06.08.2020

Ich mag keine Filme (mehr)

Joseph Phillippe Karems stillgelegtes Kino The Egg
Noch vor den Kinos kapitulieren die Zuschauer: Joseph Phillippe Karems stillgelegtes Kino »The Egg«, Beirut
(Foto: Axel Timo Purr)

Schon vor Corona ist unserem Autor die Leidenschaft für das Kino abhanden gekommen. Warum nur? Eine Spurensuche.

Von Michael Haberlander

Im Dezember 2015 habe ich einen Blog-Eintrag mit dem Titel Ich mag keine Musik geschrieben, in dem es nicht um die Abneigung gegenüber der Musik, sondern um eine sonder­bare Marke­ting­stra­tegie geht. Regel­mäßig kann ich meinen Blog-Statis­tiken entnehmen, dass Menschen bei diesem Eintrag landen, da sie in einer Such­ma­schine Aussagen wie »(ich) mag keine Musik (mehr)« eingeben, aufgrund solcher Such­an­fragen ist dieser Blog-Eintrag einer meiner zugriffs­stärksten.

Lassen wir einmal die immer wieder spannende Frage außer Acht, was die Menschen wie im Internet suchen (was erwartet jemand, der bei Google »ich mag keine Musik« eingibt? Eine Erklärung? Trost? Rat? Hilfe?) und wenden uns dem eigent­li­chen Thema zu, der Ablehnung bzw. Gleich­gül­tig­keit gegenüber der Musik und anderen Künsten.
Die Auftei­lung der Kunst in die verschie­denen Künste (und ihre jewei­ligen Teil­be­reiche) ist ziemlich kompli­ziert, weshalb ich mich hier damit gar nicht groß aufhalten möchte. Wenn ich im Folgenden pauschale Begriffe wie Musik, Film, Theater, Malerei oder Literatur verwende, sollte jeder wissen, was damit gemeint ist.

Unter den Künsten gilt die Musik als die univer­sellste, selbst die miss­lau­nigsten Philo­so­phen und Autoren, die sonst an allem was auszu­setzen haben, singen gerne das Hohelied auf die Musik, so wie Scho­pen­hauer sehen manche sie »nicht neben, sondern über den anderen Künsten«. Keine Musik zu mögen (also nichts aus ihr zu ziehen, keine emotio­nelle Reaktion darauf zu haben) gilt gemeinhin als unnormal, weshalb betrof­fene Personen sogar Hilfe im Internet suchen und dabei (fälsch­li­cher­weise) bei meinem oben genannten Blog-Eintrag oder (richtiger) auf Homepages und in Foren landen, wo offen darüber verhan­delt wird, ob es so etwas wirklich gibt, wie schlimm das ist und was die Ursachen dafür sein könnten. Wenn Sie auch »darunter leiden« und / oder sich über das Phänomen infor­mieren wollen, geben Sie bitte in Ihre Such­ma­schine nicht »ich mag keine Musik«, sondern »musi­ka­li­sche Anhedonie« ein.

Damit beweist die Musik einmal mehr ihre Ausnah­me­stel­lung, denn keine andere Kunst hat für eine Gleich­gül­tig­keit ihr gegenüber eine eigene Bezeich­nung, die auch noch fast nach einer Krankheit klingt. Wenn Sie dagegen in einem Kreis von durch­schnitt­lich gebil­deten Menschen erklären, dass Sie kein Interesse an Theater oder Malerei oder Literatur haben, dann wird das vermut­lich mit einem Schul­ter­zu­cken aufge­nommen, im schlimmsten Fall hält man Sie für (kulturell) unge­bildet bzw. einen sog. Banausen, von einer »Störung« wird aber keiner sprechen (außer den Fana­ti­kern, die sich ein Leben ohne Theater oder Malerei oder Literatur gar nicht vorstellen können, wobei man da darüber disku­tieren kann, inwiefern diese bedin­gungs­lose Begeis­te­rung »gestört« ist). Unter­schiede gibt es aber auch hier, vor allem im Extrem. Wer verkündet, noch nie ein Buch gelesen zu haben, wird vermut­lich mit anderen Augen betrachtet wie der, der nach eigener Aussage noch nie eine Thea­ter­auf­füh­rung oder Tanz­per­for­mance gesehen hat.

Weshalb Künste überhaupt unter­schied­lich bewertet werden, ist genauso schwer zu erklären wie die Frage, was eine Kunst(form) ist. Im Lauf der letzten 3.000 Jahre wurden viele Diszi­plinen den Künsten zu- und später wieder abge­rechnet, bis heute hält dieser Prozess an, wie z.B. an der Diskus­sion über Streetart bzw. Graffiti, Netzkunst oder die Kochkunst zu sehen ist.
Fast noch schwerer zu beant­worten ist die Frage, warum sich Menschen zu welchen Künsten hinge­zogen fühlen und wie sich dieses Verhältnis während eines Lebens verändern kann, ein inter­es­santes Beispiel dies­be­zü­g­lich ist meine Leiden­schaft für den Film.

Als Kind war ich (wie so viele) geradezu süchtig nach bewegten Bildern, was sich in endlosen Stunden vor dem Fernseher nieder­schlug. Ange­schaut habe ich so ziemlich alles, was die wenigen Programme damals hergaben. Als Jugend­li­cher hat sich dann eine Begeis­te­rung für Filme ausge­prägt, als junger Erwach­sener war ich schließ­lich das, was man gemeinhin einen Cineasten nennt, also jemand, der nie genug Filme sehen kann, der sich für alle Aspekte des Themas inter­es­siert, der immer weiter nach dem Spezi­ellen, Unbe­kannten sucht, der sich auch kritisch (bzw. als Kritiker) damit ausein­an­der­setzt, der von einem guten Film total über­wäl­tigt werden konnte, der dieses Gefühl der Berückung immer und immer wieder wollte.

Anfang der 2000er Jahre begann diese Begeis­te­rung Risse zu bekommen. Filme, die mir eigent­lich gefallen hätten sollen (weil von einem geschätzten Regisseur gemacht und von der Kritik hoch­ge­lobt), ließen mich kalt. Anfäng­lich hielt ich das für »Aussetzer«, für ein persön­li­ches Mismatch zwischen mir und diesem einen Film. Doch das Miss­fallen, die Gleich­gül­tig­keit wurde immer mehr, abzulesen etwa an meinen Jahres­rück­bli­cken, in denen ich von Jahr zu Jahr weniger Filme als erwäh­nens­wert empfand. In gleicher Weise nahm mein Interesse an dem Drumherum, an Stars, Film­schaf­fenden, Festivals, Film­his­torie, Legenden und Mythen ab.
Mitt­ler­weile bin ich an dem Punkt, dass ich (auch ohne Corona) so gut wie gar nicht mehr ins Kino gehe, im Fernsehen probiere ich immer wieder (bereits bekannte wie mir neue) Filme aus, breche 70 % davon vorzeitig ab, schaue 25 % davon zu Ende, ohne einen blei­benden Eindruck zu behalten, und weniger als 5 % davon unter­halten oder faszi­nieren oder berühren oder begeis­tern mich in irgend­einer Weise, wobei ich selbst bei diesen meist noch etwas finde, das mich stört.

Da frage ich mich, wie das sein kann? Wie kann eine kultu­relle Leiden­schaft in 30 Jahren einer Parabel gleich von ganz wenig bis ganz viel bis wieder ganz wenig verlaufen? Wieso sind meine Verhält­nisse zu anderen Künsten (wie der Musik oder der Literatur) in derselben Zeit praktisch unver­än­dert geblieben? Dass es an mir liegen muss, ist unzwei­fel­haft, denn nicht nur neue, sondern auch viele (nicht alle) Filme, die ich früher gut fand, lang­weilen mich heute. Was hat sich in mir verändert? Warum betrifft diese Verän­de­rung nur den Film, aber nicht die Literatur (beides sind erzäh­lende Künste)? Warum gibt es noch eine geringe Zahl von Filmen, die ich wirklich gut finde? Werde ich das Gefallen an diesen Filmen auch noch verlieren? Bin ich des Films über­drüssig, weil letztlich alles irgendwie (und oft besser) schon einmal da war? Warum werde ich dann der Musik nicht über­drüssig, die auch nach der tausendsten Wieder­ho­lung noch Spaß macht? Warum kann ich mit all diesen neuen Serien (also die mit einem durch­ge­henden Hand­lungs­strang), von denen die Leute seit ein paar Jahren derart begeis­tert sind, überhaupt nichts anfangen? Warum habe ich aber weiterhin großen Spaß an ausge­wählten Comedy- und Cartoon­se­rien?

Kunst­ge­nuss besteht zu einem Teil aus Intuition und zu einem Teil aus Übung. Wer mit einer unbe­kannten Kunstform konfron­tiert wird, kann nur intuitiv einschätzen, ob ihm das gefällt. Beschäf­tigt er sich mehr damit, »trainiert« er diese Kunstform, wird er immer mehr verstehen, mehr erkennen, mehr gut finden (wer hat seinen Einstieg in eine Kunstform nicht über relativ zugäng­liche Werke gesucht, um sich dann an die großen, komplexen Werke heran­zu­ar­beiten). Was heißt das aber nun für mich und den Film? An der mangelnden Übung kann es eigent­lich nicht liegen, schließ­lich habe ich jahrelang intensiv trainiert. Hat also mein intui­tives Interesse nach­ge­lassen? Oder gibt es viel­leicht noch eine dritte Kraft, die hier eine Rolle spielt, z.B. blinde bzw. verklä­rende Begeis­te­rung, die mir abhan­den­ge­kommen ist?

Ob meine nach­las­sende Film­lei­den­schaft eine gute oder schlechte Sache ist, kann ich noch nicht abschließend sagen, der aktuelle Zwischen­stand ist ambi­va­lent. Negativ ist der Verlust eines angenehm zeit­rau­benden Hobbys und mancher kultu­rellen Anregung, positiv ist dagegen die Befreiung von Zwängen und Ängsten auf der Jagd nach dem nächsten, besten (bzw. nächst­besten) Film­ereignis.

Sei es wie es sei, ändern werde ich daran nichts können, denn so viele Fragen im Vorste­henden auch offen sind, bin ich mir über eine Sache doch sicher: Eine bewusste, ratio­nelle Entschei­dung für oder gegen eine Kunstform gibt es nicht. Wie wir uns die Künste oder die Künste sich uns aussuchen, bleibt ein Geheimnis, man könnte es auch das Je ne sais comment nennen.