherung der beiden Welten durch die berühmte Peking-Reise des US-Präsidenten Richard Nixon.
Erstmals war es einen westlichen Team gestattet, in der damals tatsächlich noch vollkommen abgeschlossenen »Verbotenen Stadt« in Peking, dem berühmten jahrhundertealten Kaiserpalast zu drehen. Und es wurden ihm keinerlei Auflagen gemacht.
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Der Film von Bertolucci umfasst ein ganzes Jahrhundert; es ist das Jahrhundert des chinesischen Aufstiegs: aus einem zerrütteten, dekadenten, wirtschaftlich und sozial durch die westeuropäischen Kolonialmächte ruinierten und erniedrigten Kaiserreich hin zu einem modernen Staat und der kommenden Weltmacht des 21. Jahrhunderts. Dieser Weg war mit Blut, Schweiß und Tränen gepflastert: Mit gut zwei Jahren wurde der letzte Kaiser auf den Thron gesetzt, von der legendären Kaiserinwitwe Cixi, die fast so lang wie Queen Victoria über das britische Empire über China geherrscht hat. Zwei Jahre nach dem Tod dieser bizarren, geschickten Verschwenderin kam die Revolution, die Pu Yis Welt umstürzte.
In Bernardo Bertoluccis Film hat Cixi eine einzige, aber grandiose Szene. Da sitzt sie in ihrem mit riesigen Drachenornamenten verzierten Bett, umringt von ihren duftkübelschwenkenden Lakaien, eine grellbunt geschminkte, schon sterbende Greisin, die Inkarnation aller Märchenhexen der Welt. Mit ihren langen Krallen an den Fingern lockt sie einen fassungslosen Kleinkindjungen zu sich ans Bett und offenbart ihm, dass sie ihn zum neuen Kaiser von China ernannt habe, zum »Sohn des Himmels«, zum »Herrn über zehntausend Jahre«. Eine Verzauberung; ein Märchenfluch.
Vier Schauspieler verkörpern Pu Yi im Film, wobei besonders John Lone – heute nahezu vergessen – hervorsticht, in vermutlich der Rolle seines Lebens. Joan Chen überzeugt als Puyis erste Ehefrau, auch wenn die faszinierendste Frauenfigur im Film letztlich die Spionin-Prinzessin »Eastern Jewel« (Maggie Han) ist – deren wahres Leben offenbar noch abenteuerlicher war, als ihre Darstellung im Film.
Als Kleinkind auf den Thron gehoben, von Beratern und Hofschranzen geführt wie manipuliert, verbrachte Pu Yi als bereits entmachteter Kaiser seine Jugend hinter den schützenden Mauern der Verbotenen Stadt, abgeschirmt und ahnungslos, während sich draußen bereits ein neues Zeitalter ankündigte. Er hat diesen größten Palast der Welt, in diesen Jahren nie verlassen, sein Volk nie gesehen. Erst mit etwa elf Jahren bekommt er durch den schottischen Lehrer Reginald Johnston
(Peter O’Tóole) ein Gefühl für Freiheit. Der Lehrer schenkt ihm eine Brille und erlaubt es ihm, Fahrrad zu fahren. Johnston führt ihn in die westliche Welt ein – ein Bruch mit der starren Ritualwelt der Verbotenen Stadt.
Als Herrscher ohne Reich und Krone genoss er dann eine Weile das Leben als Dandy und Playboy im »amerikanischen« Stil, bevor er hoffte, mit Hilfe der Japaner zu neuen Regentschaftswürden zu gelangen. Doch die brauchten nur eine Marionette für ihre
machtpolitischen Interessen.
Auf die Revolution 1911 folgte eine kurze Republik, nach 1934 die extrem brutale japanische Besatzung, und ein Bürgerkrieg, in dem die chinesischen Kommunisten unter Mao Zedong gewannen und das Land in die kommunistische Volksrepublik und das US-hörige Taiwan gespalten wurde.
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Dieser Film erzählt uns vieles: Von der Faszination des Westens, nicht zuletzt der westlichen Linken für China. Zweitens erzählt der Regisseur anhand einer historisch gesehen zwar symbolisch signifikanten, aber letztendlich sehr unwichtigen Gestalt auf sehr elegante und emotionale Weise von den Irrungen und Wirrungen der chinesischen Geschichte im 20 Jahrhundert.
Pu Yi hat in seinem gar nicht so langen Leben wirklich alles gesehen, was man in China am 20. Jahrhundert politisch erleben konnte: Vom alten Kaiserreich bis hin zur Kulturrevolution der 60er Jahre.
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Wie ein Schlafwandler, wie ein absurder Fremdkörper, wie ein immer Kind gebliebener alter Mann schreitet und driftet dieser ehemalige Kindkaiser in Bertoluccis Film durch das 20. Jahrhundert und die chinesische Geschichte – er ist für alle nur Spielball und Objekt in Mächtekampf, zugleich ist er für alle auch eine Projektionsfläche: die alten Monarchisten wollen ihn genauso benutzen, wie die Japaner, wie die Militärdiktatur um Chiang Kai-tschek, wie die Kommunisten unter Mao.
Die steckten den 45-jährigen Pu Yi, der unter dem Erzfeind Japan zum Kollaborateur, Landesverräter und Kriegsverbrecher wurde, in ein Erziehungslager und bekehrten ihn zu Marx und Mao. Er sollte der lebende Beweis werden, dass auch aus dem faulsten und schädlichsten Glied der Gesellschaft ein nützliches werden könne.
»Mao selbst hat ja den Begriff 'Gehirnwäsche' benutzt«, sagte Bertolucci einst im Gespräch mit dem Spiegel, »aber man kann die Behandlung Pu Yis durch einen sehr geduldigen Gefängnisdirektor, zehn Jahre lang, auch mit einer Psychoanalyse vergleichen: Er wurde zu einer gewissen Selbsterkenntnis geführt. Pu Yi war sein Leben lang ein Gefangener, immer von anderen manipuliert und zu ihren Zwecken benutzt, auch von den Kommunisten. Deshalb denke ich, er ist nicht durch die Umerziehung verändert worden, sondern durch die Freiheit. An dem Tag im Jahr 1959, als er zum ersten Mal als freier Mensch in Peking auf der Straße stand, war er ein anderer.«
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Der letzte Kaiser stammt von heute aus gesehen aus einer vollkommen anderen Zeit, in der Kino noch nach Größe in historischen Erzählungen strebte – und nicht nach CGI und Science-Fiction. Es ist ein Film, in dem Geschichte genauso wichtig ist, wie der Glanz der Form, wie Farben, Klänge, Stoffe, Architektur und Menschenmengen. Hier lebt das Barocke eines epischen Stummfilms, die Opulenz eines Josef von Sternberg, die Größe eines David Lean und die Dimension eines chinesischen Blockbusters auf.
Basierend auf der selbstverfassten Autobiografie des letzten chinesischen Kaisers – »From Emperor to Citizen« (deutsch im Hanser Verlag) – verfilmt Bertolucci dieses bewegte Leben in einem opulenten Bilderrausch. Sein Werk besticht nicht zuletzt durch seine farbenprächtigen Bilder, opulenten Massenszenen (19.000 Komparsen allein bei der Krönungsszene) und authentische Schauplätze – der Film taucht in die barocke Pracht des alten China ein, mit Räucherkerzen, filigranen Ornamenten und bunt gekleideten Höflingen.
Diese Szenen in der Verbotenen Stadt sind wahrscheinlich die eindrucksvollsten – ein berauschendes Spiel des Voyeurismus: sowohl der Figuren als auch des Zuschauers, der zum ersten Mal einen Blick in diesen geheimnisumwobenen Komplex wirft, der im Film von einem verbotenen zu einem touristischen Ort wird.
Bertolucci konzentriert sich zugleich konsequent auf Pu Yis Realitätswahrnehmung und deutet größere politische Zusammenhänge meist nur an. Politik war für Bertolucci immer untrennbar mit dem Individuum verbunden – mit dessen Liebesabenteuern und moralischen Konflikten. Auch »Der letzte Kaiser« bildet da keine Ausnahme.
Dabei ist Bertolucci weniger an historischer Wahrheit interessiert, sondern daran, wie Geschichte durch die Vorstellungskraft gefiltert wird.
Auch wenn der Film keine Aneinanderreihung von Fehlern ist, wurden ihm später zahlreiche Ungenauigkeiten und Auslassungen vorgeworfen – etwa das weitgehende Fehlen der Gewalt, die sowohl die japanische Besatzung als auch die kommunistische Umerziehung geprägt hat, und die anscheinend auch ein Teil von Pu Yis eigener Persönlichkeit war.
Pu Yis Entfremdung und seine Unfähigkeit, auf die Veränderungen in China zu reagieren, stehen im Mittelpunkt. Pu Yi wird weder als Held noch als Verräter dargestellt. Vielmehr erscheint er als tragische, fast bemitleidenswerte Figur, durch deren Leben die Welt zieht, ohne dass er einen festen Platz darin finden könnte – und dabei alles verliert, was er für selbstverständlich hielt.
Dieser Film erzählt uns vielerlei: In weniger als drei Stunden in der Kinofassung und den dreieinhalb Stunden in Director’s Cut bietet uns dieser Film einen Schnellkurs in chinesischer Geschichte.
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Es ist aber auch der Film eines speziellen historischen Moments: Des Augenblicks, in dem China sich dem Westen gegenüber öffnet, aber noch verschlossen ist. Der Westen wusste 1987 fast nichts von China aus eigener Anschauung, sondern nur das, was in den mehr oder weniger ideologisch gefärbten Büchern und in veralteten Geschichtswerken stand.
Bertolucci kam für die Chinesen im richtigen Augenblick: Sie waren begierig, mit dem Westen ins Geschäft zu kommen.
Der fertige Film wurde auch in China ganz offiziell gezeigt. Zeitgenössische Medien berichteten umfangreich über das Werk – was offizielle Anerkennung und Interesse bestätigt. Die Darstellung der historischen Ereignisse inklusive der Kritik an der Kulturrevolution fiel aus offizieller Sicht klar in die Linie der neuen Reformpolitik unter Deng Xiao-ping und war politisch opportun: Die Verfehlungen dieser Zeit wurden als Warnung interpretiert, sich nicht in extreme Massenbewegungen zu verlieren – passend zum chinesischen Narrativ der mentalen »Umerziehung«. Daher wurde der Film von den Behörden genehmigt .
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Knapp zwei Jahre später gewann mit Rotes Kornfeld der erste Film aus China mit dem Goldenen Bären in Berlin den Hauptpreis bei einem der großen Filmfestivals dieser Welt. Der Boom des chinesische Kinos begann. Ein halbes Jahr später kam es zur blutigen Niederschlagung der Studentenproteste auf dem »Platz des Himmlischen Friedens« – ein traumatisches Ereignis in der chinesischen Geschichte, das zugleich zum Moment des Aufbruchs wurde der umwälzenden Reformen und Öffnungspolitik durch Deng Xsiao-ping. Und noch ein paar Monate später endete mit dem Fall des Eisernen Vorhangs sehr plötzlich der Kalte Krieg und jedes Gegenmodell zum westlichen Kapitalismus.
Davon abgesehen ist dieser Film in der Kinogeschichte das, was Bertoluccis Kino – wie das seines Idols Visconti – sowieso ist: Weniger eine historisch korrekte Rückschau, als ein Schwanengesang. Ein später, etwas überzüchteter – aber wunderbar überzüchteter – Monumentalfilm, eine üppige Spätblüte voller Raffinement, und der vorläufige Abschied eines monumentalen Kinos für die große Leinwand. Und die gelegentlich exotistische Chinoiserie eines Europäers. Analoges Kino in der Form, wie es dergleichen im kurz danach aufgekommenen Zeitalter der Digitalfilme nicht mehr geben konnte.
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Der letzte Kaiser war ein Film, der von der Faszination durch China und der Neugier auf das Reich der Mitte erzählte, eine Neugier auch für das alte klassische China wie für die chinesische Moderne. Eine Liebeserklärung des Regisseurs an China. Wenn dieser Film gelegentlich wieder einmal im Kino zu sehen ist, dann kann uns dieser Film helfen, wie damals Distanz zu gewinnen zu allen heutigen Debatten, zu allen ideologischen Vereinfachungen.
China ist viel spannender und viel viel facettenreicher als alle scheinbar klaren Thesen über China – ob als »große Hoffnung« für das 21. Jahrhundert oder als »große Bedrohung« für den Westen. China ist beides. Und vielleicht auch nichts von all dem.