30.09.2023
71. Festival de Cine de San Sebastián 2023

»Ihr werdet sein wie Gott...«

Realismo Socialista
Raul Ruiz' Realismo Socialista: wertvolles Zeugnis des turbulenten politischen Klimas in Chile...
(Foto: Filmfestival San Sebastian)

Die verbotenen Früchte der Gewalt, Verstehen und Agieren, Respekt statt Zensur: Ein Film über die ETA und ihre Taten sowie eine Komödie über das Chile vor Pinochet – Notizen aus San Sebastián, Folge 5

Von Rüdiger Suchsland

»Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde...«
– 1 Mose, 3

Es gibt nur einen Salat im Donosti­arra, das nicht nur mein Lieb­lings­lokal in San Sebastian ist: »Completa« oder eben »incom­pleta«. Inkom­plett bedeutet ohne Thunfisch. Immer gibt es frische, hier wie nirgendwo sonst schme­ckende Tomaten, Zwiebeln, saure kleine Pfef­fer­schoten (die »Pimientos«) und dazu reichlich Olivenöl und grobes Meersalz.

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Gabe Klinger hatte ich schon am Eröff­nungs­abend getroffen. Der Film­kri­tiker aus Chicago, der inzwi­schen in Sao Paolo lebt und vor allem als Film­re­gis­seur arbeitet, ist hier, weil er neue Film­pro­jekte bei den »Pitches« der Indus­trie­tage vorge­stellt hat.
Bei der Eröffnung hatte ich mit ihm über die Stadt Marseille geredet, über Walter Benjamin und über Christian Petzolds Anna-Seghers-Verfil­mung, und dann waren wir plötzlich bei Brasilien und der Frage, ob er schon einen brasi­lia­ni­schen Pass hat. »I have a passport« antwortet er dann und lacht, weil unklar bleibt, ob es ein brasi­lia­ni­scher ist, und dann sagt er, »yes I become much more Brazilian these days, than American« und es geht weiter über die Archi­tektur von Sao Paulo und Chicago und dass die von Sao Paulo schöner und inter­es­santer ist, und dass da Dinge besser funk­tio­nieren.

Heute traf ich ihn dann wieder, als ich gerade zwischen Frühstück und Abend­essen vor dem Kaffee einen Completa aß, und er vorbeikam. Er habe im Wett­be­werb keinen guten Film gesehen, meinte er und brachte damit den Eindruck fast all jener auf den Punkt, mit denen ich gespro­chen habe. Weil das zu befürchten war, hatte ich vieles im Wett­be­werb links liegen gelassen, und mich lieber auf »Nuevos Direc­tores« und »Hori­zontes Latinos« konzen­triert.

Auch der Franzose Ariel Schweizer von den Cahiers findet den Wett­be­werb in diesem Jahr »miserabel«. Norma­ler­weise gebe es wenigs­tens zwei Filme oder drei, die irgendwie gut sein, aber in diesem Jahr noch nicht mal das.
Das finde ich jetzt sehr, sehr streng, und verweise auf den Rumänen, der mir ja gefiel, worauf Ariel nur den Kopf schüttelt: Das sei doch nur »ein typischer Festival-Film« und bringe die ganze »Krankheit« der Branche auf den Punkt.

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Kurz darauf kommen zwei Freunde von Gabe, und ich lerne Conrad und Masha Clark von der neuge­grün­deten briti­schen Firma »almost­blue­films« kennen, Kopro­du­zenten von Víctor Erices letztem Film.
Mashas erste Frage vor jedem Smalltalk ist gleich die unmög­liche nach meinem Lieb­lings­film, und so landeten wir schnell bei der BFI-Umfrage und dem Vergnügen des Listen-Machens.

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Beim Essen mit Violeta – die übrigens eine argen­ti­ni­sche Mutter hat – fragte ich sie vor zwei Tagen am gleichen Ort, was aus ihrer Sicht das Spezielle am argen­ti­ni­schen Kino sei, über das ich gestern geschrieben hatte. Sie meint: »Es ist der Umgang mit der Krise, man ist es dort gewohnt, mit der Krise umzugehen. Kein Land sei in dem Umgang mit Krisen derart flexibel. Das könnten wir wirklich von Argen­ti­nien lernen.«

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Bevor wir auf den ersten Film kommen, möchte ich noch mal an Ulrich Seidls Sparta vor einem Jahr erinnern. Die deutschen Medien, allen voran der Spiegel und Zeit online hatten den Ameri­ka­nern hinterher- und einen Skandal herbei­ge­schrieben. Ohne echte Belege, nur nach Hören­sagen wurde an der Rufschä­di­gung Seidls gestrickt, offenbar weil Ästhetik und Attitüde des Mannes den mittel­alten Kultur­kämp­fern des woken Neu-Feuil­le­tons nicht passen und Skan­da­li­sie­rung wie auch bei Rammstein immer Auflage macht.

Während Festivals und andere in Deutsch­land sich von Seidl eilig distan­zierten, blieb nur das Film­fes­tival von San Sebastián standhaft.
Hier hat man Erfahrung mit Zensur, darum findet sie hier nicht statt. Ein Film­fes­tival ist dazu da, Filme zu zeigen, nicht sie und die Macher zu canceln, ist die unmiss­ver­s­tänd­liche Position.

Warum ich das schreibe? Weil es in diesem Jahr mit No me llame Ternera (»Ich heiße nicht Ternera«) von dem in Spanien bekannten TV-Jour­na­listen Jordi Évole einen neuen angeb­li­chen »Skan­dal­film« und das dazu­gehö­rige Verbots­ge­schrei gibt. Auch das inter­es­siert deutsche Medien nach meinem Eindruck mehr als die spani­schen. Aber auch hier blieb das Festival standhaft gegen Zensur­ver­suche.

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No me llame Ternera lief am Wochen­ende. Das fast 70-minütige Interview mit dem ETA-Kämpfer, dessen Tarnname Ternera lautet, ist hoch­span­nend, auch wenn der Inter­viewer nicht gut nachfragt. Richtig gelungen ist der Film auch sonst nicht: Der Kontext der nur Spezia­listen bekannten Ereig­nisse wird nur sehr will­kür­lich gegeben. Und der Film »framed« zu sehr.

Das Ergebnis zeigt, dass in der Frage »Terror« und »Basken­land« beide Seiten komplett anein­ander vorbei­reden: Hier die »Mili­tantes« und »Soldaten«, dort die Mehr­heits­ge­sell­schaft, die sich nur für Emotio­na­li­sie­rung und Opfer, aber nicht für Begrün­dungen inter­es­siert.

Dabei wäre des erklärungs­be­dürftig, warum die ETA, die im Wider­stand gegen Francos Diktatur begann, 90 Prozent der von ihr ermor­deten 852 Menschen während der Demo­kratie getötet hat.
Man wüsste gern mehr über die im Film erwähnte Angst im Basken­land.

Der Filme­ma­cher sagt zu Beginn zu »Ternera«: »I respect the language you use.« Dennoch geht es dann vor allem um »Grau­sam­keit« und »Bruta­lität«, nicht etwa um poli­ti­sche Ziele. Die werden niemals Thema, sie werden gar nicht wirklich ernst genommen.
Genau das müsste aber passieren. Wer nicht lernen und verstehen will, muss wieder­holen.

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Im Bild des Opfers ist dies ein mani­pu­la­tiver Film, weil er nur aus der Opfer­per­spek­tive erzählt. Damit sind die Sachen aber nicht zu Ende erzählt; das ist gar nicht mal ein Anfang. Sondern man muss sich schon auf die Perspek­tive der Leute einlassen, wenn man sie verstehen will. Man muss sie nicht verstehen. Aber wenn man das tun will, dann muss man anders agieren.

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Raul Ruiz' Realismo Socia­lista dreht sich um eine andere Art von politisch radikalem Akti­vismus: Der Film wurde 1973 in Chile vor dem rechts­extremen Putsch gegen Salvador Allende gedreht und war seitdem verschollen. Jetzt wurde er restau­riert und läuft auf diversen Film­fes­ti­vals.

Das Projekt wurde endgültig durch den Staats­streich von Augusto Pinochet unter­bro­chen. Das Material dieses Phan­tom­films, der mehr als drei Stunden lang sein sollte, konnte Chile über die west­deut­sche Botschaft verlassen und gelangte nach Paris, wo es am Sitz einer Univer­sität ameri­ka­ni­scher Herkunft landete.
Das Ergebnis ist ein Film im Ton einer Satire, irgendwo zwischen Doku­men­tar­film und Komödie.

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Der Film wechselt zwischen Sequenzen der Arbeiter, die ange­sichts der Aufgabe der Fabrik durch den Chef ihr Recht auf deren Übernahme einfor­dern – während die Unfähig­keit der Partei und des Staates, auf ihre Forde­rungen und Bedürf­nisse einzu­gehen, deutlich wird. Und solchen, die sich auf die komplexen (und manchmal wider­sprüch­li­chen) Prozesse der Verwal­tung des Gemein­schafts­le­bens in der Colonia Elmo Catalán konzen­trieren (die Ruiz in Zusam­men­ar­beit mit den Bewohnern selbst filmte, denen er einfach Situa­tionen vorschlug, die sie konstru­ierten).
Ein dritter Erzähl­strang zeigt eine Gruppe links­ge­rich­teter bürger­li­cher Intel­lek­tu­eller, die von den eigenen Freunden des Filme­ma­chers gespielt werden, in ihrer tiefen Klas­sen­krise. Und was sich als eine Art Porträt einer chile­ni­schen Gesell­schaft in einer span­nenden und anspruchs­vollen Trans­for­ma­ti­ons­phase entpuppt, enthält nicht nur erschre­ckend ahnungs­volle Elemente, sondern entpuppt sich auch als ein vernich­tend kriti­scher und keines­wegs selbst­ge­fäl­liger Blick auf den Prozess der »Unidad Popular« selbst. Eine Ironie, die sich bereits im Titel wider­spie­gelt, und die, in einer weiteren meta­sprach­li­chen Reflexion, sogar das künst­le­ri­sche Schaffen selbst in einem Scheitern betrifft.

Ruiz arbeitete mit Laien und Impro­vi­sa­tion. Vor allem in Diskus­sionen, in der Unzu­frie­den­heit der Arbeiter, im flüch­tigen Bild einer reichen Frau auf einer Demons­tra­tion, liegt das facet­ten­reiche und bissige Porträt einer Aufbruchs­zeit, die auf brutalste Weise beendet werden sollte.

Der Film ist heute ein wert­volles Zeugnis des turbu­lenten poli­ti­schen Klimas in Chile während der Unidad Popular, der Regierung von Salvador Allende, dem ersten sozia­lis­ti­schen Präsi­denten, der 1970 in einer demo­kra­ti­schen Wahl sein Amt antrat. Sie wurde unab­hängig finan­ziert, mit Hilfe von Freunden und engen Vertrauten.
Chile war das einzige Land vor Frank­reich und Mitterand 1981, wo eine echte Linke an die Macht kam. Man sieht hier, was der Welt seitdem verloren ging. Wie sich Ruiz selbst erinnerte, wurde gedreht, »um zur internen Debatte der Sozia­lis­ti­schen Partei beizu­tragen«. Der Film erzählt in vielen Stimmen, wie kompli­ziert Verän­de­rung ist.
Man sieht auch, wie eine Linke schon damals eine Art mili­täri­sches Regime über das persön­liche Leben verhängt. Wir sehen das Fehlen der persön­li­chen Freiheit.

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»Sozia­lis­ti­scher Realismus« weiß etwas, was die Menschen damals noch nicht wussten: Es spürt den gefähr­li­chen Aufstieg der extremen Rechten und proji­zierte in die unmit­tel­bare Zukunft.
Der Film zeigt die Selbst­zer­störung, ja: den Selbst­mord der Arbei­ter­klasse in Chile und das alles im Angesicht des noch regie­renden Salvador Allende. Man hört im Off die Hubschrauber... Sie fliegen zum Moneda-Palast...

(to be continued)