31.07.2025

Der »Sohn des Himmels« und sein Fall

Der letzte Kaiser
DVD-Cover von Bernardo Bertoluccis Der letzte Kaiser
(Foto: Amazon)

Spätblüte des analogen Spektakel-Kinos: Bernardo Bertoluccis »Der letzte Kaiser« erzählt von Pu Yi und führt uns weg von den klaren Thesen über China – Revisionen, Folge 01

Von Rüdiger Suchsland

Unter dem Reihen­titel »Revi­sionen« werden wir hier in Zukunft in loser Folge Filme einem zweiten Blick unter­ziehen, nicht nur »wichtige« Filme oder »Klassiker«, sondern auch Gele­gen­heits­werke und Beiläu­figes; nicht »revi­sio­nis­tisch«, sondern neugierig, aber mit Lust am frischen Urteil; manchmal aus konkreten Anlässen, wie einer Wieder­auf­füh­rung in einem Film­mu­seum oder im regulären Kino, manchmal auch 'einfach so – weil wir den Film wieder­ge­sehen oder sogar zum ersten Mal gesehen haben, und er uns beschäf­tigt. Prak­ti­zierte Cine­philie eben.

Die Musik hat jeder schon einmal gehört: Ausge­rechnet von einem Japaner, von Ryushi Sakamoto stammen diese für unsere west­li­chen Ohren ur-chine­si­schen Töne. Der Komponist bekam dafür 1987 einen Oscar – dies war nur einer von insgesamt neun Oscars, darunter für den »Besten Film« und die »Beste Regie«, die Bernardo Berto­luccis »Der letzte Kaiser« zu einem der erfolg­reichsten Filme der Film­ge­schichte machten.

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Auch in anderer Hinsicht war dieser Film ein Meilen­stein: Die erste gemein­same Produk­tion zwischen einem Hollywood-Studio und dem damals noch ganz und gar kommu­nis­ti­schen China, knapp 15 Jahre nach der Annähe­rung der beiden Welten durch die berühmte Peking-Reise des US-Präsi­denten Richard Nixon.

Erstmals war es einen west­li­chen Team gestattet, in der damals tatsäch­lich noch voll­kommen abge­schlos­senen »Verbo­tenen Stadt« in Peking, dem berühmten jahr­hun­der­te­alten Kaiser­pa­last zu drehen. Und es wurden ihm keinerlei Auflagen gemacht.

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Der Film von Berto­lucci umfasst ein ganzes Jahr­hun­dert; es ist das Jahr­hun­dert des chine­si­schen Aufstiegs: aus einem zerrüt­teten, deka­denten, wirt­schaft­lich und sozial durch die west­eu­ropäi­schen Kolo­ni­al­mächte ruinierten und ernied­rigten Kaiser­reich hin zu einem modernen Staat und der kommenden Weltmacht des 21. Jahr­hun­derts. Dieser Weg war mit Blut, Schweiß und Tränen gepflas­tert: Mit gut zwei Jahren wurde der letzte Kaiser auf den Thron gesetzt, von der legen­dären Kaise­rin­witwe Cixi, die fast so lang wie Queen Victoria über das britische Empire über China geherrscht hat. Zwei Jahre nach dem Tod dieser bizarren, geschickten Verschwen­derin kam die Revo­lu­tion, die Pu Yis Welt umstürzte.

In Bernardo Berto­luccis Film hat Cixi eine einzige, aber grandiose Szene. Da sitzt sie in ihrem mit riesigen Drachen­or­na­menten verzierten Bett, umringt von ihren duft­kü­bel­schwen­kenden Lakaien, eine grellbunt geschminkte, schon sterbende Greisin, die Inkar­na­tion aller Märchen­hexen der Welt. Mit ihren langen Krallen an den Fingern lockt sie einen fassungs­losen Klein­kind­jungen zu sich ans Bett und offenbart ihm, dass sie ihn zum neuen Kaiser von China ernannt habe, zum »Sohn des Himmels«, zum »Herrn über zehn­tau­send Jahre«. Eine Verzau­be­rung; ein Märchen­fluch.

Vier Schau­spieler verkör­pern Pu Yi im Film, wobei besonders John Lone – heute nahezu vergessen – hervor­sticht, in vermut­lich der Rolle seines Lebens. Joan Chen überzeugt als Puyis erste Ehefrau, auch wenn die faszi­nie­rendste Frau­en­figur im Film letztlich die Spionin-Prin­zessin »Eastern Jewel« (Maggie Han) ist – deren wahres Leben offenbar noch aben­teu­er­li­cher war, als ihre Darstel­lung im Film.

Als Kleinkind auf den Thron gehoben, von Beratern und Hofschranzen geführt wie mani­pu­liert, verbrachte Pu Yi als bereits entmach­teter Kaiser seine Jugend hinter den schüt­zenden Mauern der Verbo­tenen Stadt, abge­schirmt und ahnungslos, während sich draußen bereits ein neues Zeitalter ankün­digte. Er hat diesen größten Palast der Welt, in diesen Jahren nie verlassen, sein Volk nie gesehen. Erst mit etwa elf Jahren bekommt er durch den schot­ti­schen Lehrer Reginald Johnston (Peter O’Tóole) ein Gefühl für Freiheit. Der Lehrer schenkt ihm eine Brille und erlaubt es ihm, Fahrrad zu fahren. Johnston führt ihn in die westliche Welt ein – ein Bruch mit der starren Ritu­al­welt der Verbo­tenen Stadt.
Als Herrscher ohne Reich und Krone genoss er dann eine Weile das Leben als Dandy und Playboy im »ameri­ka­ni­schen« Stil, bevor er hoffte, mit Hilfe der Japaner zu neuen Regent­schafts­würden zu gelangen. Doch die brauchten nur eine Mario­nette für ihre macht­po­li­ti­schen Inter­essen.

Auf die Revo­lu­tion 1911 folgte eine kurze Republik, nach 1934 die extrem brutale japa­ni­sche Besatzung, und ein Bürger­krieg, in dem die chine­si­schen Kommu­nisten unter Mao Zedong gewannen und das Land in die kommu­nis­ti­sche Volks­re­pu­blik und das US-hörige Taiwan gespalten wurde.

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Dieser Film erzählt uns vieles: Von der Faszi­na­tion des Westens, nicht zuletzt der west­li­chen Linken für China. Zweitens erzählt der Regisseur anhand einer histo­risch gesehen zwar symbo­lisch signi­fi­kanten, aber letzt­end­lich sehr unwich­tigen Gestalt auf sehr elegante und emotio­nale Weise von den Irrungen und Wirrungen der chine­si­schen Geschichte im 20 Jahr­hun­dert.

Pu Yi hat in seinem gar nicht so langen Leben wirklich alles gesehen, was man in China am 20. Jahr­hun­dert politisch erleben konnte: Vom alten Kaiser­reich bis hin zur Kultur­re­vo­lu­tion der 60er Jahre.

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Wie ein Schlaf­wandler, wie ein absurder Fremd­körper, wie ein immer Kind geblie­bener alter Mann schreitet und driftet dieser ehemalige Kind­kaiser in Berto­luccis Film durch das 20. Jahr­hun­dert und die chine­si­sche Geschichte – er ist für alle nur Spielball und Objekt in Mäch­te­kampf, zugleich ist er für alle auch eine Projek­ti­ons­fläche: die alten Monar­chisten wollen ihn genauso benutzen, wie die Japaner, wie die Mili­tär­dik­tatur um Chiang Kai-tschek, wie die Kommu­nisten unter Mao.

Die steckten den 45-jährigen Pu Yi, der unter dem Erzfeind Japan zum Kolla­bo­ra­teur, Landes­ver­räter und Kriegs­ver­bre­cher wurde, in ein Erzie­hungs­lager und bekehrten ihn zu Marx und Mao. Er sollte der lebende Beweis werden, dass auch aus dem faulsten und schäd­lichsten Glied der Gesell­schaft ein nütz­li­ches werden könne.

»Mao selbst hat ja den Begriff 'Gehirn­wä­sche' benutzt«, sagte Berto­lucci einst im Gespräch mit dem Spiegel, »aber man kann die Behand­lung Pu Yis durch einen sehr gedul­digen Gefäng­nis­di­rektor, zehn Jahre lang, auch mit einer Psycho­ana­lyse verglei­chen: Er wurde zu einer gewissen Selbst­er­kenntnis geführt. Pu Yi war sein Leben lang ein Gefan­gener, immer von anderen mani­pu­liert und zu ihren Zwecken benutzt, auch von den Kommu­nisten. Deshalb denke ich, er ist nicht durch die Umer­zie­hung verändert worden, sondern durch die Freiheit. An dem Tag im Jahr 1959, als er zum ersten Mal als freier Mensch in Peking auf der Straße stand, war er ein anderer.«

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Der letzte Kaiser stammt von heute aus gesehen aus einer voll­kommen anderen Zeit, in der Kino noch nach Größe in histo­ri­schen Erzäh­lungen strebte – und nicht nach CGI und Science-Fiction. Es ist ein Film, in dem Geschichte genauso wichtig ist, wie der Glanz der Form, wie Farben, Klänge, Stoffe, Archi­tektur und Menschen­mengen. Hier lebt das Barocke eines epischen Stumm­films, die Opulenz eines Josef von Sternberg, die Größe eines David Lean und die Dimension eines chine­si­schen Block­bus­ters auf.

Basierend auf der selbst­ver­fassten Auto­bio­grafie des letzten chine­si­schen Kaisers – »From Emperor to Citizen« (deutsch im Hanser Verlag) – verfilmt Berto­lucci dieses bewegte Leben in einem opulenten Bilder­rausch. Sein Werk besticht nicht zuletzt durch seine farben­präch­tigen Bilder, opulenten Massen­szenen (19.000 Komparsen allein bei der Krönungs­szene) und authen­ti­sche Schau­plätze – der Film taucht in die barocke Pracht des alten China ein, mit Räucher­kerzen, fili­granen Orna­menten und bunt geklei­deten Höflingen.

Diese Szenen in der Verbo­tenen Stadt sind wahr­schein­lich die eindrucks­vollsten – ein berau­schendes Spiel des Voyeu­rismus: sowohl der Figuren als auch des Zuschauers, der zum ersten Mal einen Blick in diesen geheim­nis­um­wo­benen Komplex wirft, der im Film von einem verbo­tenen zu einem touris­ti­schen Ort wird.

Berto­lucci konzen­triert sich zugleich konse­quent auf Pu Yis Reali­täts­wahr­neh­mung und deutet größere poli­ti­sche Zusam­men­hänge meist nur an. Politik war für Berto­lucci immer untrennbar mit dem Indi­vi­duum verbunden – mit dessen Liebes­aben­teuern und mora­li­schen Konflikten. Auch »Der letzte Kaiser« bildet da keine Ausnahme.
Dabei ist Berto­lucci weniger an histo­ri­scher Wahrheit inter­es­siert, sondern daran, wie Geschichte durch die Vorstel­lungs­kraft gefiltert wird. Auch wenn der Film keine Anein­an­der­rei­hung von Fehlern ist, wurden ihm später zahl­reiche Unge­nau­ig­keiten und Auslas­sungen vorge­worfen – etwa das weit­ge­hende Fehlen der Gewalt, die sowohl die japa­ni­sche Besatzung als auch die kommu­nis­ti­sche Umer­zie­hung geprägt hat, und die anschei­nend auch ein Teil von Pu Yis eigener Persön­lich­keit war.

Pu Yis Entfrem­dung und seine Unfähig­keit, auf die Verän­de­rungen in China zu reagieren, stehen im Mittel­punkt. Pu Yi wird weder als Held noch als Verräter darge­stellt. Vielmehr erscheint er als tragische, fast bemit­lei­dens­werte Figur, durch deren Leben die Welt zieht, ohne dass er einen festen Platz darin finden könnte – und dabei alles verliert, was er für selbst­ver­s­tänd­lich hielt.

Dieser Film erzählt uns vielerlei: In weniger als drei Stunden in der Kino­fas­sung und den drei­ein­halb Stunden in Director’s Cut bietet uns dieser Film einen Schnell­kurs in chine­si­scher Geschichte.

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Es ist aber auch der Film eines spezi­ellen histo­ri­schen Moments: Des Augen­blicks, in dem China sich dem Westen gegenüber öffnet, aber noch verschlossen ist. Der Westen wusste 1987 fast nichts von China aus eigener Anschauung, sondern nur das, was in den mehr oder weniger ideo­lo­gisch gefärbten Büchern und in veral­teten Geschichts­werken stand.

Berto­lucci kam für die Chinesen im richtigen Augen­blick: Sie waren begierig, mit dem Westen ins Geschäft zu kommen.

Der fertige Film wurde auch in China ganz offiziell gezeigt. Zeit­genös­si­sche Medien berich­teten umfang­reich über das Werk – was offi­zi­elle Aner­ken­nung und Interesse bestätigt. Die Darstel­lung der histo­ri­schen Ereig­nisse inklusive der Kritik an der Kultur­re­vo­lu­tion fiel aus offi­zi­eller Sicht klar in die Linie der neuen Reform­po­litik unter Deng Xiao-ping und war politisch opportun: Die Verfeh­lungen dieser Zeit wurden als Warnung inter­pre­tiert, sich nicht in extreme Massen­be­we­gungen zu verlieren – passend zum chine­si­schen Narrativ der mentalen »Umer­zie­hung«. Daher wurde der Film von den Behörden genehmigt .

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Knapp zwei Jahre später gewann mit Rotes Kornfeld der erste Film aus China mit dem Goldenen Bären in Berlin den Haupt­preis bei einem der großen Film­fes­ti­vals dieser Welt. Der Boom des chine­si­sche Kinos begann. Ein halbes Jahr später kam es zur blutigen Nieder­schla­gung der Studen­ten­pro­teste auf dem »Platz des Himm­li­schen Friedens« – ein trau­ma­ti­sches Ereignis in der chine­si­schen Geschichte, das zugleich zum Moment des Aufbruchs wurde der umwäl­zenden Reformen und Öffnungs­po­litik durch Deng Xsiao-ping. Und noch ein paar Monate später endete mit dem Fall des Eisernen Vorhangs sehr plötzlich der Kalte Krieg und jedes Gegen­mo­dell zum west­li­chen Kapi­ta­lismus.

Davon abgesehen ist dieser Film in der Kino­ge­schichte das, was Berto­luccis Kino – wie das seines Idols Visconti – sowieso ist: Weniger eine histo­risch korrekte Rückschau, als ein Schwa­nen­ge­sang. Ein später, etwas über­züch­teter – aber wunderbar über­züch­teter – Monu­men­tal­film, eine üppige Spätblüte voller Raffi­ne­ment, und der vorläu­fige Abschied eines monu­men­talen Kinos für die große Leinwand. Und die gele­gent­lich exotis­ti­sche Chinoi­serie eines Europäers. Analoges Kino in der Form, wie es derglei­chen im kurz danach aufge­kom­menen Zeitalter der Digi­tal­filme nicht mehr geben konnte.

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Der letzte Kaiser war ein Film, der von der Faszi­na­tion durch China und der Neugier auf das Reich der Mitte erzählte, eine Neugier auch für das alte klas­si­sche China wie für die chine­si­sche Moderne. Eine Liebes­er­klärung des Regis­seurs an China. Wenn dieser Film gele­gent­lich wieder einmal im Kino zu sehen ist, dann kann uns dieser Film helfen, wie damals Distanz zu gewinnen zu allen heutigen Debatten, zu allen ideo­lo­gi­schen Verein­fa­chungen.

China ist viel span­nender und viel viel facet­ten­rei­cher als alle scheinbar klaren Thesen über China – ob als »große Hoffnung« für das 21. Jahr­hun­dert oder als »große Bedrohung« für den Westen. China ist beides. Und viel­leicht auch nichts von all dem.