09.12.2021

Mein türkisches Leben

Dirk Schäfer in der Türkei
Dirk Schäfer (li.) mit Freunden
(Foto: Dirk Schäfer)

Vor 60 Jahren einigte sich Deutschland offiziell mit der Türkei darauf, »Gastarbeiter« anzuwerben. Diese Liaison hat beide Länder nachhaltig verändert. Für den Filmemacher Dirk Schäfer war die Begegnung mit der türkischen Kultur ein Wendepunkt in seinem Leben und ließ ihn schließlich den umgekehrten Weg gehen: er wanderte in die Türkei aus.

Von Dirk Schäfer

Auf den Univer­sal­ge­lehrten Alexander von Humboldt geht wohl der Satz zurück: »Alles hängt mit allem zusammen.« Wie wunderbar klar und klug das klingt. Man könnte statt­dessen auch sagen, dass wir uns selbst in allerlei Umstände und Zusam­men­hänge verstri­cken, die erst in der Rückschau ihre eigen­wil­lige Pracht entfalten. Mein Leben ist ein gutes Beispiel dafür.

Als ich am fünften März 1961 zur Welt kam, waren meine Eltern kurz davor, in einer Klein­stadt in Hessen ihre eigene Apotheke zu eröffnen. So wie es vor ihnen schon mein Großvater getan hatte. Sie ahnten nicht, dass ich später einen ganz anderen, künst­le­ri­schen Beruf ergreifen und für viele Jahre in die Türkei auswan­dern würde. Und das hatte auf schick­sal­hafte Weise mit einem beson­deren Ereignis zu tun, das ebenfalls im Jahr meiner Geburt stattfand. Denn als im August 1961 die Regierung der DDR begonnen hatte, West-Berlin einzu­mauern und die Grenzen für ihr Volk zu schließen, fehlten plötzlich jene Arbeits­kräfte, die zum Geld-Verdienen in den Westen gependelt waren. Also gab die deutsche Regierung dem Druck der US-Ameri­kaner nach und unter­zeich­nete ein Abkommen mit dem eher unge­liebten NATO-Verbün­deten Türkei: von nun an durften sich offiziell vorü­ber­ge­hend Menschen aus Anatolien in Deutsch­land als »Gast­ar­beiter« verdingen. Obwohl sie hier von den meisten Einhei­mi­schen lange quasi ignoriert oder gar diskri­mi­niert wurden, bahnte sich für mich damals schon an, was ich mein zweites, »türki­sches« Leben nennen möchte. Doch zunächst musste ich das Tal der donnernden Hufe durch­queren, die Pubertät.

Mit zwölf Jahren wechselte ich auf das Karl-Rehbein-Gymnasium in Hanau, wo mir zum ersten Mal ein türkeis­täm­miger Schul­ka­merad begegnete: Yalçin war von seinen Eltern aus Izmir nach Deutsch­land geholt worden, weil sein Großvater den Jungen dort nicht mehr bändigen konnte. Er war zwei Jahre älter als ich und hatte bereits einen beacht­li­chen, schwarz schim­mernden Schnurr­bart. Seine Eltern waren in Hanau bei der Firma Dunlop beschäf­tigt, wo ihre Arbeits­kraft bei der Herstel­lung von Reifen und Tennis­bällen zum Einsatz kam.

Kurz zuvor hatte ich im Fernsehen etwas gesehen, das in mir ein heilsames Beben auslöste: Acht Stunden sind kein Tag, die fünf­tei­lige Serie von Rainer Werner Fass­binder, mit einem unwi­der­steh­li­chen Figu­ren­en­semble, zu dem auch Charak­tere wie Yalçins Eltern gepasst hätten. Tatsäch­lich drehte Fass­binder ein Jahr später das erste Melodram über das Zusam­men­leben von Deutschen und Migranten: Angst essen Seele auf (Arbeits­titel ALLE TÜRKEN HEISSEN ALI), von ihm selbst als sein schönster Film bezeichnet, wurde am fünften März 1974, also am Tag meines drei­zehnten Geburts­tags, in München urauf­ge­führt.

Am gleichen Tag feierte noch ein anderer Rebell und Poet des Kinos Geburtstag: Pier Paolo Pasolini, der damals 52 wurde und nur noch andert­halb Jahre zu leben hatte, bevor man ihn brutal ermordete. Seine Filme, die ich später voller Bewun­de­rung und beinahe andächtig anschaute, trafen mich mit voller Wucht. Einer davon war die Verfil­mung des antiken Stoffes Medea. Ohne es zu wissen, sah ich darin zum ersten Mal Bilder aus dem Land, in dem ich später leben würde. Denn Pasolini hatte im west­ana­to­li­schen Kappa­do­kien das geeignete Licht und die Land­schaft für die Schlüs­sel­szenen der mytho­lo­gi­schen Sage gefunden. In seinem Tagebuch schrieb er: Es gibt hier wilde Obstbäume, mit viel Grün, und so klein und unver­fälscht, dass einem die Tränen kommen.

Zwanzig Jahre später beglei­tete mich ein Schaf­hirte durch dieselbe, bizarre Land­schaft mit ihren haushohen, ausgehöhlten Tuffstein-kegeln, die man auf Türkisch »Peri Bacaları« nennt, Feen­ka­mine. Es war der Frühling 1989, unmit­telbar nach dem errech­neten Ende des Fasten­mo­nats Ramadan, und das letzte Ziel meiner ersten Türkei­reise. Zuvor hatte ich das östliche Schwarze Meer, dann die Region um den Berg Ararat und schließ­lich den Van-See, das Meer in den Bergen, auf eigene Faust erkundet. In der Provinz Van entstand später mein Film Eine Art Liebe, die doku­men­ta­ri­sche Erzählung vom fremd-bestimmten Leben des jungen Kurden Nevzat, der im Alter von 15 Jahren zwangs­ver­hei­ratet wurde.

Meine erste Reise in die Türkei hatte mit einem Bustransfer von West- nach Ost-Berlin begonnen, denn damals war die Stadt noch durch die Mauer getrennt, und die Boeing 727 der Turkish Airlines konnte nur von Schö­ne­feld aus starten. Nachdem ich einen Monat später aus Ankara in meine Wohnung am Hermann-Platz zurück­ge­kehrt war, lag ich meinen Freun­dinnen und Freunden hemmungslos in den Ohren – mit Schil­de­rungen aus jener bäuerlich geprägten, mutmaß­lich verloren gegan­genen Welt, wie ich sie bislang nur aus Filmen von Pasolini oder Regis­seuren des italie­ni­schen Neorea­lismus kannte.

Erste Konse­quenz war, dass ich mich auf die Zeitungs­an­nonce von Ali Levent meldete, einem Jura­stu­denten aus Char­lot­ten­burg, der privaten Türkisch­un­ter­richt anbot. Gleich in der ersten Stunde bekam ich einen Vorge­schmack auf die folgenden Monate, in denen ich mir vor allem die Grammatik dieser über­mäch­tigen Sprache aneignete. Einer der Übungs­sätze aus der ersten Stunde, der sich auf das Anfügen von Affixen bezog, lautete wie folgt: Otobüs­le­rimiz gara­jlarımız­dadır! – Unsere Autobusse befinden sich in unseren Garagen! Das habe ich nie vergessen.

Nach sechs Monaten hatte ich dank des strengen Ali Levent die Basis für mein Türkisch gelegt. Zur gleichen Zeit wurde die Berliner Mauer, die man im Jahre meiner Geburt hoch­ge­zogen hatte, Stein für Stein wieder abge­rissen. Das machte auch das Reisen in die Türkei leichter, und von nun an begab ich mich jedes Jahr für einige Wochen in meine zweite Heimat.

Die Übergänge waren sanft, lebte ich doch in Berlin-Kreuzberg, wo ich mehr und mehr in die türkisch geprägte Kultur­szene eintauchte. Hier traf ich eines Tages auch auf einen Schau­spieler, der wie ich 1961 zur Welt gekommen war und bereits aufgrund seiner Kompro­miss­lo­sig­keit unter uns Filme­ma­chern gerühmt wurde: Birol Ünel.

Birol war als Angst einflößender Anta­go­nist in der Verfil­mung einer hoch­dra­ma­ti­schen Geschichte aus dem Kosmos türkeis­täm­miger Jugend­li­cher vorge­sehen, dem ersten langen Spielfilm von Neco Çelik. Sein Drehbuch mit dem wunderbar subver­siven, irre­füh­renden Titel ALLTAG war das Beste, das ich seit Jahren gelesen hatte. Also entschloss ich mich, meine Karriere als Regisseur vorü­ber­ge­hend auf Eis zu legen, und widmete mich als Produzent der Verwirk­li­chung von Necos Film. Es war die Zeit kurz vor dem Mill­en­nium und Deutsch­land hatte gerade seinen ersten türkeis­täm­migen Regisseur hervor­ge­bracht: Fatih Akin, dessen Debütfilm Kurz und schmerzlos unter die Haut ging. Es stellte sich aller­dings heraus, dass für Neco neben Fatih kein Platz mehr vorge­sehen war. Zumindest nicht mit der Urfassung seines Dreh­bu­ches. Die Geschichte war wohl zu türkisch, oder wie kann man es sich sonst erklären, dass der Baye­ri­sche Rundfunk erst bereit war, den Film zu finan­zieren, nachdem Neco aus der zutiefst berüh­renden Haupt­figur mit Namen Osama (2 Jahre vor 9/11) einen deutschen Jungen gemacht hatte? Auch Birol tauchte in der einge­deutschten, gemäßigten Version nicht mehr auf. Und ich kündigte meine Wohnung in Berlin und reiste zum ersten Mal mit allen Konse­quenzen ohne Rück­flug­ti­cket nach Istanbul.
Die Zeit, die darauf folgte, gehört zu dem Beglü­ckendsten in meinem Leben. Aber nicht, weil sie so rosig oder komfor­tabel war. Ich habe sicher nie mehr und inten­siver gear­beitet und häufiger schlaf­lose Nächte verbracht – ob als Lehrer an einer privaten Univer­sität, in meiner Rolle als inter­ak­tiver Stadt­führer durch Istanbul oder als Doku­men­ta­rist für den Fern­seh­sender Arte.

Aber ich war auch mehr verliebt, wurde wieder­ge­liebt und verlangte Herz und Verstand alles ab. Und als eines Tages aus meinem Munde zum ersten Mal das Wort Estağ­fu­rullah erklang – als besänf­ti­gende Reaktion auf einen Freund, der mich um Verzei­hung bat, weil er mich nicht habe zu Wort kommen lassen, obwohl ich doch einen langen Weg durch die Stadt auf mich genommen hatte – da war das Glück voll­kommen. Denn mit diesem Wort aus dem Arabi­schen, das die Scham eines anderen mildern soll, indem man die eigene Scham zum Ausdruck bringt, war ich für einen Augen­blick Teil dieser rätsel­haften Bruder- und Schwes­tern­schaft, die sich hier, vor den Toren Europas, auf magische Weise entfalten konnte.

Das bitter­süße Gefühl schick­sal­hafter Verbun­den­heit ergriff mich auch beim Betrachten eines Schwarz­weiß­fotos, das einen jüngeren Mann aus der Türkei zeigt, der wohl in den 60er Jahren nach Deutsch­land einge­wan­dert war. Das Bild wirft die Frage auf, warum er sich mit einem anderen Origi­nal­foto aufnehmen ließ, das er sich vorne in den Ausschnitt seines Pullovers steckte. Darauf ist offen­sicht­lich seine eigene, von ihm weit entfernte Familie zu sehen. Womöglich hatte man bedauert, nicht auf dem Bild vereint zu sein. Aber er hat es nach­träg­lich auf einfache und geniale Weise gelöst – eben alla turka!

Dort, wo sich am asia­ti­schen Ufer Istanbuls die Mühürdar und die Yasa Straße kreuzen, stieß ich eines Tages auf Worte, die in eine Marmor­bor­düre in den Boden einge­lassen sind. Sie geben die Bedeutung wieder, die im ursprüng­lich grie­chi­schen Namen Anatolien aufge­gangen ist: Işık doğudan yükselir – das Licht (die Sonne) steigt im Osten empor. Diese Stelle auf einem kleinen Platz in Kadıköy wurde fortan zu meinem Treff­punkt, wenn ich mit Damla, Erkan, Ümit oder einem der anderen, von mir Geliebten, verab­redet war.

Nun sind also gut 60 Jahre vergangen, seitdem ich auf der Welt bin. Und genauso lange ist es her, dass erstmals Menschen aus der Türkei offiziell zu uns nach Deutsch­land einwan­dern durften. Und auch wenn bisweilen vor Ort ein Klima der Rachsucht meine naiven Liebes­be­zeu­gungen zu ersticken droht, ist es Zeit für mich, diesen Menschen zu danken. Denn hätte es sie nicht gegeben, wäre ich weniger tief verwur­zelt, in unserem wunder­samen Dasein – in dem alles mit allem zusam­men­hängt.

Dirk Schäfer ist ein deutscher Regisseur von Doku­mentar- und Spiel­filmen.
Sein Gast­bei­trag erschien zuerst in der Berliner Zeitung.