17.12.2020

Jesus? Warum?

Das neue Evangelium
Revolte und Aufbruch: Das ganz neue Evangelium?
(Foto: Milo Rau)

Milo Raus Das Neue Evangelium

Von Rüdiger Suchsland

»Ich bin nicht gekommen um das Gesetz zu brechen, sondern um es zu erfüllen.« – Also sprach Jesus Christus.
Das Evan­ge­lium, diese »größte Geschichte aller Zeiten« – so war einmal der Titel eines »Sandalen«-Jesus-Films des Klas­si­schen Hollywood – wurde, nicht nur für die Weih­nachts­zeit, immer wieder verfilmt: Zum Beispiel von Pier Paolo Pasolini, aber auch von Mel Gibson.

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Aber wen inter­es­siert Jesus heute wirklich noch? Jenseits der Gläubigen? Und derer gibt es nicht viele, auch wenn sie in den Fern­sehräten sitzen, und über­pro­por­tional zu ihrer Bedeutung viel zu viel Achtung und Respekt genießen.

Aus der neuesten Reli­gi­ons­sta­tistik der »Forschungs­gruppe Welt­an­schau­ungen« geht hervor, dass 38,8 Prozent der Deutschen konfes­si­ons­frei sind. Die Christen sind zusammen genommen immer noch mehr. 27,1 Prozent Katho­liken plus 24,9 Prozent Protes­tanten ergeben 52 Prozent, wenn auch mit stark abneh­mender Tendenz. Allein 2019 verloren die Katho­liken und EKD über 800.000 Mitglieder – also mehr, als die fünft­größte deutsche Stadt Frankfurt Einwohner hat.
Über 92 Prozent aller Deutschen bleiben Gottes­diensten fern. Diese Daten zur »gelebten Religion« sind besonders inter­es­sant. Sie zeigen, dass nur 6,6 Millionen (7,9 Prozent) der in Deutsch­land lebenden Menschen als »prak­ti­zie­rende Gläubige« aller Reli­gi­ons­ge­mein­schaften – also nicht nur christ­li­cher!! – einzu­stufen sind.

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Also ein Jesus-Film? Das ist fast schon für sich Grund genug, nicht inter­es­siert zu sein.

Oder ist Jesus wie eine Shake­speare-Figur, ein Charakter, den man immer neu inter­pre­tieren und immer anders auslegen kann? Ein Charakter, vor dem man keine Ehrfurcht haben muss?
Oder ist Jesus eben doch etwas anderes, eine histo­ri­sche Ursprungs-Gestalt oder die Über­lie­fe­rung einer Zentral­figur des soge­nannten abend­län­di­schen Werte-Kosmos? Ist Jesus nicht eigent­lich immer auch Leit­kultur?
Und wenn dem so sein sollte – ist das wichtig?

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Jesus – warum?

Es ist ein Phänomen für sich, dass sich im Augen­blick im Kino die Jesus­ge­schichten mit schwarzen Charak­teren zu häufen scheinen. Auf der arte-Mediathek ist gerade der Film »Klagelied des Judas« zu sehen, der die Judas-Geschichte mit dem Bürger­krieg in Angola verwebt. Auf dem kommenden, leider nur online statt­fin­denden Festival Max-Ophüls-Preis wird mit Black Jesus von Luca Luccesi eröffnet.

Und auch der gern zitierte Leitsatz »Botschaften sollte man mit der Post verschi­cken!« – will sagen: ein Film braucht keine Botschaften – lässt sich hier nicht prak­ti­zieren. Jesus ist »besetzt«. Seine Botschaften und seine mora­li­sche Essenz scheinen fest­zu­stehen. Und welchen Sinn sollte es auch machen, das über­lie­ferte Jesus-Bild zu konter­ka­rieren?

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Aber wie könnte eine zeit­ge­mäße Verfil­mung, ein Jesus-Film, der ernst­ge­nommen werden will, heute aussehen?

Genügt es, die Frage zu beant­worten, was ein Jesus heute predigen würde, wenn er heute auf die Erde käme?
In Dosto­jew­skis-Großin­qui­sitor-Geschichte ist Jesus nicht inter­es­sant, sondern der Inqui­sitor. Sein Reich ist ganz von dieser Welt. Er ist wir.

Milo Rau, der zuletzt sehr präsente Schweizer Theater- und Film­re­gis­seur, versucht in seinem neuen Film mit all diesen Fragen und Fall­stri­cken umzugehen, ohne ihnen auszu­wei­chen. Das Unter­fangen glückt, fast ohne Einschrän­kung – obwohl ich glaube, dass er sich ganz andere Fragen gestellt hat als die hier skiz­zierten.
Rau erzählt in Das Neue Evan­ge­lium die bekannte Jesus-Geschichte aus dem Neuen Testament aufs Neue. Aber frag­men­ta­risch. Raus Film steht näher an Pasolini, weil er auf holly­woo­deske Drama­tur­gien verzichtet, und wie der katho­li­sche Marxist größ­ten­teils nicht mit profes­sio­nellen Schau­spie­lern, sondern mit Laien arbeitet, mit Schwarz­afri­ka­nern, die in Südita­lien in Lagern leben, teilweise illegal, und unter ziemlich prekären Bedin­gungen als Saison­ar­beiter. Sie pflücken Tomaten oder Orangen oder was sonst gerade da ist, und bekommen dafür 30 Euro – für sieben Stunden Arbeit. Von denen werden ihnen dann noch 5 Euro abgezogen für den Transport. Die pure Ausbeu­tung!
Was wir sehen, ist somit die Revolte der Armen, Ernied­rigten und Belei­digten.

Zugleich ist Das Neue Evan­ge­lium auch gar kein Jesus-Film, sondern dessen Über­ma­lung, ein Pastiche: Denn der reale Protest der afri­ka­ni­schen Migranten gegen die menschen­un­wür­digen Arbeits- und Lebens­ver­hält­nisse, ihr Kampf um Aner­ken­nung und Aufmerk­sam­keit sind in den Film inte­griert – wobei der Beob­achter im Unklaren gelassen wird, inwieweit die Dreh­ar­beiten eines inter­na­tional bekannten Regis­seurs auch zu Anlass und will­kom­mener Bühne für diese Proteste wurden.

Was wir sehen, ist also »echt«. Und viel­leicht nur durch diesen Film verur­sacht.

Allemal liegt dieser Bezug zur anti­au­to­ri­tären Rebellion des bibli­schen Jesus hier auf der Hand – ihn verstärkt noch eine Erzäh­ler­stimme, die einige präzis gewählte Stellen des Neuen Testa­ments zitiert, durch die Jesus zusätz­lich in seiner Rolle als Revo­lu­ti­onär und Partei­gänger aller Schwachen und Ausge­stoßenen hervor­ge­hoben wird.

Auch die Dreh­be­din­gungen und das Machen des Films, etwa das Casting oder die Loca­ti­on­wahl, sind in den Film inte­griert.

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»Das Neue Evan­ge­lium« ist also Spielfilm und er ist Filmessay und er ist sein eigenes Making-Off in einem. Diese Mischung überzeugt auch in ihrer Aktua­li­sie­rung der christ­li­chen Gesell­schafts­kritik. Mit seiner provo­ka­tiven Stärke und offenen Partei­nahme für die Schwächsten erinnert alles auch an die Werke Christoph Schlin­gen­siefs.

In seiner inter­dis­zi­plinären Mischung der Elemente, in der bewusst verfrem­deten und verfrem­denden, unge­ho­belten Über­schrei­tung der drei Gattungen Spielfilm, Doku­men­tar­film, Essayfilm ist dieser Film auch der erste Versuch eines, wenn man so will, post-kine­ma­to­gra­phi­schen und post-cine­philen Kinos; fast schon ein »Neues Evan­ge­lium« des Mediums.
Selten war jeden­falls ein Film so nahe dran an dem, wie ein Kinofilm der Zukunft aussehen könnte. Ob das aber nur eine gute Nachricht ist?

Am inter­es­san­testen ist der Film, wo seine Elemente offen zusam­men­stoßen, wo sie Brüche zeigen, wo die Film­dra­ma­turgie ächzt, oder Über­schrei­tungs- und Explo­ita­tion-Augen­blicke sichtbar werden. Wo der Film seine Form­ele­mente nicht verbirgt.

Das Neue Evan­ge­lium ist jetzt online zu sehen.