26.11.2020

Der andere Blick

Aku, Kau & Kua
Aku, Kau & Kua aus der Sektion »Relax it’s just religion«
(Foto: Madani Film Festival)

Auch die gerade angelaufene dritte Ausgabe des indonesischen Madani Film Festivals zeigt die überbordende Kreativät von Programmern und Festivalleitung, den Islam in seiner ganzen Komplexität darzustellen – ein so hochpolitisch wie hochsympathisches und wichtiges Unterfangen

Von Axel Timo Purr

Dass die Zukunft viel­leicht gar nicht mehr in Europa, sondern in Asien statt­finden wird, dafür gab es erst Mitte November wieder deutliche Anzeichen, als zehn ASEAN und fünf weiteren Staaten der Region Asien-Pazifik die Verträge zur größten Frei­han­dels­zone der Welt, der RCEP, unter­schrieben. Was die welt­wirt­schaft­liche Rollen­ver­tei­lung in naher Zukunft nach­haltig verändern dürfte, hat im kultu­rellen Bereich schon einige Zeit vor dieser Vertrags­un­ter­zeich­nung begonnen. Man denke nur an die Einladung an das indo­ne­si­sche Künst­ler­kol­lektiv Ruangrupa, die Documenta15 zu kura­tieren oder die zuneh­mende Bedeutung Chinas für Hollywood in den letzten Jahren, die sich an Groß­pro­duk­tionen wie Smallfoot oder Everest – Ein Yeti will hoch hinaus fast schon furcht­ein­flößend gut ablesen lässt.

Furcht­ein­flößend in diesem Kontext ist für viele Beob­achter aus dem Westen aber nicht nur die natio­na­lis­ti­sche, die ganze Welt unter­jo­chen wollende Partei­dik­tatur Chinas, sondern auch der »wild« gras­sie­rende, sich scheinbar zunehmend radi­ka­li­sie­rende Islam in euro­päi­schen Ballungs­zen­tren und einigen afro-asia­ti­schen Regionen. Wie limitiert diese Sicht­weise ist bzw. wie komplex ein reli­giöser Kultur­raum wie der des Islam sein kann, zeigen nicht nur lite­ra­ri­sche Veröf­fent­li­chungen wie Leila Aboulelas gerade ins Deutsche über­setzter Roman »Minarett«, die so uner­müd­liche wie lebens­ge­fähr­liche Arbeit des soma­li­schen Filme­ma­chers Abdisalam Aato, sondern auch ein so unge­wöhn­li­ches Film­fes­tival wie das Madani Film Festival, das dieses Jahr zum dritten Mal ausge­tragen wird.

Fand das Madani die letzten beiden Jahre haupt­säch­lich in Kinos, Kultur­zen­tren und Univer­si­täts­räumen Jakartas statt, bewegt sich die seit dem 20. November und noch bis zum 4. Dezember laufende dritte Ausgabe Corona-bedingt im virtu­ellen Raum. Und bietet damit erstmals auch west­li­chen Betrach­tern die Möglich­keit, sich auf einen so beun­ru­hi­gend wie faszi­nie­renden anderen Blick einzu­lassen, ohne gleich die Megacity Jakarta anfliegen zu müssen, die Ridley Scotts dysto­pi­scher Version einer Großstadt in Blade Runner fast schon klonartig ähnelt.

Bei der Sichtung der einzelnen Sektionen sollte dann auch weniger über­ra­schen, was das kreative Team aus Festi­val­lei­tung und Programmern zusam­men­ge­tragen hat, denn Indo­ne­sien ist natürlich weit mehr als das, was Joshua Oppen­heimer in seinem The Act of Killing und einem Genozid nach Film­vor­lage erzählt hat, sondern eine politisch und religiös glei­cher­maßen zerris­sene »Film­na­tion«, wie es der indo­ne­si­sche Regisseur Slamet Rahardjo im artechock-Interview 2018 formu­lierte.

Faszi­nie­rend ist am Madani vor allem, wie hier Sektionen aufbe­reitet werden. So, wie etwa das eigene Film­kul­tur­erbe in neue religiöse Kontex­tua­li­täten einge­bettet wird. Ein gutes Beispiel dafür ist die Retro­spek­tive von Filmen mit Rhoma Irama, dem König des Dangdut, des bekann­testen Musik­stils Indo­ne­siens, dessen legendäre Filme hier plötzlich nicht mehr nur wichtiger musi­ka­li­scher Tribut sind, sondern auch als Katharsis einer unter der Auto­kratie Suhartos einset­zenden isla­mi­schen Missio­nie­rungs­welle verstanden werden können.

Diese Stel­lung­nahme ist umso wichtiger, als sie auch ein mutiger, poli­ti­scher Stand­punkt sind, denn so wie es zwar weltweit einen über­wie­gend moderaten Islam gibt, ist auch die größte isla­mi­sche Demo­kratie immer wieder durch »trumpis­ti­sche« Demagogen und religiöse Hardliner gefährdet, so wie erst kürzlich durch die Rückkehr des radikalen Geist­li­chen Habib Rizieq Shihab, der Mitte November sein fast vier­jäh­riges, selbst­auf­er­legtes Exil in Saudi Arabien beendete und in Jakarta von einer begeis­tert tobenden Menschen­menge empfangen wurde.

Über diese laute Radi­ka­li­sie­rung den Blick auf die stille, so viel modernere Mehrheit nicht zu verlieren und einem weltweit so dispa­raten Islam, dessen Brüche bis auf die Fami­li­en­ebene reichen, einen filmi­schen Spiegel zu bieten, darum kümmern sich die Macher des Festivals auch in anderen Sektionen, und zeigen neben neuen Filmen aus dem Iran auch Wieder­ent­de­ckungen wie den nige­ria­ni­schen Hausa-Klassiker Shaihu Umar aus dem Jahr 1976 oder das Thai-Drama Buttefly and Flowers, eine buddhis­tisch-musli­mi­sche Liebes­ge­schichte im musli­misch domi­nierten Süden Thailands. Und sie werfen in der Sektion Da'waa auch einen Blick auf den klassisch isla­mi­schen Film und zeigen faszi­nie­rende Werke wie 99 Cahaya di Langit Eropa: The Final Edition (2014), der – anders als in den Rhoma Irama-Filmen, in denen es haupt­säch­lich um die persön­liche (musli­mi­sche) Moral geht – vom großen Traum handelt, Europa zu isla­mi­sieren, obgleich von der Eroberung Europas am Ende nur der eigene Haushalt bleibt, in dem sich die Frau für das Tragen des Hijab entscheidet.

Wem das schon zu viel des »Guten« sein sollte, dem sei unbedingt die Sektion »Relax it’s just religion« empfohlen, die nicht nur »Sektion«, sondern auch »Bewegung« ist, die sich seit ihrer Gründung 2017 durch die Autorin Feby Indirani (die auch eine der Programme­rinnen des Festivals ist) und ihren Erzäh­lungs­band »Bukan Perawan Maria« über Kunst­ak­tionen, Diskus­si­ons­foren und Trai­nings­ein­heiten in Jakarta, Bandung, Lombok und Berlin die Unter­stüt­zung durch die Ford Foun­da­tion und Wiki­me­dias Cipta Media Expres­sion gesichert hat und dafür eintritt, einen nicht nur kriti­schen, sondern auch selbst­kri­ti­schen Islam zu fördern. Und damit in einem zweiten »Bildungs­auf­trag« auch den Westen »erzieht«, indem auf subtile Weise der euro­zen­tri­sche Blick auf den Islam unter­wan­dert wird. Dementspre­chend ist auch die Sektion kuratiert und zeigt Filme, in denen Religion und in diesem Fall der Islam nur ein Teil des Lebens ist und nie ein Ganzes, ein nichts­des­to­trotz wichtiges Element, das Gesell­schaften hori­zontal struk­tu­riert, aber niemals dazu miss­braucht wird, um Brand­stifter für eine iden­ti­täre Politik zu sein.

Weitere Infor­ma­tionen über die Website des Festivals. Alle Filme lassen sich noch bis zum 4. Dezember 2020 über kwikku.com für den einma­ligen Betrag von 10.000 IDR (umge­rechnet 0,60 Euro) streamen.