19.11.2020

Geigerzähler der Gegenwart

Die Heimreise
Road- und Railmovie: Tim Boehmes Die Heimreise erzählt vom Befreiungsweg zweier Behinderter

Dokumentarfilmkunst am Puls der Zeit beim 37. Kasseler Dokfest

Von Jens Balkenborg

2020 ist das Jahr der Zeit­kor­ri­dore, speziell auch für die Film- und Kino­kultur. Nachdem die Kolle­ginnen und Kollegen vom Dokfest München ihr Festival im Mai als reine @home-Ausgabe abfackeln mussten und das DOK Leipzig kurz vor Torschluss in der letzten Okto­ber­woche als kreatives Hybrid­fes­tival statt­finden durfte – »Ein letztes Mal Kino« schrieb Anna Hoff­meister im »Freitag« – drängt die aktuelle Pande­mie­si­tua­tion auch das Kasseler Dokfest in den virtu­ellen Raum: Dokfes­tOn­line nennt sich die dies­jäh­rige Ausgabe, die vom 18. und 27. November 2020 groß­for­matig digital an den Start geht.

So ärgerlich alles auch ist, dieses hart­nä­ckig an den Nerven und allem anderen zehrende Virus, dieser kaum vermeid­bare, aber doch satte Tritt in den Hintern der vorbild­lich sich in Sachen Pande­mie­prä­ven­tionen enga­gie­renden Kultur­szene: es muss auch betont werden, dass der kreative Umgang, diese hybriden oder ganz virtu­ellen Festi­val­aus­gaben mehr sind als ein bloßes Lebens­zei­chen. Sie sind produk­tives Expe­ri­ment und zugleich Chance auf dem Weg zu neuen Formaten, die das Kino als wichtigen Ort des kultu­rellen und demo­kra­ti­schen Mitein­an­ders verfes­tigen und dabei dennoch weitere, faire Verwer­tungs­wege etablieren. Und, so muss man das auch mal sehen: Wenn wir schon nicht ins Kino dürfen, kann das Kino der Digi­ta­li­sie­rung sei Dank immerhin zu uns kommen.

Puls der Zeit

Das Kasseler Dokfes­tOn­line bietet die Möglich­keit, von der heimi­schen Couch aus einen Streifzug durch die verschie­denen Spiel­arten des gegen­wär­tigen Doku­men­tar­films zu unter­nehmen. 202 Kurz- und Langfilme sind als Stream deutsch­land­weit verfügbar, außerdem diskur­sive Formate oder DJ-Sets in den Dokfes­tChan­nels. Auf eigenen Platt­formen finden im Rahmen des Dokfes­tOn­line die Workshop-Tagung »inter­fic­tion« und der 11. Hessische Hoch­schul­filmtag statt.

Auch in Kassel wird der Doku­men­tar­film zum Geiger­zähler unserer Gegenwart. Mit Yulia Lokshinas Regeln am Band, bei hoher Geschwin­dig­keit etwa läuft ein Film über den Fleisch­her­steller Tönnies im Programm, genauer: über die südo­st­eu­ro­päi­schen Arbeiter, die sich in ausbeu­te­ri­schen Arbeits­ver­hält­nissen abrackern und von dem größten deutschen Schwei­ne­schlacht­be­trieb in Baracken unter­ge­bracht sind. Ein Film am Puls der Zeit, verstärkt noch durch den Corona-Skandal, der das Rheda-Wieden­brü­cker Unter­nehmen in die Presse brachte.

Der Kapi­ta­lismus als absurdes Theater

Lokshinas Film hatte, wie Carmen Losmanns Oeconomia auch, aufgrund der Coro­na­maß­nahmen nur wenig Zeit, sein Publikum im Kino zu finden. Losmann wirft einen Blick in den »Maschi­nen­raum des Kapi­ta­lismus« und spricht mit Experten aus der Branche über das Finanz­system. Anders als in ihrem Debüt Work Hard – Play Hard, der ohne Off-Kommen­tare auskam und über die streng konzen­trierten Bilder funk­tio­nierte, hat Losmann ihr neues Werk als Lehrfilm angelegt. Sie selbst führt als Off-Stimme durch nach­ge­stellte Recher­che­te­le­fo­nate und macht ihre Gedan­ken­gänge in Skizzen auf einer compu­ter­ge­ne­rierten Raster­ma­trix trans­pa­rent. »Wie entsteht Geld?«, ist eine der Fragen, die Losmann auf der Matrix notiert.

Oeconomia kreist um die Hybris unseres auf ewiges Wachstum ange­legten Systems, dessen Problem ein anonymer Bank­an­ge­stellter wie folgt erklärt: »Für steigende Gewinne und stei­gendes Wirt­schafts­wachstum ist eine ständige Auswei­tung der Verschul­dung nötig. Das ist der berühmt-berüch­tigte 'elephant in the room', über den niemand spricht.« Losmann hat eine nüchterne, absurde Komödie gedreht, die sich immer stärker zu einer Tragödie wandelt.

Kine­ma­to­gra­fi­sche Inklusion

Ebenfalls politisch, wenn auch weniger offen­sicht­lich, ist Tim Boehmes Die Heimreise. Mit seinem sympa­thi­schen doku­men­tar­fil­mi­schen Roadtrip beweist der Regisseur das Inklu­si­ons­po­ten­tial des Kinos. Er porträ­tiert den am Fetalen Alko­hol­syn­drom leidenden Bernd Thiele auf seiner Reise in die Vergan­gen­heit. Thiele kann weder lesen noch schreiben, weil die Mutter während der Schwan­ger­schaft getrunken hat. Aufge­wachsen ist er bei Pfle­ge­el­tern und in Heimen, heute lebt er auf einem Biobau­ernhof in Schleswig-Holstein, zugleich sozi­al­the­ra­peu­ti­sche Einrich­tung für geistig Behin­derte, wo er sich um die Tiere und die Ernte kümmert.

Bernd will wissen, woher er kommt, und macht sich, begleitet von Boehmes Kamera und seinem kauzig-coolen Sidekick Joann Nathanael Zeylmans van Emmi­choven, einem ebenfalls geistig behin­derte Arbeits­kol­legen, der lesen und navi­gieren kann, auf die Suche. Auf zwei Erzäh­le­benen zeigt der Film die Reise­vor­be­rei­tungen auf dem Bauernhof und die Reise selbst, die sich als berüh­render Trip durch eine Fami­li­en­ge­schichte entlang der Mauer entwi­ckelt.

37. Kasseler Dokfest
17.-22.11.2020

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