18.01.2024
Wo Pommes???

Wo Pommes???

Becoming Giulia
Konkrete Geschichten erzählen...
(Foto: W-Film)

Dokumentarfilme im Januar 1: »Tanz! Tanzt! Sonst sind wir verloren.« – zu Becoming Giulia von Laura Kaehr

Von Nora Moschuering

Ich fühle mich wie ein großer Matsch, ein warmer, sehr großer Klops, eine Art Knödel mit zu viel Flüs­sig­keit, der so nach­weih­nacht­lich durch den Raum wabert. Und in diesem Stadium trifft es mich umso härter, dass es ausge­rechnet ein Tanzfilm ist, den die Pommes als ersten Doku­men­tar­film des neuen Jahres bespricht. »Tanz! Tanzt! Sonst sind wir verloren« ist ein Zitat der Tänzerin und Choreo­grafin Pina Bausch, das Zitat passt auch zu der Prot­ago­nistin in Kaehrs Film, der Solistin an der Züricher Oper: Giulia Tonelli. Tanz ist für sie essen­tiell, ebenso wie die Geburt ihres Sohnes. Parallel dazu habe ich mir die Tage auch die fran­zö­si­sche Serie: L’Opéra – DANCING IN PARIS angesehen, in der natürlich drama­ti­sche Intrigen, Unfälle, Liebe und andere, norma­ler­weise lebens­ver­än­dernde Groß­dramen massen­weise über die Charak­tere herein­bre­chen, der es aber gelingt, die Freude und Leiden­schaft für das Tanzen zu vermit­teln. Bei einer Figur spielt dabei auch der Wunsch nach einem Kind eine große Rolle.

Fiktio­nale Filme über Tanz haben immer den »Vorteil«, dass die Choreo­grafie eines Tanz­stü­ckes von Anfang an mit der Kamera abge­stimmt werden kann: es wird für die Kamera getanzt, die Kamera kann sich mit den Tänzer*innen bewegen. Sie wird im besten Fall bei der Choreo­grafie mitge­dacht, im schönsten Fall wird sie zur Mittän­zerin. Es gibt viele Musik­vi­deos, in denen die Tänzer*innen vor einer Art Publikum zu stehen scheinen, sich also relativ frontal verhalten. Dabei wird die Kamera entweder ignoriert oder es wird mit ihr, respek­tive mit uns, kommu­ni­ziert. Viel­leicht bewegt sich die Kamera auch mal ein wenig, in einigen Videos lösen sich die thea­ter­haften Aufstel­lungen auch auf und die Tänzer*innen bewegen sich um die Kamera. Und manchmal kommt es vor, dass die Kamera zu einem eigen­s­tän­digen Körper wird, also selber zur Tänzerin, die mit ihren Bewe­gungen etwas erzählt, z.B. hier »The Lone Dining Society«: »Inverted Odysseus« und ich bilde mir ein, dass das bei Gaspar Noés Climax – den ich mir aber kein zweites Mal geben möchte – auch passiert.

Aber zurück zum Doku­men­tar­film, denn der arbeitet meist etwas anders, besonders wenn er beob­ach­tend ist, und das ist Becoming Giulia zu einem großen Teil. Wenn die Kamera beob­achtet, bedeutet das, dass sie möglichst nicht auffallen will. Die Rolle der Kamera kann dann nicht die einer Mittän­zerin sein, weil sie versucht, nicht im Weg zu sein. Das kann dazu führen, dass sie ehrfürchtig außen vor ist, also in der Distanz bleibt, viel­leicht ein Tableau aufnimmt – im einfachsten Fall die gesamte Bühne – sie also zu einer Zuschauerin auf einem richtig guten Platz wird, auch das passiert bei Becoming Giulia oder sie versucht, vorsichtig mitzu­gehen, auch das passiert bei Becoming Giulia. Die Kamera ist hier ab und an sehr nahe und man fragt sich, wie das möglich ist. Zu vermuten ist, dass es sich um ein kleines Drehteam gehandelt hat, und die Regis­seurin, die selber Tänzerin gewesen ist, sich in einer ihr bekannten Umgebung bewegt hat. Teilweise hat sie auch selber Kamera gemacht.

Becoming Giulia ist dabei sehr »klassisch« aufgebaut, Giulia sagt das selber im Film: Sie will mit ihrem Tanz konkrete Geschichten erzählen und weniger expe­ri­men­telle oder abstrakte. Und so ist auch der Film eine Heldin­nen­ge­schichte: Giulia kommt drei Monate nach der Geburt ihres Sohnes an die Oper zurück, um zu arbeiten. Anders als in der Fiktion von L’Opéra wird sie begrüßt und unter­s­tützt, es stellt sich aber heraus, dass die Struk­turen und das Vers­tändnis dafür hier, wie auch anderswo, aber hier sicher besonders, noch kaum exis­tieren. Sie muss sich also immer wieder um andere Zeiten, Pläne oder Kinder-Betreuung Sorgen machen, schafft es aber, sich Verbün­dete zu suchen, wie die Tänzerin, Choreo­grafin und Mutter Cathy Marston.

Was, wenn das Kind krank ist? Sich Dinge verschieben? Das Kind weint, wenn man geht? Die Proben­zeiten schlecht zum Alltag passen? Es gibt schnell geschnit­tene Abfolgen, in denen man von zu Hause in die Oper und zurück springt und ein bisschen von der Hektik mitbe­kommt. Wir begleiten Giulia durch ihre Wohnung, mit dem kleinen Sohn, beim Kochen, Kind abholen, orga­ni­sieren, trai­nieren, auf der Probe­bühne, hinter der Bühne, auf der Bühne, sehen sie mit den Kolleg*innen, dem Partner, ihren Eltern und belauscht Gespräche, z.B. mit anderen Tänze­rinnen, die sie dafür bewundern, dass sie etwas gewagt hat, was sie sich selber nicht (zu)trauen würden. Das hat was Ermu­ti­gendes, aber sicher auch Einschüch­terndes für Giulia, die auffällt durch ihre enorme Disziplin, sowohl in der Rolle als Mutter, als auch als Tänzerin. Es fehlt ihr auch nicht an Ambi­tionen, Ehrgeiz und Neugierde. Sie will Neues auspro­bieren und sich weiter­ent­wi­ckeln. Manchmal, meint Giulia im Film, wird genau das Müttern vorge­worfen, ganz so als wäre Mutter­schaft ausrei­chend für den Rest, als wäre damit alles erreicht. Was ist es denn: Dieses Giulia-Sein, ihre Identität? Eines ist klar: zu ihr gehört jetzt unver­rückbar der Sohn, aber auch, nach wie vor, der Tanz.

Natürlich ist eine Geburt etwas Körper­li­ches, das fordert, schmerzt, die verändert, wie man tanzt, z.B. auch wo man gehoben werden kann – zumindest drei Monate nach der Entbin­dung (Achtung: Becken­boden). Natürlich ist der Tanz etwas Körper­li­ches und etwas, bei dem man Regeln folgt, das man aber auch immer indi­vi­duell mit dem füllt, was man selber ist. Man ist nicht »nur« Gefäß, man ist Künstler*in und als solche inter­pre­tiert man und bringt Eigenes hinein, Persön­li­ches, Erfah­rungen: Ein Kind kann Kunst verändern und Kunst braucht Verän­de­rung!

Frauen brauchen auch neue Rollen. Wie bei L’Opéra folgt man einer charis­ma­ti­schen Person: Szenen mit Tanz und Musik wechseln sich mit ruhigeren Alltags-Szenen ab. Das kontras­tiert schon inhalt­lich mit Stücken wie »Romeo und Julia« (schöne Namen­sähn­lich­keit), in denen nie zu einem Alltag gefunden wird, denn der spielt in vielen drama­ti­schen Geschichten keine Rolle: sie sind zu Ende, wenn die Liebe verloren geht oder gefunden wurde. Wer hat dem Alltag eigent­lich so lange seine Dramatik abge­spro­chen, besonders im fiktio­nalen Film? Und wie viel »Alltag« steckt überhaupt in einem Leben mit Kind? Tonelli im Film: »Ein Kind gibt einem eine unglaub­liche Kraft. Gerade daraus kann man schöpfen. Jacobo war eine Erwei­te­rung für mein Leben. Eine Erwei­te­rung für mich als Mensch. Er hat mich kompletter gemacht. Er gab mir das Gefühl, dass ich die Welt erobern könne. Er gab mir eine Kraft, die ich zuvor nicht hatte.«

Dann lernt Giulia Cathy Marston kennen und arbeitet mit ihr an dem Stück: »Ein schar­lach­roter Buchstabe«, in ihm geht es um eine Frau, die ein unehe­li­ches Kind zur Welt bringt. Cathy, ebenfalls Mutter, und Giulia tauschen sich über ihre Erfah­rungen aus, gemeinsam entwi­ckeln sie das Stück. Ihre Zusam­men­ar­beit, das gemein­same Schaffen, unter­scheidet sich dabei stark von der Arbeit mit den meist männ­li­chen Choreo­grafen, die man davor sieht.

Zurück zur Kamera: wie schon beschrieben ist die Kamera nah dran oder direkt frontal vor der Bühne, den Tanz beob­achtet sie aber auch von hinter der Bühne, von der Seite, also aus einer anderen Perspek­tive als die der Zuschauer*innen im Opernsaal. Eine Verschie­bung, ein Posi­ti­ons­wechsel, den wir mit ihr machen. Die Kamera ist eben auch die Tänzerin-Kollegin, die sie drei Jahre begleitet hat.

Giulia Tonelli ist 2022 zum zweiten Mal Mutter geworden und Cathy Marston wird 2023/24 Ballett­di­rek­torin und Chef­cho­reo­grafin des Balletts in Zürich.