03.12.2020

Tatort Deutschland

Honorarfrei. Verwendung gemäß der AGB im engen inhaltlichen, redaktionellen Zusammenhang mit genannter NDR-Sendung bei NennungBild: NDR/TelePress, siehe https://tatort-fans.de/tatort-073-reifezeug
Einer der »Tatorts«, die Geschichte machten:  Reifezeugnis vom jungen Wolfgang Petersen
(Foto: NDR/TelePress)

Erstickt, erstochen, und vergiftet: Die 50 ersten Jahre von Deutschlands gesellschaftsbildender Krimi-Reihe sind vorüber

Von Rüdiger Suchsland

Nein, dies ist kein Kino. Aber ein Reservat des deutschen Genre­films, der im Kino nicht mehr statt­findet. Der »Tatort« ist Genre pur: Immer Krimi, manchmal Thriller, öfters auch Psycho-, selten Horror. Melodram meistens, Liebes­schnulze, oder Datemovie kaum, Komödie zu selten und zu gewollt. Aber jeden­falls Film. Der sogar mitunter im Kino gezeigt wird; oder auf Film­fes­ti­vals wie dem Filmfest München.
Zur Credit-Musik von Klaus Doldinger und im Faden­kreuz auf dem Bild­schirm gibt es inzwi­schen fast jeden Sonn­tag­abend nicht nur Krimi-Unter­hal­tung, sondern wie es Genrefilm ja grund­sätz­lich immer bedeutet, auch ein Stück weit Gesell­schafts­kritik und Kultur­ge­schichte.

Der »Tatort« ist auch ein Kulturort. Inzwi­schen ist der Tatort medi­en­funk­tional extrem wichtig. Er wird nicht nur gesehen, er wird nicht nur voran­ge­kün­digt, sondern er wird danach auch bewertet nach verschie­densten Kriterien. Er wird einge­ordnet in die Gesamt­ge­schichte des Tatorts, in die Einzel­nar­ra­tive der Städte, der Kommis­sare, der Mord-Geschichten. Es gibt »Tatort«-Rankings. Es gibt Fanclubs. Es gibt Börsen, wo der Mörder erraten werden kann. »Tatort« in dem Sinn ist Kult – ja so kann man es auch abtun. »Tatort« ist aber vor allem etwas, was den Alltag der Menschen relativ stark und wie kaum andere Fern­seh­sen­dungen beschäf­tigt. Ist der »Tatort« viel­leicht neben Fußball und bestimmten Nach­rich­ten­sen­dungen einer der letzten medial Orte des Gemein­sinns, des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halts und seiner Formung in Deutsch­land?
Insofern ist er ganz bestimmt auch ein Thema für ein Kultur­ma­gazin wie unseres.

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»Tatort« ist ein Gestalter der Lebens­ord­nung für Millionen von Menschen, genau wie Fußball. Er ordnet den Alltag – das immerhin ist der Vorteil jener »Tatort«-Inflation, die wir seit etwa 20 Jahren erleben.

Es gibt histo­ri­sche »Tatorts«, die Geschichte machten: Vor allem natürlich Reife­zeugnis vom jungen Wolfgang Petersen, der ist dann immerhin bis zum Hollywood-Regisseur gebracht hat – auch daran sieht man, dass die Übergänge zwischen Kino und Fernsehen beim »Tatort« fließend sind. In diesem Film hat Nastassja Kinski ihr Debüt.
Auch andere Filme oder Ermittler-Figuren sind bedeutend geworden. Man kann darum selbst­ver­ständ­lich »Tatort« im Rückblick als Kultur­ge­schichte der Bundes­re­pu­blik insbe­son­dere der 70er und 80er Jahre lesen, und zwar so dicht und abbild­rea­lis­tisch, wie man das mit den Filmen der gleichen Zeit nicht kann – übrigens im Unter­schied zum fran­zö­si­schen oder italie­ni­schen Kino. Denn das Kino des Neuen Deutschen Films, des Autoren-Films hat sich der Wirk­lich­keit West­deutsch­lands sehr oft auch da enthoben, wo es nicht Kostüm­film oder histo­ri­sches Pastiche war, wie etwa Die Ehe der Maria Braun oder Herzogs Filme. Sehr wenige Filme, die in den 70er Jahren fürs Kino gemacht wurden, zeigten so viel Abbild-Realität von West­deutsch­land wie der »Tatort«. Die verlorene Ehre der Katharina Blum tat es, Alice in den Städten, Deutsch­land im Herbst selbst­ver­ständ­lich auch – aber dies ist ein Doku­men­tar­film oder Essayfilm.
Aber sonst? Diese Filme sind aus anderen Gründen wichtig und sie haben viel­leicht genauso viel psycho­lo­gi­sche Wahrheit wie die »Tatorte«, oder wie in der ersten Hälfte der 70er Jahre auch die Filme der großar­tigen Reihe Der Kommissar, oder wie Stahlnetz in den 60ern. Haben sie mehr? Das möchte ich in Frage stellen.
Was der »Tatort« auf jeden Fall hat, das ist, dass er ein Psycho­gramm von Haltungen und Milieus vorführt. Schon in seinen Kommis­saren. Aber auch die Lehr­er­fa­milie in »Reife­zeugnis«. Damals waren es ja tatsäch­lich alles Männer. Und wahr­schein­lich ist »Tatort« für die Männer und den männ­li­chen Teil der Bundes­re­pu­blik noch verrä­te­ri­scher und auch präziser, genauer, diffe­ren­zierter, als für die Frau­en­fi­guren. Auch das ist eine ins Blaue hinein formu­lierte These, die ich selber noch einmal anhand der alten Filme über­prüfen müsste.
Aber ich glaube doch, dass wenn man einmal den Kommissar Veigl von Gustl Bayr­hammer und den Zoll­fahnder Kressin (gespielt von Sieghardt Rupp) und Hansjörg Felmy als Kommissar Haferkamp mitein­ander vergleicht, und deren Verhältnis zu Mitar­bei­tern, deren Privat­leben, dann findet man schon eine ziemliche Spann­breite.
Kommissar Haferkamp war schon für mich als Kind eine inter­es­sante Figur. Schon damals konnte man merken, dass hier ein – heute völlig unvor­stellbar – neuer lässiger Typ auftrat, der irgendwie anders war, nicht nur weil in seinem Leben das vorkam, was man aus der wirk­li­chen Welt kannte: Eine geschie­dene Frau! Sondern auch, weil er mit dieser Frau trotzdem ein gutes Verhältnis hatte, man sich nicht anschrie sondern mitein­ander redete, sogar freund­schaft­lich. Und weil diese Frau eine Gesprächs­part­nerin war, die auch inhalt­lich auf Augenhöhe etwas zu sagen hatte. Das haben wir in früheren Krimis sonst nicht und auch nicht in vielen Tatort Folgen dieses ersten Jahr­zehnts.

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Dann natürlich als Haferkamp abtrat, kam Schi­m­anski. Ein Typ in Schmud­del­jacke, der »Scheiße« sagt und Bier aus Dosen trinkt. Früher wurde im Dienst gesoffen und geraucht. Das fehlt.

An Reife­zeugnis erinnere ich mich. An Haferkamp. Veigl. Lenz. Dann Schi­m­anski. Mit Tanner.

Heute zeigen manche Filme dunkle Kapitel der Bundes­re­pu­blik. Manche sind ein Panorama oder eine Reflexion der gerade sicher eigenen Verhält­nisse. Alles ist möglich:
Zwischen dem Müns­te­raner Schmun­zeln, und Gesell­schafts­kritik ist alles drin. Manchmal domi­nieren zuletzt die Schau­spiel-Acts bestimmter Leute.

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Aber es gibt blinde Flecken: Poli­zei­ge­walt kommt kaum vor. Poli­zei­kor­rup­tion gar nicht. Rechts­ra­di­ka­lismus fehlt komplett. Migranten gibt es, aber sie sind selten Täter. Schwarze waren noch nie Täter.
Umgekehrt kann man am »Tatort« gut ablesen, was Konsens der Gesell­schaft ist. Der »Tatort« behauptet das Vorhan­den­sein einer welt­of­fenen, tole­ranten Gesell­schaft.

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Es gibt regel­rechte Lager-Kämpfe darum, wie expe­ri­men­tell ein Tatort eigent­lich sein darf, und wie konser­vativ er sein muss. Konser­vativ heißt in diesem Fall: Am Anfang muss es eine Leiche geben, und zwar ein Mordopfer, nicht etwa ein Selbst­mörder oder ein Unfalltod. Und am Ende einen Täter. Der Kommissar sollte weder Opfer noch Täter sein, sondern ermitteln.
In den letzten zehn Jahren, also etwa nach dem Ende der klas­si­schen Redak­tions-Garde, bilden sich die zunehmend jüngeren und denk­mal­s­tür­zend einge­stellten, unter Beweis­druck stehenden ARD-Tatort-Redak­tionen der Sender sehr viel darauf ein, »Tatorte« wie sie es nennen, »inter­es­santer«, »origi­neller«, »phan­ta­sie­rei­cher« zu machen. Das bedeutet vor allem, dass sie das klas­si­sche Schema des Tatorts brechen und expe­ri­men­tieren. Das kann man ja auch tun, warum nicht? Nur sollte der »Tatort« immer noch als »Tatort« erkennbar sei, scheint mir. Und wenn das Expe­ri­ment zur Regel wird, wenn der Normal­fall fast schon die Ausnahme ist, dann wird es anstren­gend.

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Trotzdem nennen manche die, die diese Expe­ri­mente nicht so cool finden, dann »Tatort«-Stali­nisten. Sie selbst sind dagegen offenbar »Tatort«-Dissi­denten, Anwälte eines »Tatort«-Tauwet­ters.
Aus meiner Perspek­tive ist stali­nis­tisch eher diese Wendung und das Miss­trauen gegen den Normal­fall, die ja vor allem von jenen geäußert wird, die mit dem klas­si­schen »Tatort« gar nicht soviel anfangen können, und einen »'Tatort' zweiter Ordnung« wollen. Das sind post­mo­derne Posi­tionen, die ex negativo verraten, dass der »Tatort« explizit ein Produkt der West­li­chen Moderne ist.

Die wahren Spießer sind dann jene, die sich für Hipster halten, mehr kenne­risch um das Drumherum reden, anstatt einfach einen strai­ghten Krimi zu schätzen, und sich von dessen Ober­flächen mitreißen zu lassen.

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Der Norma­lität im Fernsehen hat natürlich einen mehr­fa­chen Sinn. Da geht es nicht allein darum, Realität wider­zu­spie­geln oder gar zu reprä­sen­tieren, wie das auch neuer­dings besonders gern gewünscht wird, besonders gern von Menschen, die nicht wissen, wovon sie reden.
Es geht auch darum, so etwas wie einen Konsens zu fabri­zieren. Noam Chomsky nannte das »Manu­fac­tu­ring Consent«, und fand es natürlich ganz schön schlimm – sonst wäre er nicht Noam Chomsky. Aber genau das, Beru­hi­gung und eine bestimmte Form meinet­wegen spießigen Main­stream­ge­fühls ist der Sinn eines Tatorts und überhaupt eines Fern­seh­krimis. Stellen wir uns nur mal umgekehrt vor, Fern­seh­krimis würde Dissens fabri­zieren. Er würde die Gesell­schaft spalten. Wäre dies der Sinn der Sache? Wäre dies schön? Ich glaube nicht. Ich glaube, das würde das Fernsehen auch wirklich über­for­dern.

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Noch einen Satz, um zu begründen, warum ich weiter oben meinte, die Menschen, die Reprä­sen­ta­tion fordern, wüssten nicht, wovon sie reden. Wenn man nämlich wirklich Reprä­sen­ta­tion will, dann müsste man schon mal gleich mindes­tens die Hälfte aller weib­li­chen Kommis­sa­rinnen abschaffen. Denn Kommis­sa­rinnen gibt es zwar im deutschen Fernsehen, in der Wirk­lich­keit aber nicht. Jeden­falls längst nicht so viele, wie auf der Matt­scheibe.
Daran merkt man übriges auch, dass auf die symbo­li­sche Geste, und die »verstärkte Sicht­bar­keit«, wie das im Gender­main­streamig-Jargon genannt wird, keines­wegs die gesell­schaft­liche Verän­de­rung auf dem Fuß folgt. Ja, Karin Anselm und Nicole Heesters waren lange vor Ulrike Folkerts Pionie­rinnen als Fern­seh­kom­mis­sa­rinnen.
Auch hier wieder ist die Fernseh-Darstel­lung also keines­wegs ein Spiegel der Wirk­lich­keit, sondern es ist etwas, worauf sich die Gesell­schaft geeinigt hat – eine Konsens-Maschine.

Dies übrigens ist es genau, was außer mancher tech­ni­schen Qualität und der Größe des Bild­schirms bzw. der Leinwand das Fernsehen wirklich vom Kino unter­scheidet. Was der Grund ist, warum wir lieber ins Kino gehen: Das Fernsehen ist wie gesagt Konsens-Maschine, aber das Kino ist Dissens- und Irri­ta­tions- Maschine.
Und das ist auch gut so.