05.11.2020

Alles was man schnell vergisst

DOK Leipzig
Todo lo que se olvida en un instante von Richard Shpuntoff: Schneisen in den Dschungel der gesamt-amerikanischen Identität
(Foto: Todo lo que se olvida en un instante)

Konzentration auf das Wesentliche: Spuren des Bürgerkriegs, Schulmassaker-Prävention, Fake-News, Identitäten und vieles mehr – ein Streifzug durch das diesjährige DOK Leipzig

Von Rüdiger Suchsland

Glück im Unglück hat das dies­jäh­rige DOK Leipzig gehabt: Eine Woche vor dem neuesten Lockdown wurde dieses wich­tigste deutsche Festival für Doku­men­tar­film am Montag vor einer Woche eröffnet. Mit einem neuen Festi­val­leiter und natürlich unter Pandemie-Bedin­gungen – also mit Abstand, und ohne Festi­val­gäste, aber zumindest in größeren Teilen nicht digital, sondern mit normalen Kino­be­su­chern im Kino: Das DOK Leipzig, das größte deutsche Doku­men­tar­film­fes­tival. Noch zehn Tage sind die Filme des Programms online zu sehen.

Unter ihrem neuen Festi­val­chef Christoph Terhechte – er hat 17 Jahre lang das Forum des Jungen Film bei der Berlinale geleitet, die inter­es­san­teste Berlinale-Sektion – zeigt sich DOK Leipzig deutlich verschlankt und konzen­triert. Die von ihm ohnehin geplante Konzen­tra­tion des zuletzt mit über 300 Filmen allzu aufge­blähten Programms wurde durch Corona noch mal reduziert. 150 Filme sind es immer noch. Im Kino, mit Publikum, und gerade vor dem Lockdown geht alles zuende. Erste Corona-Filme gibt es dort zu sehen, aber neben der Pandemie sollen auch andere Themen nicht in Verges­sen­heit geraten.

Facetten eines zerstörten Traums

Gleich in fünf Filmen portrai­tieren US-ameri­ka­ni­sche Filme­ma­cher ihre Heimat – die Beiträge wirkten wie Kommen­tare zu den Präsi­dent­schafts-Wahlen. Zugleich machen sie auch klar, dass die frag­wür­digen poli­ti­schen Entwick­lungen in den USA der letzten Jahre etwas Grund­sätz­li­ches über den Stand der Demo­kratie erzählen, und über eine Gesell­schaft, die von kollek­tivem Gedächt­nis­ver­lust und Ignoranz geprägt ist. Und sie erzählen von den Wirkungen der Globa­li­sie­rung. An ganz unter­schied­li­chen Orten legen sie den Finger in die Wunde namens Amerika. Aber es geht auch um uns Europäer.

Vor über 30 Jahren begann Clinton als Gouver­neur von Arkansas seine poli­ti­sche Karriere. Jetzt, im Rückblick schreibt ihm der Regisseur Ben Young einen Brief in Filmform: »Hey Dude, du bist ein alter Mann geworden, du siehst aus wie ein Elvis in Rente.« Es ist eine bittere, stilis­tisch virtuose Abrech­nung mit der Ära Clinton, mit ihren nicht gehal­tenen oder gebro­chenen Verspre­chen, und mit ihrem Erbe.

Der Scher­ben­haufen, den die US-ameri­ka­ni­sche poli­ti­sche Lage heute darstellt, ist weit größer als alles, was wir Beob­achter von außen mit dem Namen Donald Trump verbinden. Und Youngs Film William Jefferson Wilder­ness, einer von gleich fünf US-ameri­ka­ni­schen Filmen im Programm von DOK Leipzig, zeigt, dass die Wahlen keines­wegs alle Probleme lösen werden, egal wie sie ausgehen, und dass das ameri­ka­ni­sche Kino weit mehr zur Lage des Landes zu sagen hat, als wie man Donald Trump findet. Über den sind sich sowieso die aller­meisten einig.

Dazu gehört zum Beispiel auch die Lage an den Schulen, die inzwi­schen bela­gerten Festungen gleichen. Das beschreibt Bullet­proof, zu deutsch »Kugel­si­cher« von Todd Chandler. Der Film beleuchtet das System der Sicher­heits- und Waffen-Industrie, die sich auf die Hoch­rüs­tung von Schulen zur Vertei­di­gung im Fall von Schul­mas­sa­kern konzen­triert.
Neben regel­mäßigen Übungen zum Verhalten bei einem Angriff gehören Secu­ri­ty­kräfte und Metall­de­tek­toren zum Alltag. Denn das Bedro­hungs­sze­nario Amoklauf ist allge­gen­wärtig. Während Cheer­leader proben, Basket­ball­teams spielen und man Home­co­ming-Queens kürt, bereiten die Erwach­senen im Hinter­grund den Ernstfall vor: Was tun, wenn eine Schule – von außen oder von innen – ange­griffen wird? Verhal­tens- und Medi­ta­ti­ons­trai­nings, die Gewalt überhaupt verhin­dern sollen, sind eine Sache.

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Mehr hinein ins Amerika des Donald Trump dringt die Regis­seurin Laura Gamse in Hello, we lied. Sie portrai­tiert Jestin Coler, den König der »Fake-News«. Die Filme­ma­cherin scrollt sich in ihrem Film durch Nach­richten und Memes und gibt damit einen eindrucks­vollen Kommentar zum Zustand west­li­cher Gesell­schaften ab ― ein Jour­na­lismus in der Krise, die aus der Sucht nach Einschalt­quoten und aus ökono­mi­schem Druck besteht. Plötzlich sind Sati­re­sen­dungen die einzig seriöse und kritische Infor­ma­ti­ons­quelle.

Am tiefsten hinein ins Trumpland dringt aller­dings Jim Finn. Dieser nur Experten bekannte Inde­pen­dent­re­gis­seur hat unter anderem schon mal einen Fake-Doku­men­tar­film über den nord­ko­rea­ni­schen Diktator gedreht.

Hier nun begibt er sich mit seinem Publikum auf eine Reise in die ameri­ka­ni­schen Südstaaten und die Geschichte von Bürger­krieg und Sklaverei. The Annotated Field Guide of Ulysses S. Grant erzählt die Route des Ober­be­fehls­ha­bers der US Nord­staa­ten­armee und ihres Komman­deurs, des späteren Präsi­denten im Ameri­ka­ni­schen Bürger­krieg mit Hilfe von Brett­spielen nach.

In klein­tei­ligen Aufnahmen zeigt Jim Finn die Spuren des Bürger­kriegs bis in die Gegenwart. Schönheit des Old South kontras­tiert mit dem düsteren Unterbau des Konflikts: Tiefem Rassismus und unbe­irr­barer Glaube an das Recht zur Skla­ven­hal­tung.

Doku­men­tar­film als Fort­set­zung des Akti­vismus mit anderen Mitteln

Zwei Haupt­preise; sehr unter­schied­liche Auszeich­nungen – einmal für einen Film, der ein Fall von unver­hoh­lenem poli­ti­schen Akti­vismus ist, der Botschaften hat, der partei­isch ist. Der auch auf seine Weise sehr geschlossen ist: Down­stream to Kinshasa, von Dieudo Hamadi aus dem Kongo, der Sieger des Haupt­preises in Leipzig, ist Kino, das sich größ­ten­teils in öffent­li­chen Räumen aufhält und dort umsieht, und das die afri­ka­ni­schen Öffent­lich­keiten wiederum auf die Leinwände Europas holen möchte.
Im Zentrum stehen Kriegs­ver­sehrte aus dem Kongo, die um ihre Rechte kämpfen.

Der andere Preis­träger des inter­na­tio­nalen Wett­be­werbs ist gewis­ser­maßen das Gegenteil: Eine sensible intime Beob­ach­tung, ein offener Film, der sich seinem Gegen­stand zögernd nähert, sich in privaten Räumen bewegt: Die »Silberne Taube« gewannen die beiden argen­ti­ni­schen Nachwuchs-Regis­seu­rinnen Mercedes Halfon und Laura Citarella für The Poets Visit Juana Bignozzi.

Dieser Doku­men­tar­film erzählt von einer jungen Dichterin, die das künst­le­ri­sche Erbe der bekannten Poetin Juana Bignozzi weiter­tragen möchte. Die Jury stellte den »Ideen­reichtum« heraus, »mit dem der Film sein Thema mit einer Frische und Energie umgesetzt ist, die an die fran­zö­si­sche Nouvelle Vague erinnert.«

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Von dieser Ausnahme abgesehen war vor allem Afrika Trumpf auch in den anderen Preis­ver­lei­hungen. Den deutschen Wett­be­werb gewann der Film Lift like a girl, eine Co-Produk­tion aus Deutsch­land und Ägypten. Die Filme­ma­cherin Mayye Zayed beglei­tete über vier Jahre hinweg ein junges, anfangs 14-jähriges Mädchen, das mit Hilfe ihres Coaches in Alex­an­dria zur Gewicht­he­berin wird – dies war tatsäch­lich einer der inter­es­san­testen Filme in einem deutschen Wett­be­werb, der stärker war als in den vergan­genen Jahren.

Noch ein drittes Mal Afrika: Den Wett­be­werb der kurzen Doku­mentar- und Anima­ti­ons­filme gewann »Trouble Sleep« von Alan Kassander, eine fran­zö­sisch-nige­ria­ni­sche Kopro­duk­tion, ein rhyth­misch-dyna­mi­sches Portrait des Lebens in der Stadt Ibadan.

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Was ist von dieser konti­nen­talen Konzen­tra­tion nun zu halten? Sind die Doku­men­tar­filme aus Afrika nun wirklich soviel besser als aus dem Rest der Welt?
Eher nicht. Eher handelt es sich um einen Fall von kultu­reller Projek­tion und Exotismus.

»Afrotopia« – so heißt einer der wich­tigsten Grund­la­gen­texte eines neuen afri­ka­ni­schen Selbst­be­wusst­seins aus den letzten Jahren. Afrika als Utopie und Sehn­suchtsort, auch für die Afrikaner. Einer­seits.
Ande­rer­seits ist dieses Manifest auch schon wieder eine kriti­sierte Stel­lung­nahme, weil man hier ja einen ganzen Kontinent über einen Leisten schlägt und zusam­men­fasst.

Das darf man natürlich, es war aber zu auffällig, dass gleich vier Filme aus Afrika jetzt beim dies­jäh­rigen DOK Leipzig ausge­zeichnet wurden, um hier nicht auch unter anderem einen poli­ti­schen Willen zu vermuten – und das ist leider etwas, das diese Preis­ent­schei­dungen ein bisschen beschä­digt.
Die Absicht des poli­ti­schen Signals überdeckt die Filme selbst. Doku­men­tar­film als Fort­set­zung des Akti­vismus mit anderen Mitteln.

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Anderes wurde – wie das so ist auf Film­fes­ti­vals – übersehen. Etwa der Film Consi­de­ring the Ends von Elsa Maury – eine viel­schich­tige Reflexion über das Töten von Tieren

Oder aus Deutsch­land Hotel Astoria, das zu seltene Beispiel eines Films mit Archiv­ma­te­rial, ergänzt durch sparsame redu­zierte Animation. Der Film erzählt Geschichten aus einem zu DDR-Zeiten berühmten Hotel. Gäste wie Roy Black, vom Maler Werner Tübcke, der 1958 ein riesiges Wand­ge­mälde für eines der drei Restau­rants beisteu­erte. Ex-Ange­stellte berichten von traum­haften Bedin­gungen – »ich konnte von meinem Trinkgeld leben«, wie von Mobbing und Stasi-Bedro­hungen.
Der Film ist auch eine Geschichte über Luxus in der DDR- und dessen Untergang. Am »Astoria« konnte man auch ablesen, wie der Staat zugrunde gegangen ist: »Man war abge­stumpft, man war nicht mit dem Herzen dabei.«

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Der wohl schönste Film war Todo lo que se olvida en un instante, ein origi­neller Essayfilm, der zwei­spra­chig zwischen argen­ti­ni­schem Spanisch und US-ameri­ka­ni­schem Englisch Schneisen in den Dschungel der gesamt-ameri­ka­ni­schen Identität schlägt. Der Regisseur Richard Shpuntoff, hat einen Film aus schwarz­weißen und (selten) farbigen Archiv­bil­dern und neuge­drehtem Schwarz­weiß-Material montiert.
Zu den vielen heraus­for­dernden Reizen des Films gehört, dass er mit mal spani­scher, mal engli­scher Erzähl­stimme und paral­lelen Unter­ti­teln arbeitet, deren Sprache ebenfalls wechselt; dass beide Text­ebenen aber keines­wegs identisch sind, sondern sich ergänzen.

Shpuntoff stammt aus New York, wuchs in Queens in einer jüdischen Familie in den 1970er und 80er Jahren auf. Sein Vater war relativ alt, wurde bereits 1919 geboren, als von Emigranten aus dem Zaren­reich. Seit 2002 lebt er in Buenos Aires wo seine zwei Töchter geboren wurden. Seine Perspek­tive wechselt auch insofern, als das er einer­seits als Sohn Remi­nis­zenzen seines Vaters und seiner jüdischen Identität festhält, zugleich für seine Töchter als Vater erzählt.
Mit den zwei Perspek­tiven ist sein Film auch eine Pendel­be­we­gung zwischen zwei Städten, zwischen der privaten und der univer­salen Ebene, eine Reflexion über das Verhältnis der USA zu Latein­ame­rika. Ever­ything That Is Forgotten in an Instant ist ein origi­neller Essayfilm über Iden­ti­täten und die Verschrän­kung von Familien- und Kultur­ge­schichte.

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Insgesamt war es ein sehr gutes DOK Leipzig, mit spürbaren frischem Wind durch einen neuen Leiter und eine etwas andere Ausrich­tung, vor allem eine Konzen­tra­tion auf das Wesent­liche: 150 Filme sind immer noch viel und in dem Fall genug für ein Film­fes­tival, das fünf Tage lang dauert und in den vergan­genen Jahren mit über 300 Filmen oft eine Überfülle erreicht hatte, die den einzelnen Film in dieser Menge unter­gehen ließ.
Die Straffung war ein Erfolg – und die Filme oft sehr gut.