03.12.2020

Cinema = JLG = Cinema

Jean-Luc Godard in Berkeley, 1968
Jean-Luc Godard, ewig jung gebliebener Kinorevolutionär, in Berkeley, 1968
(Foto: Gary Stevens, CC BY 2.0)

Ein Suchender: Jean-Luc Godard, der heute 90 wird, ist der Weltgeist des Kinos

Von Rüdiger Suchsland

»Le Cinéma substitue à notre regard un monde qui s'accorde à nos désirs.«
JLG

Nach wie vor dreht Jean-Luc Godard Kinofilme, und zwar sehr wache zeit­genös­si­sche Werke – erst 2018 feierte sein vorerst letztes Werk Le livre d’image (»Das Buch des Bildes«) bei den Film­fest­spielen von Cannes Premiere. In über 70 Jahren seit seinen ersten Filmen und dem atem­be­rau­benden Debüt mit Außer Atem (1960) hat Godard scheinbar alles gemacht – an diesem Donnerstag nun wird er 90 Jahre alt – eine Würdigung dieses ewig jung geblie­benen Kino­re­vo­lu­ti­onärs.

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Viel­leicht doch Le mépris (»Die Verach­tung«; 1963), die in der Villa von Curzio Malaparte auf Capri gedreht wurde, in der der alte Fritz Lang als er selber seinen letzten Auftritt im Kino hat, in dem der Regisseur Jean-Luc Godard dessen Assis­tenten verkör­pert, in dem Brigitte Bardot und Michel Piccoli die Haupt­rollen spielen, einen Dreh­buch­autor und eine Schau­spie­lerin – viel­leicht ist dies Godards aller­schönster Film: Diese bitter­süße, wunder­schöne, traurige, melan­cho­li­sche Moravia-Verfil­mung, in sonnen­durch­flu­teten, farben­strah­lenden Bildern, die bei Godard zu einer Selbst­re­fle­xion des Filme­ma­chens wird, wie fast alle seine Filme, und dabei auch zum Manifest purer Schönheit.

Oder doch Die Außen­sei­ter­bande (1964), mit Godards damaliger Frau Anna Karina, nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal in seinen Filmen zwischen zwei Männern, Sami Frey und Claude Brasseur, ein mit Kino-Refe­renzen gespicktes, verspieltes Porträt urbaner Jugend. Oder eines seiner letzten Werke, jenen ungemein gedan­ken­rei­chen und doch erstaun­lich leichten, verständ­li­chen, musi­ka­lisch insze­nierten Essay­filmen wie Notre Musique (2004), Film Socia­lisme (2010) Adieu au langage (2014).

Um Schönheit geht es immer bei Godard, um Sinn­lich­keit, um filmische Bewegung und Asso­zia­ti­ons­kunst, nie – entgegen allen möglichen Vorur­teilen – um den reinen Intellekt oder um Besser­wis­serei: Godard ist vor allem ein Suchender geblieben, ein spie­le­risch tastender, expe­ri­men­tier­freu­diger Regisseur – das ist es wohl vor allem, was ihn jung hält, ihm bis heute Kraft gibt.

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Typisch deutsch ist es zum Beispiel, wie schon häufiger gehört, über Godard zu sagen: »Er ist ja eigent­lich Schweizer.« Um mit diesen Legenden ein für allemal aufzuräumen: Godard hat auch einen Schweizer Pass, ja. Seine Eltern sind Schweizer. Aber er ist Franzose, seit seiner Geburt bis heute. Denn er wurde 1930 in Paris geboren und in Frank­reich herrscht das jus solis, das bedeutet, dass jeder der in Frank­reich geboren ist, auto­ma­tisch die Staats­bür­ger­schaft hat. Noch etwas, wo sich die Deutschen eine Scheibe abschneiden könnten.

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»Ein Revo­lu­ti­onär« – so nennt ihn zutref­fend der Film­kri­tiker Bert Rebhandl in seiner schönen, anre­genden und wohltuend subjek­tiven Biogra­phie, die gerade im Zsolnay Verlag erschienen ist, und Godard in die Tradition der Romantik um 1800 und ihrer Idee einer »Univer­sal­poesie« stellt – ein span­nender Gedanke, den wir bei nächster Gele­gen­heit mal verfolgen wollen, der für mich so über­ra­schend war wie spontan einleuch­tend; wenn ich auch bei Godard mehr an Hegel denke. Viel­leicht ist eben das kein Wider­spruch, Godard besitzt nicht nur großes hand­werk­li­ches Können, ist viel­seitig, und hat Erfolg. Entschei­dender ist seine Fähigkeit zur Inno­va­tion, zur Erneue­rung des Mediums. Die Unbe­dingt­heit und Konse­quenz, mit der er vorgeht.
Vor allem aber besitzt er Virtuo­sität, also eine gewisse Eleganz und ein spie­le­ri­sches Verhältnis zu seinen Mitteln. Godard hat zudem wie nur ganz wenige auch die Fähigkeit, das was er tut, seinem Publikum zu vermit­teln, es auszu­drü­cken, und zu erläutern. Und wenn will, kann er sehr viel Charme haben und sehr gewinnend sein.
»Kino ist Wahrheit 24 mal in der Sekunde«; »Ein Film hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende – aber nicht notwendig in dieser Reihen­folge« – um einpräg­same Sprüche war er jeden­falls nie verlegen.

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Patricia (3x), Veronica, Angela, Nana, Monika, Natacha (2x), Paula, Hanna, Elena – die Namen der weib­li­chen Haupt­fi­guren in Godards Filmen enden meistens mit A.
Ausnahmen: Camille, Carmen, Isabelle (Huppert), Arielle (Détective) und ausge­rechnet Marie statt Maria in Je Vous Salue, Marie

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Godard hat das Kino gleich mehrfach revo­lu­tio­niert. Ende der 50er Jahre wurde er mit einigen meist gleich­alt­rigen Mitstrei­tern zum Begründer der Nouvelle Vague, der »Neuen Welle« Frank­reichs, die noch mehr als die gleich­zei­tigen Aufbruchs­be­we­gungen in anderen Ländern und die italie­ni­schen Neorea­listen 15 Jahre zuvor, zu einem zweiten Grün­dungsakt des Kinos wurde. Jetzt erst unter­schied sich das Kino Europas von Hollywood.
Godard gelang das, in dem er den Begriff des Autoren­films, der in der Theorie schon vorher formu­liert war, in die Praxis über­setzte und für die neuen tech­ni­schen Möglich­keiten (zum Beispiel leichtere Kameras) fruchtbar machte. Raus aus den dunklen Studios und einfach mit Freunden Filme machen, bei hellem Licht, in der Natur, mit Laien und doku­men­ta­ri­schen Elementen.
Der Hunger nach der Wirk­lich­keit paarte sich mit einem neuen Bewusst­sein für Film als Kulturgut und die Geschichte des Kinos, – Godard entdeckte Lubitsch und Lang, Chaplin und Keaton neu, feierte Zeit­ge­nossen wie Hitchcock und Preminger als »Autoren«. Auf einmal waren Filme nicht mehr nur die Fort­set­zung des Theaters mit anderen Mitteln – sondern sie handelten unmit­telbar vor der konkreten Realität der jungen Genera­tion der Nach­kriegs­zeit: Von ihren Sorgen, aber vor allem von ihren Träumen und Begierden, ihrer Mode und ihrer Musik. Die Kinder von Marx und Coca Cola – so heißt einer der Filme Godards, der mit One Plus One 1968 auch einen Doku­men­tar­film über die »Rolling Stones« gedreht hat. Es war eine Zeit des Aufbruchs, der Jugend, der Kultur­re­vo­lu­tion – und das Kino der Nouvelle Vague war ein Teil von alldem.
Godard hat das natürlich nicht allein gemacht. Aber er war Orien­tie­rungs­punkt und Führungs­figur, der »Leader of the Pack«.

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»Ein Film, der nicht im Kino gezeigt wird, existiert nicht.«
JLG

Er war tatsäch­lich auch derjenige Regisseur, der die einfalls­reichsten, inno­va­tivsten Mittel gebrauchte: eine völlig den Regeln wider­spre­chende – ruck­ar­tige, sprung­hafte – Montage und einen neuar­tigen Einsatz der Musik. Kino wurde plötzlich Teil der Pop-Kultur. Und zugleich wurde es intel­lek­tuell: Godards Themen, mit leichter Hand insze­niert, sind die Welt­ge­schichte, die Film­ge­schichte, Philo­so­phie, Psycho­logie, Sozio­logie. Schließ­lich war Godard immer schon ein sehr selbst­kri­ti­scher, mit sich hadernder Filme­ma­cher, einer, der sich mit jedem Film selber neu erfand. Nur dem Kino vertraut er – seiner Fähigkeit, nicht nur Spektakel zu sein, sondern das Gewesene unver­fälscht zu bewahren, und dabei doch immer zu über­schreiten.

Darum hat Godards über 70-jährige Karriere mindes­tens fünf große Phasen: Zuerst das unter­halt­same, trotzdem anspruchs­volle, von Amerika und der Pop-Kultur und dem Genrekino beein­flusste klas­si­sche Autoren­kino der »Nouvelle Vague« mit Filmen wie A Außer AtemDie Außen­sei­ter­bande, Die Verach­tung. Dann eine Phase des politisch »revo­lu­ti­onären« Films, in der sich Godard der »Gruppe Dziga Vertov« anschloß und Kollek­tiv­filme machte – in der doch er immer der Regisseur Godard blieb: Filme wie Die fröhliche Wissen­schaft.
Dann die Zeit der Selbst­be­sin­nung Mitte der Siebziger, der Arbeit mit Video, und der Rückkehr zum Erzähl­kino: Rette sich, wer kann (das Leben), Vorname Carmen, Détective.
Es folgte ein Jahrzehnt der histo­ri­sche Refle­xionen wie Deutsch­land Neu(n) NullJe vous salue, Sarajevo und die monu­men­tale Histoire(s) du Cinéma.
Und schließ­lich in den letzten 20 Jahren viel­schich­tige KinoEs­says und Monta­ge­filme: Éloge de l’amourNotre Musique, Film Socia­lisme, Adieu au langage, Le livre d’image.
Dazwi­schen probierte Godard Medien wie Video und 3-D – und bleib der Revo­lu­ti­onär, Provo­ka­teur und uner­müd­liche Anreger, als der er begann. Und Godard hat immer Godard-Filme gemacht.

Heute ist Godard Seele und Weltgeist der Kinokunst, der beste lebende Regisseur. Wer sollte es sonst sein, wenn nicht er? Es gibt viele sehr gute Regis­seure, aber es gibt keinen zweiten Godard.

Buch­hin­weise:
Bert Rebhandl: »Jean-Luc Godard. Der perma­nente Revo­lu­ti­onär. Biografie«; Zsolnay-Verlag, 2020
288 Seiten; 25 Euro

Gerhart Schneider/ Andreas Hamburger, u.a. (Hg.): »Jean-Luc Godard. Denkende Bilder«; Psycho­so­zial Verlag. Gießen 2020 [Reihe: Im Dialog: Psycho­ana­lyse und Film­theorie]