20.05.2021

In den Fesseln des Unbewältigten

Anny
Anny: das immer gleiche Lied von der letzten Zigarette
(Foto: 36. DOK.fest@home)

Filme auf dem DOK.fest 2021 zwischen Kontrollsehnsucht und Lockerlassen

Von Thomas Willmann

»Heimweh« nennt die befreun­dete Pastorin es – diese exis­ten­zi­elle Sehnsucht nach einem Uner­reich­baren. Und auch wenn Passion vage bleibt, was die konkrete Vorge­schichte von Maja Borg betrifft, so ahnt man hinrei­chend, dass sie die Erfüllung dieser Sehnsucht schon mancher­orts gesucht hat: In einer offenbar toxischen, unlängst beendeten Beziehung. (Borgs lyrischer Voice Over ist oft an ein »Du« gerichtet, von dem sie sich getrennt hat.) In der christ­li­chen Religion.
Passion – dessen Titel so unori­gi­nell wie passend glei­cher­maßen Leidens­ge­schichte und Leiden­schaft meint – setzt an dem Punkt ein, wo Borg die Ausein­an­der­set­zung mit all dem Unbe­wäl­tigten, mit der eigenen Ohnmacht, die Hingabe an äußere Mächte, das Aufschwingen zur Herrin über das Schicksal in einer konkre­teren, in einer konkret körper­li­chen Form beginnt: Als BDSM.
Mir persön­lich war Passion letztlich etwas zu »poetisch«, spiri­tuell, religiös, um mich ganz abzuholen. Es blieb bei mir das Gefühl eines letzten Schleiers der Verbrä­mung, der Borg davor bewahrt (oder: sie daran hindert) gewisse Dinge unver­wandt zu konfron­tieren, direkt beim Namen zu nennen. Womöglich hat Borg auch aus diesem Grund andere Prot­ago­nisten mit in den Film genommen: Jene Pastorin als gele­gent­liche Gesprächs­part­nerin. Vor allem aber ein schwules Paar und den Master, bei dem einer der beiden seine extre­meren Sub-Neigungen auslebt. In deren Inter­views wird unver­blümter, unpa­the­ti­scher über zentrale Aspekte gespro­chen – nicht zuletzt darüber, wie man mit dem Wunsch umgeht, einem anderen Menschen objektiv gesehen physi­sches Leid zuzufügen. (Die entschei­dende Antwort im Film, aber wohl nicht die letzte ist: Es ist etwas anderes, wenn dies im gegen­sei­tigen Einver­nehmen, auf ausdrück­li­chen Wunsch, zur Erfüllung der entspre­chend kompa­ti­blen Begierde und in genau abge­steckten Grenzen und ritua­li­sierter Form geschieht.)
Borg ist sich ohnehin bewusst, dass ihr christ­li­cher Glaube womöglich als das größte Tabu im Film wirkt – ihr Coming out als lesbisch, als BDSMlerin war im Vergleich leicht, sagt sie. Und viel­leicht der unver­schäm­teste Schock sei es gewesen, von der Kirche (freilich: in Gestalt ihrer sehr progres­siven Pastorin) mit offenen Armen und bedin­gungs­loser Liebe empfangen worden zu sein.
So oder so: Passion ist einer der seltenen Filme, die sich auf ernste, profunde Weise und sozusagen aus der Innen­per­spek­tive mit BDSM ausein­an­der­setzen – und die intel­lek­tu­elle Durch­drin­gung verbinden mit einer Sinn­lich­keit, Körper­lich­keit, die keinen Augen­blick boule­var­desk-speku­la­tive Schaulust bedient.
Und schließ­lich ist es auch genau der Punkt von Passion, dass jedes Indi­vi­duum die Geschichten, die Rituale für sich finden muss, die einen so etwas wie einem Sinn, einer inte­grierten Identität näher bringen. (»If you have no stories, you are hanging loose in space with nothing. I think stories is what creates us«, heißt es einmal.) Und für Maja Borg ist es eben nun mal diese Sprache, diese Ästhetik, diese Form, diese Erzählung(en). Passion zieht seine Stärke daraus, radikal persön­lich zu sein – »Doku­men­tar­film« ist ein zumindest unzu­läng­li­cher, wenn nicht gänzlich unpas­sender Begriff für ihn. Merklich ist dieser Film nicht Abbild, Archiv für Borgs innere Trans­for­ma­tion, sondern ein wesent­li­cher Teil, eine Mate­ria­li­sie­rung des Prozesses selbst. Und am Ende dieses filmi­schen Rituals über­schreitet Maja Borg all ihre einst als »hard limits« gesetzten Grenzen.

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Es würde mich nicht wundern, wenn Helena Třeš­tí­ková ihren Anny als einen letztlich lebensbejahenden Film betrachtet. Schließlich hat die titelgebende Pragerin ihr Leben gelebt, mit einer gewissen Konsequenz, und hat, wie’s scheint, nie ganz ihre zunehmend abgewetzte, dünngeschmirgelte Hoffnung aufgegeben auf ein bisserl mehr Glück.
Aber das Portrait einer alternden Gelegenheits-Sexarbeiterin ist halt schon auch die Art »lebensbejahender« tschechischer Film, in dem irgendwann mal ganz nebenbei erwähnt wird, dass sich Annys Enkelin grad aus dem 4. Stock gestürzt hat. Zum zweiten Mal. Aber zum Glück ist wieder nichts Ernstes dabei passiert.
Anny ist generell die Art Langzeit-Doku, die gut darin ist, vieles am Rande zu erzählen. Kein Film, bei dem das Team stets bereit war, auf einen Anruf hin loszueilen und das jüngste Drama möglichst brühwarm einzufangen. Sondern einer, der einem das Gefühl gibt, eine gute Bekannte über Jahre hinweg immer mal wieder zu treffen, um sich auf den neuesten Stand zu bringen, wie ihr das Leben so mitgespielt hat. Mal denkt man sich »Immer noch ganz die Alte«, mal erschrickt man, wie sie plötzlich gealtert ist. Und zwischendurch erzählt sie was von früher, oder von jüngsten Erlebnissen, das einen diese Frau in einem ganz neuen Licht erblicken lässt.
En passant ist der Film auch ein Stück postsozialistische Prager Stadtgeschichte. Hauptberuflich sitzt Anny im Kassen-Kabuff einer öffentlichen Bedürfnisanstalt in einer unterirdischen Fußgänger-Passage – wo sich nicht viel ändert, außer dass irgendwann der Preis für einen Abtritt steigt. Aber draußen, wo Anny sich hin und wieder ein Zubrot verdient, steigt der ökonomische Druck, werden die Ladenfassaden von internationalen Franchises übernommen. Während Anny in ihrer Sexarbeiterinnen-Laien-Theatergruppe das immer gleiche Lied singt von der letzten Zigarette.
Abseits der Bühne raucht Anny sich die Lunge kaputt. Und dann trotzdem noch immer weiter. 60% Lungenkapazität? Gar nicht so schlecht, findet sie, da geht noch was! Es kommt, unerwartet, eine späte Ehe – und endet wieder. Und obwohl man es selbstverständlich vorhersieht, trifft es einen dann doch herb, wenn der Film sein natürliches Ende findet...

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Letztlich nur drei Gene­ra­tionen Arbeit – die Zeit, in der die Berge genug Kohle herge­geben haben, um den Abbau zu rentieren – haben das Bild geprägt von Kentucky und seiner Hinter­wäldler-Bevöl­ke­rung. Sagt Brian Ritchie, der dazu steht, das Klischee zu erfüllen – sich aber auch als einen der Letzten einer eigent­lich schon ausge­stor­benen Art stili­siert.
The Last Hillbilly findet nie so richtig seinen Stand­punkt, seinen Zugang zum Sujet – weder zu seinem Prot­ago­nisten als Indi­vi­duum, Persön­lich­keit, noch zu dem quasi-mythi­schen Stereotyp des Titels. Diane Sara Bouz­garrou & Thomas Jenkoe gelingt nicht die mensch­liche Nähe, das verblüf­fende Vers­tändnis der Portrai­tierten, die etwa eine Debra Granik durch ihre vorur­teils­lose Neugier erreicht. Und ihr Versuch einer über­zeit­li­chen Über­höhung bleibt weit hinter dem, was filmisch der frühe Terrence Malick, oder lite­ra­risch Breece D’J Pancake mit ihren Bildern tiefster US-Provinz schafften.
Das vorherr­schende Grund­ge­fühl ist eines der gleich­gül­tigen Ausweg­lo­sig­keit, die selbst die Betrof­fenen nicht mehr so recht berührt. Wenn der Film bewusst einfangen wollte, wie undra­ma­tisch zäh solch ein Verlö­schen (mehr als der Untergang) einer Spezies sein kann, dann freilich hat er reüssiert.

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Ja, sie war naiv – aber mehr hat sie sich nicht vorzu­werfen. Und das Einzige, was sie bereut im Leben, ist, dass sie leicht­fertig ihre Chance auf eine Hollywood-Karriere verstrei­chen ließ. Wenn man das Lída Baarová so abkauft, dann ist Doomed beauty (Zkáza krásou) eine recht gewöhnliche TV-Doku über den Lebensweg eines alten Filmstars. Mit Interviews in ihrer Salzburger Wohnung, nicht lang vor dem Tod im Jahr 2000. Illustriert mit Ausschnitten aus Baarovás Filmen und Archivmaterial. Eine Stimme, die explizit widerspricht, gibt es da nicht.
Doch Helena Třeštíkovás Film ist trügerisch in seiner vermeintlichen Schlichtheit – und setzt darauf, dass die Brüche in der »Je ne regrette rien«-Fassade offenbar genug sind, auch ohne dass die Regisseurin die Brechstange reinstemmt. Baarová raucht Kette, nuckelt Cognac einmal direkt aus der Flasche. Und immer wieder, wenn ihr Sprechen schlierig wird und ihre Augen kurz davor scheinen, jeden Blick zu verlieren, vermag man nicht recht zu entscheiden, ob sie von der Altersmüdigkeit übermannt wird, vom Alkohol – oder vom inneren Aufgischten der Erinnerung, und allem, was die an Unbewältigtem aufwallen lässt.
Baarová, das junge, hübsche Mädchen aus Prag, wurde von der UFA angeheuert, von Hitler umworben – und war schließlich die Geliebte von Joseph Goebbels. Was da politisch so lief, habe sie nie mitbekommen oder begriffen. (An Goebbels Auftritten bewunderte sie die Schauspielkunst, aber was er sagte, habe sie nicht verstanden – da scheinen sie plötzlich ihre Deutschkenntnisse verlassen zu haben, auf deren flinken Erwerb als Filmstar sie durchaus stolz ist.) Und man spürt, dass es selbst mit all dem Wissen der Rückschau noch immer ihre nicht unerhebliche Eitelkeit kitzelt, von solch mächtigen Männern begehrt worden zu sein: Doch, sie habe letztlich Goebbels geliebt – oder zumindest seine Liebe zu ihr. Dass Hitler dann angeblich den Propagandaminister zwang, Baarová zu entsagen, sei womöglich auch die Erklärung für die Erbarmungslosigkeit von allem, was welthistorisch noch folgte. Sie, die Baarová, als wahrer Antrieb für alles – wer weiß?!
Es ist mehr als eine Behelfslösung mangels Dokumentarmaterials von dem Paar, wenn Třeštíková dazu die junge Baarová in ihren Filmrollen montiert. Die UFA-Ästhetik gibt eine Ahnung, dass die ganze schmierige Affäre wohl nicht nur für die Frau, sondern selbst für Goebbels ein großes Liebes-Melodram schien.
Die Nazi-Herrschaft, die Rückkehr in die Tschechoslowakei, die Flucht vor den Kommunisten – in Doomed Beauty wirkt das alles für Baarová zur Zeitkulisse oder Plotmotivation ihres Lebensfilms stilisiert, degradiert. Man darf es als mehr denn ein kurioses historisches Fundstück sehen, wenn Třeštíková dann trotzig eine Propaganda-Doku hineinschneidet, in der gezeigt wird, wie das Zelluloid alter Kinofilme zu Lippenstift und Schuhwichse umgeschmolzen wird. »So dient ein Film auch nach seinem Tod der Menschheit.«
Bei aller Beteuerung des Gegenteils führt es offenbar mehr als nur den Schmerz des unwiederbringlich Vergangenen mit sich, wenn die alte Dame von Früher spricht. Sie wirkt wahrlich nicht wie Eine, die mit allem abgeschlossen hat, mit sich und allem im Reinen ist. Immer wieder stöhnt sie geradezu auf ob einer Erinnerung. Und einmal fleht sie ihre Befragerin an: »Warum quälen Sie mich mit den alten Sachen?« Třeštíkovás Antwort: »Weil es das 20. Jahrhundert ist.«

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Dafür, dass es auch um Lulu Weis eigene Wohnung ging, wirkt There’s no place like this place, anyplace erstaunlich neutral. Die Gentrifizierungs-Doku über den Abriss eines legendären, vor allem von Immigranten frequentierten Kaufhauses in Toronto mitsamt des umliegenden Künstlerviertels hat selten den Blick fürs frappante, sprechende Detail, den man sich von einer Einheimischen und unmittelbar Betroffenen erhoffen würde. Viel an dem Film scheint recht brav und austauschbar.
Die Abwesenheit persönlicher Empörung wird allerdings zur Qualität, wo Lulu Wei – ohne die ökonomisch-politischen Dynamiken schönzureden – ein Gespür dafür bewahrt, dass nicht jede Veränderung zwangsläufig nur negativ ist. Dass es hier auch fundamentaler um Abschiede geht. Dass manche Dinge tatsächlich eine begrenzte Lebensdauer haben, um dann Platz für Neues zu machen.
Weis Apartment ist auch das erste gemeinsame Daheim mit ihrer Freundin – und man hat eine unterschwellige Ahnung, dass die Beziehung ohnehin an einem Scheideweg stehen könnte. Und wenn der alte, ungarischstämmige Künstler Gabor aus seiner Galerie muss, dann ist das schmerzhaft und tragisch – aber die grundsätzlichen Fragen, vor die ihn das stellt, jene ob seines Vermächtnisses, seiner Kunst, wären auch ohne die Gewalt des Kapitals irgendwann unausweichlich geworden. Für einen Moment scheint ihn die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit künstlerisch sogar noch einmal zu befreien. (»It’s not a restart. It’s a kind of elegant reduction«, sagt er über sein neues Atelier.)
Dass There’s No Place... zumindest etwas Komplexeres, Interessanteres bietet als die übliche Geschichte von bösen Investoren, zeigt die Wendung: Das Haus, in dem die Regisseurin wohnt, wird nicht etwa von der Baufirma plattgemacht. Es ist eines von zwei alten Gebäuden, die inmitten des Luxus-Neubauviertels stehen bleiben. Aber sie muss aus der Wohnung, weil die Stadt dort einen neuen Raum schafft für ein alteingesessenes, vom Abriss betroffenes afro-kanadisches Buchladen-Kulturzentrum.

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Als Muster­bei­spiel für doku­men­tar­fil­me­ri­sche Ethik taugt Lost Boys gewiss nicht. Es gibt ein klares Gefälle zwischen Regisseur Joonas Neuvonen und seinen Junkie-Spezln Jani und Antti, und es ist fraglos, dass er von ihrem Elend profitiert – und mitunter nicht mehr eindeutig, ob er die beiden nicht auch (zumindest unbewusst) manipuliert. Man wird den Eindruck nicht los, dass seine vermeintliche Freundschaft ihn wohlfeil gewisser filmerischer Verantwortungen enthebt – und ihn seine Rolle als Dokumentarist als Freund aus der Pflicht nimmt, helfend einzuschreiten. Und selbst da, wo Neuvonen über seine eigene mögliche Schuld reflektiert, ist dies freilich durchaus im Dienst des Films und der Dramaturgie.
Bei allen grundsätzlichen Vorbehalten, und mit einem gewissen Bauchgrimmen, muss man aber auch sagen: Die grenzwertige Konstellation macht in Lost Boys Dinge möglich, die keine »sauberere« Doku hinbekäme. Joonas, Jani und Antti waren zuvor schon in Rein­de­er­spot­ting zu erleben, den ich leider nicht gesehen habe, der aber offenbar vom Junkie-Alltag in der finnischen Provinz handelt. Danach saßen Jani und Antti sieben Jahre im Knast. (Neuvonen selbst landet nach dem Dreh zu Lost Boys wegen – von ihm bestrittenem – Drogenhandel zunächst im Gefängnis.) Zu ihrer Entlassung haben sie nichts Dümmeres zu tun, als zu dritt zum Feiern nach Thailand zu fliegen – mit erwartbarem Resultat. Neuvonen tritt nach ein paar Party-Wochen die Heimreise an, Jani und Antti bleiben. Wenig später ist Jani tot, Antti halbverschollen und psychotisch.
Neuvonens Rückkehr nach Bangkok, seine Spurensuche bis nach Kambodscha, ist eine Art Doku-Variante von Only God Forgives. Eine bewusst stark stilisierte Reise zum Heart of Darkness (hier ein Club in Phnom Penh, »open 9:00 PM till late«), mit einem Neo noir-Voice over aus Neuvonens Ich-Perspektive (in Wirklichkeit aber eingesprochen von einem Schauspieler).
Lange Zeit scheint sich ein veritabler Krimi-Plot anzukündigen, bei dem sich Jani nicht – schwerst rückfällig und restlos pleite – selbst erhängt hat. Sondern er Opfer seiner kambodschanischen »Verlobten« (einer Sexarbeiterin) oder deren Unterwelt-Bekannten wurde. Dann stöbert Neuvonen die Frau auf – und endlich gibt ihm jemand Kontra.
Was Lost boys, trotz aller Fragwürdigkeit, so stark macht, ist eben die Halbinvolviertheit Neuvonens. Er ist in Thaliand zunächst auch erstmal als Party-Tourist mit Kamera. Zieht dort mit seinen beiden Kumpeln um die Häuser. Und auch wenn er selbst um die härteren Drogen einen Bogen macht, hat die Welt von Jani und Antti für ihn eine Normalität. Lost Boys ist keine aufklärerische, »sozialkritische« Doku, die das Publikum beruhigen will mit der Bekräftigung, wie schlimm, verstörend, fremd das alles ist. Man hockt hier auf Augenhöhe mit im Hostel-Zimmer, wenn die Jungs sich alles reinknallen, was sie wegdröhnt – und bekommt ein echtes Gefühl dafür, wie unspektakulär schäbig dies Leben von »Spaß« und »Rausch« ist. Wie banal die unerfüllbare Sehnsucht dahinter.
Und wenn es dann in die richtig dunklen Ecken geht, bleibt unter der Stilisiertheit dennoch ein Bewusstsein, dass man nie einen Rubicon überschreitet zu einem echten Genre-Film – sondern dass all die scheinbaren Zutaten eines Drogen-Thrillers für manche Leute schnöder, von aller cooler Verruchtheit freier Alltag sind. Einen dahin mitzunehmen, auf so intensive Art, wie Lost Boys es tut – das wäre keinem Film, der (berechtigte) Bedenken mitgeschleppt hätte, gelungen.

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Zunächst mag man To The Moon noch für ein astrocineastisches Schwestergestirn halten von Johann Lurfs ★ (alias Starfilm). Doch bald merkt man, dass Tadgh O’Sullivan es auf etwas deutlich Somnambuleres abgesehen hat als einen enzyklopädischen, nach strengen formalen Regeln kuratierten Himmelsatlas vom Bild des Mondes im Kino.
Es ist eine sehr frei komponierte Etude über Luna auf der Leinwand, die all die zu erwartbaren Ausschnitte umschifft. (Nein, Méliès' Sahnetortenmondgesicht bekommt hier nicht die Rakete ins Auge.) Angereichert durch von O’Sullivan selbst gedrehte Aufnahmen, und Zitate aus Lyrik und Literatur aus dem Off. Um diverse Gravitationszentren arrangiert – der Mond als Licht der Liebenden, der Schlaflosen, der »Lunatics« und Lykanthropen, als Herrin der Gezeiten und der Monate. Das meiste Material stammt aus der Stummfilm- oder frühen Tonfilmzeit, wo Film selbst noch etwas sehr Traumartiges hatte. Und als Ziel der Raumfahrt dient der Erdtrabant hier nur dem Baron Münchhausen.
Es hatte was, sich den Film nachts daheim anzuschauen, wo draußen der echte Mond durch die Wolken spitzte. Aber im Dunkel des Kinos hätte TO THE MOON sicher noch eine stärkere Leuchtkraft entwickelt.

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Am Anfang wirkt Papa s'en va noch wie ein Doku-Pendant zu Papa Ante Portas. Prof. Dr. Jacques Horovitz, Leiter der gynäkologischen Abteilung einer großen Universitätsklinik, geht in den Ruhestand. Und weiß plötzlich nicht, was er mit der ganzen nicht von außen durchgetakteten Zeit, was er mit sich anfangen soll. Aus den Untiefen seiner latent messiehaft gehorteten Lebensbestände zieht er die noch unbenutzten Golfschläger, die er zum Abschluss des Medizinstudiums geschenkt bekam. Aber Sport ist doch nicht seins. Also probiert er es, offenbar aus alter Liebe zur Boulevardkomödie und Bewunderung für den jüdischen Bühnen- und Filmschauspieler Robert Hirsch, mit einer Theatergruppe.
Regisseurin Pauline Horovitz hat allemal ein Auge für die Komik ihres Vaters als Filmfigur, weiß liebevoll pointiert, diese durch Kadrierung und Timing auszustellen. Und sie hatte anscheinend vorab eine recht präzise Vorstellung davon, wie Papa s'en va aussehen sollte. Doch dann häufen sich allmählich die Momente, in denen die Kamera mitlief, während die eigentlich geplante Szene gerade erst vorbereitet, oder unterbrochen wurde. Und so wunderbar die kontrollierten, intendierten Sequenzen sind – Pauline Horovitz' wahre Meisterleistung war es zu erkennen, dass das wirklich Spannende genau außerhalb des abgesteckten Rahmens passierte. Und dann ihren Film zu öffnen für dieses vermeintliche Ausschussmaterial.
Mehr und mehr wird Papa s'en va vom amüsanten Portrait eines leicht schrulligen Menschen in neuer Lebenssituation zum Bild eines Mannes, der in sich zeitlebens Dämme, Abstandshalter, Kontrollmechanismen errichtet hat – und diese nun plötzlich wegbröckeln findet. Mit seiner Lebensgefährtin führt er eine Fernbeziehung – und es macht ihm sichtlich Angst, dass es für dieses distanzierende Arrangement nun keine berufliche Entschuldigung mehr gibt. Ausgerechnet der berühmte Frauenarzt, der den weiblichen Leib medizinisch so im Griff zu haben scheint, ist völlig von der Rolle, als er in seiner Improtheater-Ausbildung im Rahmen einer Szene zum ersten Mal die Erfahrung macht, eine Frau mit spontaner Leidenschaft zu umarmen. Und Horovitz ist betont bedacht darauf, rein säkular jüdisch zu sein, und um diesen Teil seiner Identität keinerlei Aufhebens zu machen. Aber in einem dieser Momente der noch mitlaufenden Kamera lässt er kurz durchblicken, dass er durchaus bewusst (und bewusst stumm) ein über die Generationen reichendes Familientrauma weiterträgt. Und dann nimmt er seine kranke, verarmte Schwester in seine Wohnung auf – eine Gestalt, die (wäre sie weniger tragisch) fast einer Boulevardkomödie entsprungen sein könnte, wie sie immer wieder zu den unpassendsten Augenblicken ins Bild schlurft, durch ihre Gebete im Nebenzimmer den Ton der Aufnahmen ruiniert, koscheres Essen einkaufen gehen will. Und die dramaturgisch absurd perfekt den Part verkörpert des Verdrängten, Unbewältigten.
Aber nicht nur der Film lässt immer mehr das Unkontrollierte zu. Ob sein Golf-Trainer, ob der Leiter seiner klassischen Theaterklasse, ob der Impro-Lehrer: Plötzlich scheinen alle Jacques nur noch zu erzählen, wie zentral es sei, das Loslassen, das Lockerlassen zu lernen.
Und das Wunderbare an Papa s'en va ist: Jacques, der noch aus seiner Studentenzeit fast jede Quittung aufgehoben hat; Jacques, der in einem Schrank genug jahrealte Marmelade bunkert, um zur Not den nächsten Weltkrieg in seiner Wohnung aussitzen zu können; Jacques, der anfangs noch erklärt, Bismarck habe sehr sinnig das Alter für den Renteneintritt auf die durschschnittliche Lebenserwartung festgesetzt, denn Ruhestand sei gleichbedeutend mit Tod – dieser Jacques scheint auf seine alten Tage jenes Loslassen, Lockerlassen tatsächlich noch ein Stück weit zu lernen. Und zu genießen.