31.12.2020

Löffeln und füßeln

Nimic
Lanthimos' Doppelgängerspiel
(Foto: Filmexplorer)

In seinem Kurzfilm »Nimic« erzählt Yorgos Lanthimos von einem Musiker, dem die Identität geklaut wird. Eine absurde Komödie im Psychothriller-Modus, die unsere Rollenvorstellungen hinterfragt

Von Jens Balkenborg

In einer Zeit, in der wir selbst unser Weltbild und unsere gelebten Selbst­ver­ständ­nisse hinter­fragen müssen, bekommt das Werk von Yorgos Lanthimos eine neue Note. Seitdem der grie­chi­sche Regisseur Filme macht, konfron­tiert er uns mit Welten, die der unseren so fern nicht sind, die aber einer eigenen absurden Logik folgen: In Dogtooth werden Kinder von ihren Eltern mit falschem Welt­wissen herme­tisch abge­rie­gelt von der Außenwelt groß­ge­zogen; in Alpen schlüpft eine Gruppe in die Rolle Verstor­bener, um den Angehö­rigen den Abschied zu erleich­tern; in The Lobster wird man in ein Tier verwan­delt, wenn man länger als 45 Tage Single ist.

Sehr bewusst kratzt der Regisseur an den Fassaden unseres Zusam­men­le­bens, denn so absurd seine Welten auch zu sein scheinen, sie werfen uns auf uns selbst zurück: auf unser Verständnis von Familie, von Macht und Hier­ar­chien, von Ritualen, Rollen­bil­dern und (sexueller) Identität. All das schwingt auch in seinem neuen Kurzfilm Nimic mit, einem knackigen Zwölf­minüter, der aktuell bei Mubi gestreamt werden kann.

Der Film, dessen Drehbuch Lanthimos erneut mit seinem lang­jäh­rigen Wegge­fährten Efthymis Filippou geschrieben hat, ist eine einzige Dissonanz, führt er uns doch, wie so oft, auf ein Terrain der Unsi­cher­heiten. Wir folgen einem von Matt Dillon gespielten profes­sio­nellen Cellisten durch den Alltag: Aufstehen, am Herd auf das 4 Minuten und 15 Sekunden lang gekochte Ei warten, Frühstück mit der Familie. Ein Alltag im perfekten Rhythmus, wie es seine Profes­sion während der Proben verlangt, bis er in der U-Bahn eine Fremde (Daphne Patakia) nach der Uhrzeit fragt und diese stumpf mit der gleichen Frage antwortet. Mehr noch: Sie verfolgt den Musiker bis nach Hause, öffnet mit einem eigenen Schlüssel die Haustür, bis beide mit Blumen vor seiner verwirrten Familie stehen und nach­ein­ander und schließ­lich gleich­zeitig um deren Gunst buhlen. »Sagt eurer Mutter, wer euer richtiger Vater ist«, sagen sie synchron, worauf die Kinder antworten: »Woher sollen wir das wissen? Wir sind nur Kinder.«

Im Psycho­thriller-Modus mit disso­nanten Strei­chern auf der Tonspur folgt Lanthimos dem Musiker und seinem »Double«, die Weit­win­kel­ein­stel­lungen, die man aus seiner Adels­gro­teske The Favourite kennt, und die teils wie aus der Über­wa­chungs­per­spek­tive wirkenden Bilder verstärken das Unsi­cher­heits­ge­fühl. Was geht da vor sich? Wie immer bei Lanthimos stellt keine der Figuren die Regeln der Welt in Frage. Statt­dessen treten die beiden Kontra­henten bei einem Anschmie­ge­wett­be­werb gegen­ein­ander an: erst muss sich Dillons armer Tropf an die im Bett liegende Ehefrau heran­löf­feln und mit ihr füßeln, dann die Konkur­rentin. Wer ist das »richtige« Pendant?

Auch in Nimic bringt Lanthimos absurde Komödie und Tragödie zusammen und gewinnt dem Thema Identität etwas Neues ab. Seit jeher geht es in seinem Œuvre auch um Rollen, die seine Figuren frei­willig spielen wollen oder durch äußere Zwänge spielen müssen. In Kinetta etwa, seinem Debüt, ist es Teil einer temporären Wirk­lich­keits­flucht, wenn die Prot­ago­nisten in die Rollen von Tätern und Opfern schlüpfen, um halbgare Filmideen für Mord- und Miss­hand­lungs­szenen zu insze­nieren. In Alpen bekommt der Gedanke der Wirk­lich­keits­flucht exis­ten­zi­elle Tragweite, wenn eine Prot­ago­nistin am Ende des Films tatsäch­lich in der Rolle einer verstor­benen Tochter weiter­leben möchte und bei deren Familie randa­liert: ihre persön­lich Utopie scheint das ewige Reenact­ment.

Dagegen zeigt Dogtooth die völlige Iden­ti­tät­sper­ver­sion: aufge­wachsen mit einer eigenen Sprache in dem vom Vater regierten Mikro­staat, in dem Hörigkeit und perfide Vorstel­lungen und Wett­be­werbe aus den Kindern regel­rechte Sozio­pa­then gemacht haben. Der für den Oscar als beste fremd­spra­chige Produk­tion nomi­nierte Film ist auch eine Reflexion darüber, was für Menschen herme­ti­sche abge­schot­tete Dikta­turen hervor­bringen können. In The Lobster wiederum darf man nur in trauter Zwei­sam­keit exis­tieren, ansonsten – nachdem auch das auf Part­ner­suche spezia­li­sierte »Hotel« mit seinen perfiden Methoden geschei­tert ist – fristet man sein rest­li­ches Dasein als Tier seiner Wahl.

Eine wirkliche Wahl hat Dillons Musiker in Nimic nicht, ihm wird sein altes Leben und seine alte Identität buchs­täb­lich vor der Nase wegge­klaut. Und das Schlimmste daran ist, dass es niemanden inter­es­siert, auch nicht, als die Neue an seiner Statt beim Konzert mit leicht irrem Blick keinen geraden Ton trifft. Der Saal applau­diert.

Der Filmtitel Nimic kommt aus dem Rumä­ni­schen und bedeutet übersetzt »nichts«. Er passt zum intel­li­genten Spiel, das der Regisseur mit uns treibt. Wirklich klar wird nichts, vielmehr ist Nimic ein Asso­zia­ti­ons­ap­parat. Welche Rollen spielen wir so präzise wie ein Musiker seine Noten und was bedeuten sie uns? Dass es gegen Ende einen Moment gibt, der andeutet, dass sich dieser Iden­ti­täts­klau, man möchte fast sagen: viral weiter­zu­ver­breiten scheint, lässt schmun­zeln und schaudern. Genau dazwi­schen liegt das Lanthimos-Gefühl.