31.12.2020

125 Jahre Kino – und was kommt jetzt?

Kino Otok - Islands for Forgotten Cinemas
Kino Otok – Islands for Forgotten Cinemas – Ivan Ramljaks Bestandsaufnahme untergeganger Kinos
(Foto: Kino Otok © Ivan Ramljak)

Wir halten auf der Schwelle zu einem neuen Jahrzehnt kurz inne und machen Inventur. Eine gründliche Bestandsaufnahme zum Zustand des Kinos nach einem Jahr Corona – und ein Blick in die Zukunft

Von Dunja Bialas

Streng genommen beginnt ja erst mit dem Jahr eins das neue Jahrzehnt. Es besteht also noch Hoffnung: Die Nullrunde ist endlich vorüber, die Zwanziger Jahre, die zum letzten Jahres­wechsel eupho­risch begrüßt wurden, können jetzt endlich losgehen.

Das Kino hatte vor ein paar Tagen sein 125. Jubiläum. Das verstrich ohne Aufruhr, es gab keine Feier­lich­keiten, keine Anspra­chen, kaum Feuil­leton und natürlich keine Film­vor­füh­rungen. Am 28. Dezember 2020 hatte das Kino nichts zu feiern, es war zu, niemand zeigte Lumières' erste Filme La Sortie de l’Usine Lumière und L’Arroseur arrosé vom Kine­ma­to­gra­phen, wie 1895 zur Geburts­stunde des Kinos. Die Welt und die Bilder waren im großen Stream der Wohn­zimmer unter­ge­gangen.

So gilt auch 125 Jahre nach der Grund­stein­le­gung für eine neue Ära der Media­lität: Die tech­ni­sche Entwick­lung ist die Keimzelle der Film- und Kino­ge­schichte. Umso genauer sollten wir auf aktuelle Entwick­lungen achten, denn sie lassen auf die Zukunft des Kinos schließen. Wird das Kino als Ort verschwinden? Werden die Block­buster überleben? Wird das Kino in einer geschützten Nische als Kunst erblühen?

Corona hat ein paar der Entwick­lungen der letzten Jahre beschleu­nigt. Dazu gehört das Streamen, aber beispiels­weise nicht die Mobi­li­sie­rung der Bilder. Der Kata­ly­sator Covid-19 hat eine sprung­hafte Digi­ta­li­sie­rung unseres gesamten, sogar unseres sozialen Lebens hervor­ge­bracht, einher­ge­hend mit einer neuen Sess­haf­tig­keit. »In Kriegen, Revo­lu­tionen und Pandemien gewinnen immer die neuen Tech­no­lo­gien«, sagte vor ein paar Tagen der Philosoph Boris Groys im Interview mit der »Süddeut­schen Zeitung«. »In der Pandemie wird die rasante Entwick­lung der digitalen Tech­no­lo­gien forciert. Was wir erleben, ist keine Disrup­tion, sondern die Radi­ka­li­sie­rung der Entwick­lung, die ohnehin statt­findet.«

Was aber bleibt von der coro­na­in­du­zierten Kultur- und Kino-Krise? Welchen Wandel wird das Kino im nächsten Jahrzehnt erleben? Wie können wir ihn so gestalten, dass das Kino bleiben kann?
Es folgt: eine Bestands­auf­nahme aktueller Phänomene, die ahnen lässt, wie sich das Kino in Zukunft entwi­ckeln wird.
Das neue Jahrzehnt beginnt, geben wir das Kino nicht auf.

Besu­cher­schwund

Wie die von der Film­för­de­rungs­an­stalt (FFA) in Auftrag gegebene Studie »Finan­zi­elle Auswir­kungen von Covid-19 auf Kino­be­treiber« nahelegt, müssen sich die Kinos auf weiteren Besu­cher­schwund gefasst machen. Die coro­nabe­dingten Restrik­tionen auf den Kino­be­such wirkten sich bereits viel­fältig aus: Kinosäle konnten während der kurzen Zeit ihrer Wiedereröf­fung nur zu etwa 20 Prozent ausge­lastet werden. Zahl­reiche Besucher*innen wurden im Sommer an der Kinokasse abge­wiesen oder hatten bei den unfle­xi­blen Online-Kassen­sys­temen das Nachsehen. Da aufgrund der Program­mier­vor­gaben und gegebenen Sitz­platz­ab­stände oftmals ein realer Abstand von bis zu 3 Metern entstand (anstelle der vorge­schrie­benen 1,5 Metern), bemühten sich die Kino­ver­bände vergeb­lich um einen Sitz­ab­stand nach »Augenmaß«. Kino als Grup­pen­un­ter­neh­mung, in jüngeren Kreisen immerhin noch beliebt, wurde durch die Abstands­re­ge­lungen verun­mö­g­licht. Das uner­freu­liche Fazit der Studie ist: »Insgesamt ist zu erwarten, dass die Nachfrage nach Kino­be­su­chen nach der Wiederöff­nung der Kinos deutlich unter dem durch­schnitt­li­chen Wert der Vorjahre liegen wird.« Nach dem zweiten Lockdown und insgesamt fünf Monaten Kino-Schließung müsste man hier wohl noch etwas deut­li­cher werden.

Finanz­loch der FFA

Verbunden mit der coro­nabe­dingten Kino­schließung und dem Besu­cher­schwund ist ein Finanz­loch in der Film­för­de­rungs­an­stalt entstanden, das Auswir­kungen auf das gesamte Förder­system, also auch der Film­pro­duk­tion, hat. Fakt ist, dass bis zum 30.06.2021 die Abgaben der Kinos an die Film­för­de­rungs­an­stalt als »Corona-Sofort­hil­fe­maß­nahme« gestundet werden. So müssen Kinos norma­ler­weise ab einem Jahres­um­satz von 100.000 Euro bis zu drei Prozent an die Behörde abgeben, Geld, das in die Reali­sie­rung neuer Projekte fließt. »Film­ab­gabe« heißt dieser Kunst­griff des Regel­kreis-Förder­sys­tems. Ange­sichts einer anhal­tenden Schließung der Kinos ist aber nicht davon auszu­gehen, dass die für die Film­ab­gabe notwen­dige Besu­cher­zahl erreicht wird.

Die FFA wird mit einem Finan­zie­rungs­loch in das neue Jahrzehnt starten. Jetzt könnte tatsäch­lich der Fall eintreten, dass die FFA unter einen Rettungs­schirm des Bundes gestellt werden muss. Der in Fach­kreisen vielfach geäußerte Wunsch, die FFA abzu­schaffen, könnte womöglich in Erfüllung gehen.

Mono­kultur

Auch das Film­an­gebot versiegte scheinbar mit Corona. Diese Wahr­neh­mung aber verdankt sich der Fixierung von Branche und Presse auf Block­buster wie den neuen »James Bond« Keine Zeit zu sterben oder den neuen »Eberhofer« Kaiser­schmarrn­drama, der es fast geschafft hätte, sich in die frei gewor­denen Bond-Spiel­ter­mine zu setzen. Aktuell ist der Bond-Start auf Ende März 2021 verschoben, Kaiser­schmarrn­drama wurde auf August 2021 termi­niert und startet damit mit einem ganzen Jahr Verspä­tung.

Poten­ti­elle Kino­be­su­cher*innen bekommen durch die entspre­chende Bericht­erstat­tung den Eindruck vermit­telt, dass sich ein Kino­be­such nicht lohnt, weil es die Filme nicht hergeben. »Vor allem braucht es neue, gute Filme. Die sind derzeit Mangel­ware«, weiß das NDR-Kultur­journal noch Mitte September. Verschwiegen werden Filme wie Berlin Alex­an­der­platz, Harriet, Undine, Il Traditore oder Futur Drei. Allein Die Känguru-Chroniken und Tenet scheinen zu zählen: Sie sind die einzigen, denen man zutraute, wieder Geld in die Kassen zu bringen, entspre­chend die Bericht­erstat­tung und Aufmerk­sam­keit. Der Rest wurde wie zweit­klas­sige Ware behandelt.

Kultur­dar­wi­nismus

Film­ver­leihe und die großen Kino-Multi­plexe, die den wichtigen Bodensatz der Film­wirt­schaft bilden, sind anders als Arthouse-Kinos bislang kaum in den Genuss der Corona-Hilfs­maß­nahmen gekommen. Hier greifen Einzel­un­ter­nehmer-Rege­lungen, nicht aber die Sofort­hil­fe­maß­nahmen für die Kultur. Bereits lancierte Verleih-Kampagnen für den Filmstart, bei denen viel Geld in die Hand genommen wurde, sind jedoch reale und prekär wirkende Verluste. Nur die Stärksten werden bei diesem Kultur­dar­wi­nismus überleben, und wohl dem, der sein Geld noch nicht in einen jetzt abge­sagten Filmstart inves­tiert hatte.

Ein Beispiel: Grandfilm hat für den Start des Berlinale-Gewinners Doch das Böse gibt es nicht fast eine Vier­tel­mil­lion Euro in die Hand genommen. Der Film hätte am 5. November in den Kinos starten sollen, nur eine Woche vorher wurde der Kultur-Lockdown beschlossen. »Dass wir ihn jetzt nicht auswerten können, stellt für uns eine exis­ten­zi­elle Bedrohung dar«, schreibt Grandfilm in einer Pres­se­mit­tei­lung.

Wieder einmal krankt auch das System. Die Corona-Hilfe »Neustart Kultur« kann nur für Film­pro­jekte der FFA oder des BKM abgerufen werden, für Filme also, die im deutschen Förder­system verankert sind. Der Verleih von Kaiser­schmarr­drama – ein erwart­barer Selbst­läufer – wird mit einer halben Million Euro subven­tio­niert. Inter­na­tio­nale Filme ohne deutsche Betei­li­gung fallen raus, wie Doch das Böse gibt es nicht oder Bertrand Bonellos großar­tiger Zombi Child (ebenfalls bei Grandfilm), ein weiterer unter­ge­gan­gener Titel des verma­le­deiten Kinojahrs 2020. Die Auswüchse dieser Förder­praxis: Von den 14 Millionen Euro Corona-Verleih­hilfe gehen über 60 Prozent an nur fünf Verleiher, darunter die Big Player Constantin (sechs geför­derte Titel), Leonine (ehemals Universum, sechs Titel), Warner (vier Titel). Die unab­hän­gigen Verleiher, von denen es um die vierzig in Deutsch­land gibt, werden nicht bedacht.
Was vom Kino übrig bleibt, wenn die kleinen Verleiher verschwinden, wird sich zeigen. Stichwort: Mono­kultur.

Couch­po­ta­toes

Was bleibt dem frus­trierten Zuschauer dann noch anderes übrig, als sich aufs Sofa zurück­zu­ziehen und zu streamen? Wer aber im Wohn­zimmer Filme sieht, ist kein »Publikum« (zu dem es die Teilnahme am öffent­li­chen Leben braucht), sondern je nach Eigen­de­fi­ni­tion selbst­be­stimmter Indi­vi­dua­list, reali­täts­ver­wei­gernder Slacker oder gemüt­li­cher Couch­po­tato. Die Schrump­fung der Kino-Nomaden zu Sofa-Monaden jedoch vernichtet die Diskurs­zu­sam­men­hänge. Jeder sieht, was er mag, meist immer das Gleiche und jeder etwas anderes. Filme werden für das Strea­ming­an­gebot algo­rith­mi­siert oder verschwinden im Nirwana des endlosen digitalen Raums.

Die Reaktion auf die Orien­tie­rungs­lo­sig­keit des Zuschauers lässt nicht auf sich warten. Netflix besinnt sich auf die Vorzüge des linearen Fern­se­hens und startete im November in Frank­reich ein Pilot­pro­jekt mit dem Ziel, der »tyranny of choice« ein Ende zu bereiten und auf Filme aufmerksam zu machen, auf die die Abon­nenten oder Algo­rithmen selbst nicht kommen. Das »Direct« genannte lineare Angebot sei »a good option for viewers and takes nothing away from on-demand viewing«, heißt es.

Es gibt aber auch Geschäfts­ideen, die nicht an der Mechanik des Streamens schrauben, sondern lieber gleich die Kinos ausschalten. Disney+ will künftig den Kinostart gänzlich über­springen und durch eine Direct-to-Consumer-Strategie ersetzen. Warner Bros. will immerhin an der Kino­aus­wer­tung fest­halten, das Kinofenster aber dennoch schließen: Filme würden dann zeit­gleich im Kino und auf der unter­neh­mens­ei­genen Strea­ming­platt­form HBO Max starten. Denis Ville­neuve, dessen Dune betroffen ist, schießt gegen Warner Bros., vor allem aber gegen die Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­firma AT&T, die seit 2018 die Geschicke von Warner bestimmt: »Warner Bros.’ sudden reversal from being a legacy home for filmma­kers to the new era of complete disregard draws a clear line for me. Filmma­king is a colla­bo­ra­tion, reliant on the mutual trust of team work and Warner Bros. has declared they are no longer on the same team.«
Universal Pictures will die Exklu­siv­aus­wer­tung in den Kinos auf zwei Wochen verkürzen. Netflix, das ebenfalls eine kurze Kino­aus­wer­tung seines Film­an­ge­bots gewährt (siehe unser Interview), steht im Vergleich plötzlich gar nicht mehr so schlecht da.

Je länger die Kinos geschlossen sind, desto mehr gewöhnen wir uns daran, Filme zu streamen. Netflix, Amazon Prime, Disney+, Apple und Sky erfreuen sich seit Corona-Beginn über steigende Abon­nen­ten­zahlen. Das Problem: Hier fließt das Geld in die Tasche einzelner Unter­nehmen, die teilweise keine Abgaben an die FFA oder gar Steuern zahlen. Couch­po­ta­toes unter­stützen damit nicht nur die Groß­kon­zerne, sondern schwächen zusätz­lich die örtlichen Struk­turen.

Image damage

Die behörd­li­chen Maßnahmen und unbe­dachte Äuße­rungen von Wissen­schaft­lern führten zusätz­lich zu einer Verun­si­che­rung des Publikums, das in Anbe­tracht der getrof­fenen Corona-Hoch­si­cher­heits­maß­nahmen den Kino- und Thea­ter­raum als besonders gefähr­lich wahrnimmt.

Studien, die für die Kultur positive Ergeb­nisse liefern, werden in der Öffent­lich­keit kaum publi­ziert oder debat­tiert. So blieb die Studie über die Risi­ko­be­wer­tung von Aerosolen in Alltags­si­tua­tionen, darunter auch in Kinos, des auf Luft­strö­mungen spezia­li­sierten unab­hän­gigen Hermann-Rietschel-Instituts an der TU Berlin von der Politik unbe­achtet. Ein Tag im Büro oder das Zusam­men­sitzen im Wohn­zimmer ist gemäß der Studie gefähr­li­cher als ein Kino­be­such. Auch der für die Kunst erfreu­lich verlau­fene sechs­wöchige Pilot­ver­such an der Baye­ri­schen Staats­oper, der eine Saal-Auslas­tung von 500 mit Maske bewehrten Opern­be­su­chern zuließ (statt 200), ohne dass es zu einem »Infek­ti­ons­ge­schehen« kam, wurde von der Politik nicht kommen­tiert.

Trotz nach­ge­wiesen unwahr­schein­li­cher Infek­tionen blieben die Leute verun­si­chert dem Kino fern. Den Grund liefert die FFA-Studie mit bezeich­nender Formu­lie­rung: Die Menschen fühlen »ange­sichts bestehender (!) Infek­ti­ons­ri­siken Unbehagen, mit einer größeren Gruppe unbe­kannter Personen längere Zeit in einem geschlos­senen Raum zu verbringen«. Dies treffe vor allem auf Risi­ko­gruppen zu. Eigene Erfah­rungs­werte aber haben anderes ergeben: Rüstige Rentner*innen sind weiterhin unter­neh­mungs­lustig und gehen nach wie vor ins Kino, Theater oder in die Konzertsäle. Die mittlere Alters­gruppe – womöglich mit Eltern im Risi­ko­alter – ist hingegen beim Besuch von Kinos auffal­lend zurück­hal­tend und auch sonst im persön­li­chen Kontakt besonders vorsichtig. Dabei handelt es sich um aufge­klärte Menschen und sogar selbst­er­nannte Freunde des Kinos. Mit dem mittleren Alters­seg­ment, das dem Kino fern­bleibt, bricht aber genau die Genera­tion weg, die beides kann: Noch Kino und schon streamen.

Ungerecht und praxis­fern

Viele der Maßnahmen wurden getroffen, ohne überhaupt Kenntnis über die realen Gege­ben­heiten der Kultur zu haben. Zum Beispiel gehen die Novem­ber­hilfen am azykli­schen Agieren der Verleiher vorbei, die ihre Kampagnen bereits Monate vorher anschieben. Nach Auffas­sung der Politik handeln die Kultur­schaf­fenden wohl ausschließ­lich spontan und kurz­sichtig, weshalb man ihnen auch kurz­fristig den Hahn zu- und wieder aufdreht. Ange­sichts solcher Fehl­an­nahmen werden die Stimmen lauter, die der Politik – trotz augen­schein­lich groß­zü­giger Maßnahme­pa­kete – grund­le­gendes Versagen beschei­nigen. Es herrscht Unkenntnis über das Wirt­schaften einer ganzen Branche, die beharr­lich vorge­tra­genen Forde­rungen von Fach­gre­mien und Verbänden werden stoisch ignoriert.

»Die Politik muss praxis­nahe Mittel und Wege finden, die Kino­branche zu unter­stützen – mit einem Hilfs­paket, das die indi­vi­du­elle Situation der Betrof­fenen abbildet«, schreibt Grandfilm in seinem Brand­brief anläss­lich des Kultur-Lockdowns im November 2020. Auch die Kino­be­treiber stufen die Maßnahmen der Politik als weltfremd ein. In Bayern kündigten sie ein juris­ti­sches Normen­kon­troll­ver­fahren an, weil die Politik nicht sach­ge­recht agiere. Mehrfach wurden Planungs­si­cher­heit und ange­mes­sene Zeiträume für die Wiedereröff­nung angemahnt – zuletzt auch von Christine Berg, Spre­cherin des Haupt­ver­bands deutscher Kinos. »Wir hoffen auf das nächste Jahr. Dafür brauchen wir jetzt wirklich plan­ba­rere Öffnungen. Da muss die Politik ran, damit wir auch ein bisschen wissen, was das Jahr 2021 zumindest in den ersten drei, vier Monaten bringen wird.«

Statt­dessen agieren die Politiker weiterhin im kopflosen und intui­tiven Hopp­la­hopp- und Hauruck­ver­fahren. »Auf Sicht fahren« nennen sie das. Während die Fahrt aber trotz Corona-Nebel weiter­geht, gefähr­liche Kurven nimmt und sogar Crashs drohen.

Musea­li­sie­rung oder Thea­tra­li­sie­rung

Gegen das Verschwinden der Kinos steht seit längerem die Subven­tio­nie­rung der Kinos nach dem Vorbild der öffent­lich geför­derten Theater im Raum. Dazu müssten bestimmte kultu­relle Kriterien erfüllt werden, wie beispiels­weise Filme im Original oder unter­re­prä­sen­tierter Film­na­tionen zu zeigen, besondere Film­ver­an­stal­tungen abzu­halten, also Maßnahmen aufzu­bieten, die dazu geeignet sind, das Kino aus dem reinen Unter­hal­tungs­be­reich heraus­zu­schälen und der Kultur und Bildung zuzu­schlagen. Eine Subven­tio­nie­rung des Spiel­be­triebs würde die Kino­be­treiber aus dem kommer­zi­ellen Druck entlassen, könnte sie zu Kuratoren und Kultur­be­trei­bern machen.

Viel zu Wort kam in den letzten Monaten auch Lars Henrik Gass, Leiter der Kurz­film­tage Ober­hausen und Ex-Vorstands­mit­glied des Bundes­ver­bands Kommunale Film­ar­beit, mit seiner Idee, das Kino zu »musea­li­sieren«. Auch er spricht davon, die Abspiel­stätten zu subven­tio­nieren, außerdem die Film­för­de­rung von der Kino­aus­wer­tung zu entkop­peln und damit die eng verzahnte Film­wirt­schaft in ihren Bereichen unab­hän­giger zu machen, außerdem »Kine­ma­theken« in den Städten einzu­richten.

Der Musea­li­sie­rung hängt aller­dings auch immer die Mumi­fi­zie­rung an und Filme wie tote Materie zu zeigen, der der Kultus abhanden gekommen ist. »Les statues meurent aussi«, mahnte Alain Resnais 1953 in seinem gleich­na­migen Filmessay, auch Statuen können sterben, und zwar, wenn sie im Museum einge­schlossen werden.

Eine »Thea­tra­li­sie­rung« der Kinos hingegen würde die Theater zum Vorbild nehmen und die Abspiel­stätten in leben­digen Auffüh­rungen und Publi­kums­be­geg­nungen dyna­mi­sieren. Das klingt in unseren Ohren besser, auch wenn am Ende vermut­lich ähnliches gemeint ist.

Oder Virtua­li­sie­rung?

Eine andere Idee ist die der Virtua­li­sie­rung des Kinos, die bereits voran­schreitet. Gegenüber der Musea­li­sie­rung (oder Thea­tra­li­sie­rung) passt sich das Kino in diesem Modell an die neuen medialen Gege­ben­heiten an, die Entwick­lung erscheint deshalb so zeitgemäß. Mit dem ersten Shutdown gingen einzelne Verleiher prompt zum Streamen über und bieten seitdem ausge­wählte Filme online an. Ein Vorreiter war Eksystent, Grandfilm zog nach, Rise and Shine folgte. Dropout Cinema entwi­ckelte das Konzept des »Virtual Cinema« und zeigte After Midnight online – und im Kino.

Ziel war, den Big Streamern nicht das Feld zu über­lassen, aber auch vergan­gene Verleih­ar­beit sichtbar zu machen, und nebenbei die Kinos durch eine Gewinn­be­tei­li­gung zu unter­stützen. Auch Kine­ma­theken streamen heute Filme aus ihrem Bestand, wie das Film­mu­seum München und das Arsenal Institut Berlin mit seinem Saal »arsenal 3«. Der »dritte« Kinosaal scheint sich ohnehin als Begriff für die Virtua­li­sie­rung des Kinos zu etablieren. So hat auch das Filmhaus Nürnberg seinen virtu­ellen Kinobe­reich »Kino 3« genannt.

Der Haupt­ver­band Cine­philie plant außerdem die Strea­ming­platt­form »Cine­mal­overs«, die von den Kinos gemeinsam betrieben werden soll. Parallel zum Kino­be­trieb wird in diesem Modell ein ergän­zendes Programm kuratiert, das kultu­relle Tiefe und rand­s­tän­dige Filme – als diverser Gegen­ent­wurf zur sich eventuell anbah­nenden Mono­kultur – garan­tiert. Ob der Kampf um die schluss­end­lich begrenzte Aufmerk­sam­keit des virtu­ellen Netz­pu­bli­kums gelingt, wird sich wohl erst am Ende des Jahr­zehnts zeigen.

Bis es soweit ist, gehen wir ins Kino. Sofern es wieder möglich ist.
Wir wünschen dem Kino ein gutes, neues Jahrzehnt.