24.12.2020

Sexyness, Saftigkeit und Sünde

Mr Bean
Kopflos an Weihnachten: Merry Christmas, Mr. Bean
(Foto: Universal Pictures)

Truthähne, Hackbällchen, das Brodeln unter der Haut und schweinische Freundschaften: Überlegungen zu Fleisch im Kino, ein Serviervorschlag pünktlich zum Weihnachtsfest

Von Anne Küper

Es ist Weih­nachten, und Mr. Bean stopft einen Truthahn. Irgend­wann verliert er dabei seine Uhr, sodass er den hinein­ge­packten Gemü­se­brei wieder heraus­holen und zur Taschen­lampe greifen muss. Gemäß einer gynä­ko­lo­gi­schen Unter­su­chung leuchtet er zwischen die rosa­far­benen Schenkel, starrt ange­strengt auf das, was zwischen den Beinen des toten Tieres liegt. Mr. Bean reißt den Schlund, in den er zuvor noch den Gemü­se­brei packte, weit auf, immer weiter, bis sein Kopf schließ­lich auf der Suche nach der verlo­renen Zeit dort verschwindet und stecken bleibt. Als es an der Türe klingelt, schmeißt sich der Truthahn mit Beinen ein Handtuch über. »Sorry, just doing my hair«, stammelt er Richtung Freundin Irma, als sie eintritt und er zurück in die Küche stolpert. Vorfreudig ruft die hungrige Irma aus dem Wohn­zimmer: »Have you got the turkey on?« Das Trut­hahn­wesen hinter ihr kann nur nicken.

Die unfrei­wil­lige Verbin­dung von Mensch und Tier, die sich in »Merry Christmas, Mr. Bean« (Folge 7 der Serie »Mr. Bean«, 1992) vollzieht, ist nicht nur eine meiner zentralen Erin­ne­rungen an das Fern­seh­schauen mit der Familie in den Weih­nachts­tagen; sie ist eine der vielen medialen Darstel­lungen in Serien und Filmen, in denen Fleisch zum promi­nenten Spiel­partner wird. Als bestän­diges Motiv zieht sich Fleisch durch eine Geschichte der Filmkunst, bildet doch das mensch­liche Subjekt mitsamt Leib ihren Mittel­punkt. Hier schauen bewegte Körper auf bewegte Körper, die dem Kamera-Auge zum Fraß vorge­worfen werden. Dabei werden über Kino-Fleisch spezi­fi­sche Diskurse ausge­tragen, denen es sich gerade in ihrer Bündelung nach­zu­gehen lohnt: Sexyness, Saftig­keit und Sünde; die vermeint­liche Trennung von Körper und Seele; Leiden und Gewalt (um frei­zu­legen, was unter der Hülle passiert). Insbe­son­dere aber die Beziehung von Mensch und Tier wohnt der Frage nach dem Fleisch inne. All ihre Insze­nie­rungen verweisen auf die Parameter, mit denen gesell­schaft­lich auf Haut, Knochen und Klumpen geschaut wird. Über­le­gungen zum Kino-Fleisch anzu­stellen heißt also zugleich, über Geschmack, Ekel und Ethik nach­zu­denken. Bon appétit!

Als kalte Vorspeise: Die Schau­spiel­masse Nina Hoss

Es ist Ina Weisses Drama Das Vorspiel (2019), das meine Erin­ne­rung an den beschrie­benen Sketch aus Mr. Bean aufleben lässt, obgleich es in Weisses Film weniger zu lachen gibt. Anna (Nina Hoss) arbeitet als Geigen­leh­rerin an einem Berliner Konser­va­to­rium und nimmt sich des Zöglings Alexander (Ilja Monti) an. In dem Eifer, den Jungen auf seine wichtige Prüfung vorzu­be­reiten, verliert Anna den Blick für ihren Ehemann und den gemein­samen Sohn Jonas (Serafin Mishiev), der zunehmend neidisch auf Musikus Alexander wird und um die Aufmerk­sam­keit seiner Mutter kämpft. Immer wieder wird im Laufe von Das Vorspiel Fleisch bear­beitet: Rillette wird geknetet, Hähnchen gebraten, eine Affäre mit dem netten Kollegen aus der Musik­schule (Jens Albinus) ange­fangen und ordent­lich rumge­knutscht. Dem unwil­ligen Geigen­schüler schnallt Anna mithilfe eines Gürtels Gewichte an die Schultern, um dessen Positur zu korri­gieren. »Es kommt darauf an, dass du dir die Töne vorstellst, bevor du sie spielst«, hatte sie in einer der vorhe­rigen Unter­richts­stunden noch zu ihm gesagt, »letztlich ist das Üben dazu da, damit das Stück in deinen Körper kommt.« Nun diszi­pli­niert Anna die Kompo­si­tionen in den Körper hinein. Gewalt gehört in Weisses Film zur Fami­li­en­tra­di­tion. Als Sohn Jonas die Ameisen im Garten ärgert, drückt Annas Vater (Thomas Thieme) dessen Hand in den Amei­sen­haufen. Nur so lerne der Junge, erklärt der Vater seiner wütenden Tochter, die solche Methoden in ihrer Kindheit vermut­lich auch erleben musste. Indes kommen am Esstisch dennoch alle zusammen. Immer wieder.

Die ausge­stellte Fleisch­lich­keit, die Das Vorspiel auszeichnet, fällt im Film in ein Milieu ein, das diese Beschaf­fen­heit eigent­lich negiert; ein bürger­li­ches Char­lot­ten­burg, in dem alle irgendwie was mit Kunst zu tun haben und aus dessen Poren das Credo »Ich esse nur sehr wenig Fleisch, und wenn, dann nur Bio, und wo ich weiß, woher es kommt« trieft. So macht Weisse anhand der kulti­vierten Reser­viert­heit der Konser­va­to­riums-Kulisse und der Konfron­ta­tion mit eigenen wie fremden Körpern den Habitus einer intel­lek­tu­ellen Klasse sichtbar. Mit von der Partie ist die Schau­spiel­masse Nina Hoss, ein purer Präsenz-Haufen, umgeben von einer schüt­zenden Hülle, unter der etwas brodelt, pocht, vor sich geht, was gele­gent­lich seinen Weg ins Freie findet. Die Petzold­sche Schau­spiel-Statue Hoss wird bei Weisse zum Austra­gungsort für den Konflikt des Inneren und Äußeren, der sich in dem Willen, sich selbst zu spüren, und der Lust an der Kontakt­im­pro­vi­sa­tion arti­ku­liert. In seinem Umgang mit Essen erzählt Das Vorspiel über Praktiken des Zube­rei­tens und des Speisens Verhält­nisse fami­liärer Nähe; durch Nahrung, das Warten auf sie und die ritu­al­hafte Einnahme wird diese Gemein­schaft erst herge­stellt. Geschlech­ter­ver­hält­nisse schreiben sich in ihr fort, obgleich Weisse sie zu verschieben probiert: Meist steht in der bröckelnden Ehe Instru­men­ten­bauer Philippe (Simon Abkarian) hinter dem Herd. Er jagt und sammelt sich durch den Super­markt, während Gattin Anna musiziert. Am Coq au vin mate­ria­li­siert sich die Unver­ein­bar­keit von Beruf und Familie, die Anna so vehement über­winden will.

Auf ein saures Sorbet und einen Blick zurück mit Georges Méliès

Apropos weibliche Körper: Wer wird im Kino eigent­lich von wem für wen zube­reitet und serviert? Zur Zeit seines Erschei­nens war Après le bal, der eine einfache Antwort auf die vorherige Frage subver­tiert, ein wasch­echter Skandal. Der kurze Stummfilm des Expe­ri­men­tal­künst­lers und Pioniers der Stop-Motion-Technik Georges Méliès von 1897 zeigt Dienerin Jane Brady, die Jeanne d’Alcy bei alltä­g­li­chen Hand­lungen wie Ausziehen, Baden und Abtrocknen behilf­lich ist. Routi­niert schält sie die Figur aus den Klamotten, die Hand­griffe sitzen. Après le bal ist lustvolle Demons­tra­tion eines Dienst­leis­tungs­ver­hält­nisses, ganz im Sinne eines cinema of attrac­tion. Ein necki­scher Blick wird von der gewa­schenen Frau in Richtung der Kamera geworfen.

Der auf YouTube verfüg­bare Kurzfilm gilt als einer der ersten Filme mit einer Nackt­szene in der Geschichte des Kinos – wobei die Darstel­lerin d’Alcy nicht wirklich nackt ist, trägt sie doch einen fleisch­far­benen Bodysuit. Auch das Wasser, das hier verwendet wird, verwan­delt sich mit einem zweiten Blick auf die bewegten Bilder in Sand. Méliès’ Interesse an der Erzeugung von Sinnes­täu­schungen, das in seinem stark rezi­pierten Science-Fiction-Film Le voyage dans la lune (1902) prominent ist, wird schon in Après le bal ersicht­lich. Doku­men­ta­ri­sches und fiktives Material sind in diesem Fall nicht eindeutig zu trennen. Über das Spiel mit Illusion und Nacktheit sowie den Erwar­tungen der Zuschau­enden spiegelt Méliès einen Blick zurück und lässt ihn reflexiv werden. Après le bal fragt über das scheinbar Entblößte danach, was wir sehen, wenn wir auf Fleisch sehen.

Zum Hauptgang: Über­setztes Elend bei Bong Joon-ho

Dennoch ist Fleisch im Kino nicht nur an den humanen Körper gebunden, sondern unab­dingbar an die Beziehung zu Tieren geknüpft, von denen sich der Mensch als selbst­er­nannte Krone der Schöpfung abheben will. Während in Das Vorspiel schon eifrig gebraten und zube­reitet wird, streitet Anna mit ihrem eifer­süch­tigen Söhnchen über das Schlachten von Schwein­chen, deren Stückchen er zum Abend­essen dann doch ganz gerne isst. In Das Vorspiel wird konsu­miert; Bong Joon-hos Okja (2017) wiederum konzen­triert sich auf die Produk­tion von Vieh, das zur Tötung frei­ge­geben werden soll. Bong entwirft eine Welt in knalligen Farben, durch die Tilda Swinton, Jake Gyllen­haal und Paul Dano wüten. Prot­ago­nistin ist das kleine Mädchen Mija (Ahn Seo-hyeon), das zusammen mit dem Großvater in den Bergen Südkoreas lebt und eine Mischung aus Nilpferd und Schwein, eine Art »Hippo-Schwein«, betreut: Okja, das eigent­lich der Miranda Corpo­ra­tion gehört, genma­ni­pu­liert ist und im Zuge einer Werbe­kam­pagne an Mijas Opa gegeben wurde, um die optimale Haltung des super pig zu erfor­schen.

Mädchen und Schwein freunden sich an, werden aller­dings von der über­mäch­tigen Firma unter Leitung von Lucy Mirando (Swinton) getrennt. Bei den folgenden Befrei­ungs­ver­su­chen in Seoul stößt Mija auf Mitglieder der Animal Libe­ra­tion Front, die sie unter­stützen wollen. Zugleich sind es eben jene jungen Enga­gierten, die Mija und Okja für ihre öffent­lich­keits­wirk­samen Tier­schutz-Zwecke instru­men­ta­li­sieren – ebenso wie die Mirando Company, deren eco-friendly campaign sich nicht mit den Social-Media-Bildern verträgt, auf denen Schwein und Mädchen ange­griffen werden. Okja ist Propa­gan­da­film im besten Sinne, stellt die Proble­matik der Fleisch­in­dus­trie zur Schau und von Menschen, denen es egal ist, was sie essen, so lange es »fucking good« schmeckt. Nach­hal­tiger Konsum scheint in Bongs Film möglich, wenn eine empa­thi­sche Gesell­schaft sich denn dafür entscheiden würde. Dabei stehen Natur und Kultur nicht in Oppo­si­tion zuein­ander. Natur kann bei Bong ausschließ­lich als über­formter Rest auftreten, in den sich Tech­no­lo­gien einge­schrieben haben. Es ist der Kapi­ta­lismus, gegen den der Regisseur und seine mensch­liche, Greta-Thunberg-artige Prot­ago­nistin in Okja kämpfen. Und es ist der Kapi­ta­lismus, der ein filmi­sches wie poli­ti­sches Happy End verhin­dert, weil er mit der Idee des nach­hal­tigen Konsums schlichtweg nicht vereinbar ist.

»Jetzt muss ich nur noch heraus­finden, wo ich hingehöre«, seufzt einmal das Ferkel in Ein Schwein­chen namens Babe (1995). In Okja können die Tiere nicht sprechen, obwohl das super pig gele­gent­lich an Mijas Ohrmu­schel klebt, als würde es ihr ein Geheimnis zuflüs­tern. Im Gegensatz zu Chris Noonans Fami­li­en­film sind in Bongs Satire die nicht­mensch­li­chen Akteure animiert. Mit der Abstrak­tion, die das verspricht, geht der Film insofern um, als er sich der Gattung des Märchens bedient. Auf der Schlacht­bank landen die Säue und Eber am Ende aber trotzdem. Entgegen der Anima­ti­ons­abs­trak­tion sind diese Bilder nicht erträ­g­lich, sie sind nur versuchte, halbgare Über­set­zungen von Leid, deren Aufnahmen aus dem bekannt sind, was sich Wirk­lich­keit nennen lässt. Dabei ziehen sich Über­set­zung und ihr Miss­lingen als gestal­te­ri­sche Prin­zi­pien durch den ameri­ka­nisch-südko­rea­ni­schen Film, sodass Okja in aller Komple­xität auf eine ziemlich einfache, zeitlose Frage reduziert werden kann: Wie können wir uns verstän­digen, wenn wir unter­schied­liche Sprachen sprechen? Wie mitein­ander reden, wenn fressen töten heißt?

Das bitter­süße Dessert: Schwes­tern­schaft auf Blut

Das Duo aus Fressen und Moral, das das bekannte Zitat aus Brechts »Drei­gro­schen­oper« (1928; erstmals verfilmt bereits 1931 von Georg Wilhelm Pabst) pointiert, gibt eine Art Drama­turgie, eine Reihen­folge vor. Über ethische Fragen lässt sich dann nach­denken, wenn der Bauch voll­ge­schlagen ist. In Das Vorspiel wird gegessen und geprobt, bis Lieb­lings­schüler Alexander nicht mehr zur Prüfung erscheinen will; ein folgen­schwerer Verrat an der ehrgei­zigen Anna. Nach einem kurzen Auftritt, den Alexander mehr für sich als die unbe­liebte, einstige Lehrerin absol­viert, stellt ihm Rivale Jonas ein Bein. Alexander fällt die Treppe hinunter und bleibt mit körper­li­chen Einschrän­kungen zurück. Anna beob­achtet den Vorfall, gibt dem Sohnemann ihr leises Einver­ständnis. Beide gehen ein Bündnis ein, als sie im Anschluss Ehemann Philippe und der Mutter ihrer einstigen Konser­va­to­riums-Hoffnung nicht berichtet, was wirklich passiert ist. Am Ende erfolgt eine Rückkehr zur Bluts­ver­wandt­schaft und dem tätlichen Angriff. Fast hat das schon was Fried­li­ches. Fressen und Moral, ein ewiger Kreislauf, ein Zyklus, für den der Chronist Brecht einen Riecher hatte.

Es ist kein Stein, der die Geschichte in Raw (2016) ins Rollen bringt; ein Hack­bäll­chen verirrt sich in den Kartof­fel­brei von Justine (Garance Marillier) und weckt bei der 16-jährigen Vege­ta­rierin die Flei­sches­lust. Es wird nicht bei dem Hack­bäll­chen bleiben. Das Schawarma, die fettigen Burger-Pattys aus der Mensa und rohe Hühner­brüste können die Begierden der jungen Frau, die ein Studium der Vete­rinär­me­dizin aufnimmt, nur temporär stillen. Aufgrund seiner dras­ti­schen Aufnahmen von verletzten, blutenden Körpern und kanni­ba­li­schen Praktiken wurde der Gore-Film von Julia Ducournau medial hoch und runter bespro­chen. Auf dem Toronto Inter­na­tional Film Festival 2016 fielen zwei Zuschau­ende nach der Vorstel­lung in Ohnmacht, andere klagten über starke Übelkeit. Aller­dings bietet Raw für die Analyse Tieferes an als die klaf­fenden Wunden und Biss­spuren an seinem Personal, verbindet Horror mit einer Coming-of-Age-Erzählung, in der es sich bei einer ganzen Familie um ärzt­li­ches Fach­per­sonal handelt. Die hete­ro­nor­ma­tive, akade­mi­sche Klein­fa­milie als Alptraum: Raw haut ihn in die Pfanne.

Ehrgeiz und Leis­tungs­druck werden von den Eltern (beide strikt vege­ta­risch unterwegs) an Justine und ihre ältere Schwester Alexia (Ella Rumpf) weiter­ge­geben. Den Modus des perma­nenten Vergleichs fördert die Univer­sität als neoli­be­rale Konkur­renz­an­stalt bei den beiden Frauen weiter, ein Ort, an dem sich alle am liebsten gegen­seitig aufessen würden, um den eigenen Noten­schnitt zu heben. Derweil müssen im Studie­ren­den­wohn­heim ernied­ri­gende Initia­ti­ons­ri­tuale von Greenhorn Justine absol­viert werden: Sie isst eine Hasen­niere, wird mit Farbe über­gossen, lässt sich zusammen mit dem blonden Kommi­li­tonen in eine Abstell­kammer sperren und anfassen. In den engen Struk­turen von Familie und Hoch­schule ereignet sich in Ducour­naus Film die sexuelle Selbst­fin­dung der Prot­ago­nistin, die zusehends die Kontrolle über jegliche Triebe verliert. Der doppelte Fleisch­konsum (das Essen und das Ficken) als Metapher für Verfüh­rung, für das Lockende, das von den Eltern Verbotene, wird zum gewal­tigen und gewalt­tä­tigen eman­zi­pa­to­ri­schen Akt, der die blutige Schwes­tern­schaft von Justine und Alexia mitein­ander verbindet. Raw ist ein sinn­li­cher Film. Er vermit­telt, wie Schweiß und Flure in Wohn­heimen riechen, wie Lippen schmecken; und wie es sich anfühlt, sich endlich dort kratzen zu können, wo es juckt. In Ducour­naus Spiel­film­debüt entlädt sich etwas, das noch verdaut werden will.