02.07.2020

Da bin ich lieber allein im Kino

Kurzfilmtage Oberhausen
Absperrbänder als confinement-Signatur: die Kurzfilmtage Oberhausen 2020
(Foto: Kurzfilmtage Oberhausen)

Gegen den neuen Kulturkampf um Online-Festivals

Von Lars Henrik Gass

Ich rate ab, Sinn und Zweck von Online-Festivals dogma­tisch zu disku­tieren, und wünsche mir mehr Komple­xi­ons­to­le­ranz zu diesem Thema. Für mich zumindest handelt es sich dabei nicht um eine Frage der Welt­an­schauung oder der Haltung zu Film und Kino, sondern um eine fragile temporäre Antwort auf eine gesell­schaft­liche Krise, die nach neuen Lösungen verlangt. Überdies kann eine Antwort womöglich falsch für das eine Festival und richtig für ein anderes sein. Es ist ein Unter­schied, ob man ein großes inter­na­tio­nales Film­fes­tival mit gewach­sener Tradition und Wett­be­werben durch­führt oder ein Festival ohne Wett­be­werbe mit eher regio­naler Reich­weite, ein Kurzfilm-Festival, ein Archiv­film-Festival oder was auch immer. Film­fes­ti­vals haben eine histo­ri­sche Substanz, einen spezi­fi­schen Charakter und teils gänzlich verschie­dene Ziel­gruppen. Was im Mai möglich und nötig erschien für ein Festival, konnte oder wird sich im April oder im Oktober viel­leicht als falsch oder ungenü­gend erweisen. Unsere Antwort in Ober­hausen hätte zwei Monate früher oder später wahr­schein­lich anders ausge­sehen. Es geht nicht um ein Entweder-Oder, um Streaming oder Kino. Ein Festival wie die Diagonale in Graz hatte gar keine andere Wahl als die Absage, wir hatten sie. Aber selbst der Diagonale fiel noch mehr ein als anderen, denen der »Anspruch« genügt. Im Bett bleiben ist immer eine Option. Kurz gesagt, was für uns in Ober­hausen mögli­cher­weise sinnvoll war, lässt sich nicht auf andere über­tragen.

Wir sprechen also nicht nur über temporäre Antworten, sondern auch über nicht über­trag­bare Antworten. Ich traue weder einer kryp­to­ci­ne­philen Feti­schi­sie­rung des Kinos noch einer affir­ma­tiven Tech­no­lo­gie­vi­sion zur »Fern­ge­sell­schaft« (Peter Weibel). So kommt man allen­falls bei der guten alten Zeit oder der schönen neuen Welt heraus; beides glei­cher­maßen gruselig. Mich inter­es­siert eher, welche indi­vi­du­ellen Antworten Film­fes­ti­vals auf unter­schied­liche Voraus­set­zungen finden, also wie glaub­würdig, kreativ und plausibel die jeweilige Antwort ausfällt.

Trans­for­ma­tion von Kino­kultur durch Film­fes­ti­vals

Das ist das eine, das andere: Als wir in Ober­hausen die Veran­stal­tung absagen mussten, standen drei Fragen im Vorder­grund: Was bedeutet die Absage für die Filme­ma­che­rinnen und Filme­ma­cher, für die freien Mitar­bei­te­rinnen und Mitar­beiter und vor allem für die Entwick­lung des Festivals selbst. Auch hier werden die Antworten indi­vi­duell ausfallen müssen: Hinsicht­lich der Filme­ma­che­rinnen und Filme­ma­cher sahen wir den Auftrag, fina­li­sierte Programme und Wett­be­werbe durch­zu­führen und hinsicht­lich der Mitar­bei­te­rinnen und Mitar­bei­tern die soziale Verant­wor­tung, deren Honorare zu sichern. Nicht zuletzt aber stellte die Onli­ne­aus­gabe den Ernstfall einer kollek­tiven Fort­bil­dung für uns selbst dar, in der wir einmal Konven­tionen und Selbst­bilder eines Film­fes­ti­vals in Frage stellen konnten. Unsere indi­vi­du­ellen und temporären Antworten sollten auch einen Struk­tur­wandel der Film­fes­ti­vals generell einleiten, denn wir alle wissen, dass die gewerb­liche wie auch die kultu­relle Relevanz des Kinos seit Jahr­zehnten schwindet: einen Struk­tur­wandel vom Markt zur Marke, von der Vermitt­lung zur Auswer­tung, mit anderen Worten: eine Trans­for­ma­tion von Kino­kultur durch Film­fes­ti­vals.

Warum muss ein Film­fes­tival auf Ort und Zeit beschränkt sein? Warum sollte im Gegenteil ein Film­fes­tival nicht digitale Ressourcen nutzen, um Leuten den Zugang zu Filmen zu ermö­g­li­chen, die nicht reisen können oder dürfen? Wir sprechen hier also auch von einer möglichen neuen Demo­kra­ti­sie­rung von Film­kultur zu einem Zeitpunkt, wo das Kino diese Rolle längst vor Corona weit­ge­hend den digitalen Medien über­lassen hat. Wer heute einen anstän­digen Film sehen will, muss entweder in der Regel weit reisen oder bleibt am besten gleich zu Hause. Der Nieder­gang des Kinos ist nicht allein tech­no­lo­gisch zu begreifen und auch nicht durch den Kampf gegen Tech­no­logie zu verhin­dern, sondern nur politisch auf dem Weg zu einer kompro­miss­losen Musea­li­sie­rung, die das Kino konse­quent von wirt­schaft­li­chen Inter­essen frei­stellt und insti­tu­tio­nell den anderen Künsten gleich­stellt.

Warum sollte man daher nicht einmal auspro­bieren, ob und wie man ein Festival einmal ganz anders machen kann, um Film­kultur zu vermit­teln? Soweit ich sehe, hat niemand behauptet, Festivals sollten jetzt dauerhaft online statt­finden. Der Hinweis auf schwin­dende Alter­na­tiven für Filme jenseits der Festivals in der Diskus­sion ist daher berech­tigt. Wenn Kino und Fernsehen für die öffent­liche Vermitt­lung von Film­kultur zunehmend ausfallen, müssen die Festivals selbst dafür einspringen. Kultur­po­li­tisch wäre erst noch zu verstehen, dass die Festivals bereits den Job machen, für den andere kassieren. Ob die Festivals, die längst kein »Markt« mehr sind (oder nie sein wollten), damit zur »Marke« werden müssen, ist dann nicht mehr eine Frage des Marke­tings.

Das, was wir in diesem Prozess gelernt und erreicht haben, hilft uns, die Zukunft der Festivals besser zu gestalten. Wir propa­gieren nicht die Abschaf­fung des Kinos, sondern die Entwick­lung neuar­tiger Stra­te­gien zum Vorteil der Filme­ma­che­rinnen und Filme­ma­cher, der Film­kultur und des Publikums. Es geht nicht um einen trost­losen Ersatz für eine Veran­stal­tung in der »wirk­li­chen« Welt, sondern um eine neuartige, rhizo­ma­ti­sche Vorstel­lung von Festival. Das ist eine im Grundsatz soziale Frage, nicht nur eine kultu­relle.

Ausge­stal­tung der sozialen Frage

Wir haben in Ober­hausen in zwei Monaten ein Strea­ming­portal mit circa 350 Filmen und über 60 Programmen einge­richtet und in noch kürzerer Zeit einen Festi­val­blog, der bis Mitte Juni auf rund 130 Beiträge anwuchs. Der Blog war von der Idee getragen, dass ein Festival ein Raum sein könnte, vom dem aus man über alles nach­denken, jeden verbinden könnte. Der Blog war der Versuch, den Prozess, in dem wir uns und andere sich befanden, sichtbar zu machen. Er enthielt Beiträge von vielen für viele, frei zugäng­lich. Unsere Bedin­gungen waren: Es darf nicht um Kurzfilm gehen und nicht um unser Festival. Für das Strea­ming­portal hatten wir auf 1000 verkaufte Festi­val­pässe gehofft; es wurden über 2500. Warum hätten man also diesen Leuten keine Filme zeigen sollen, Filme, die es wert waren, gesehen zu werden – und für die es offen­kundig ein Publikum gab? Als Preis hatten wir 9,99 Euro bestimmt, einen psycho­lo­gi­schen Preis – ein Augen­zwin­kern gegenüber der Preis­struktur der Strea­ming­por­tale. Wir wollten nicht mehr als für eine Kinokarte verlangen und die Schwelle allen­falls so hoch legen, dass das Risiko der Enttäu­schung nicht uner­mess­lich erschien.

Unsere Auswer­tung ergab, dass wir zur Hälfte ein ganz neues Publikum erreicht haben. Das war der eigent­liche Erfolg. Fraglos haben wir auch Leute verloren, die Filme nicht im Internet schauen wollen. Wir haben Kinder und Schulen erreicht, Leute in Übersee. Leute schlossen sich zu Sehge­mein­schaften zusammen, andere kauften Festi­val­pässe, um die Spende zu unter­stützen. An Erlösen wurde nicht viel, aber alles gespendet, 23.000 Euro an das Sozi­al­werk der VG Bild-Kunst. Mehr immerhin als andere, die nur Bedenken haben. Ich halte die Ausge­stal­tung der sozialen Frage für den untrü­g­li­chen Parameter der Haltungen, die in dieser Debatte vertreten werden: was genau wir für dieje­nigen also tun, die Filme machen, die Filme sehen wollen sowie dieje­nigen, die dafür sorgen, dass dies möglich ist. Das ist eine kollek­tive, keine indi­vi­du­elle, eine poli­ti­sche, keine kultu­relle Aufgabe, ebenso wie der Kampf gegen die Klima­krise.

Der Ort ist das Festival, nicht die Stadt

In der Diskus­sion über Online-Festivals wird gerade etwas billig Distink­tion gewonnen in einem zunehmend kompe­ti­tiven Feld der Kultur­ar­beit, denn Festivals wie das DOK.fest München (das ich leider nicht kenne) oder Ober­hausen (das ich leite), die sich um temporäre digitale Lösungen bemühten (die niemand zum Standard erheben möchte), werden dadurch noch lange nicht zu »Prot­ago­nisten der einen Seite der Debatte«, zu »digitalen Main­strea­mern«, die eine »Demar­ka­ti­ons­linie gegen das Kino und gegen die analoge Lebens- und Kultur­welt« einführen, wie Dunja Bialas insi­nu­iert. Ich kann für uns behaupten, dass wir in diesem Jahr die vielen geplanten Programme mit Live-Kino und Analog­film mit großem Bedauern aufs nächste Jahr verschoben haben.

Wir machen Online-Festivals nicht, weil wir diese als Königsweg ansehen, sondern weil uns Kino verboten ist, weil wir dieje­nigen, die ins Kino gehen möchten, schützen müssen, weil wir denje­nigen, die nun nicht wissen, wo sie ihre Filme zeigen sollen, eine Möglich­keit bieten wollen, sie anderen zu zeigen, weil wir Leute wirt­schaft­lich unter­stützen wollen, die Kultur ermö­g­li­chen, weil wir neue Lösungen suchen, denken und reden wollen, kurz: weil wir Film­kultur auch in der Krise ermö­g­li­chen wollen und begreifen, dass die Film­fes­ti­vals längst eine neue Verant­wor­tung in der Vermitt­lung von Film­kultur erlangt haben. Mich beschleicht daher der Verdacht, dass mit der Kritik an Online-Festivals ein konkur­ren­zie­render Kampf um die Defi­ni­ti­ons­ho­heit über Film­kultur begonnen werden soll, während man selbst in der Not Lösungen weder hat finden müssen noch finden wollen.

Jetzt soll der Geist in die Flasche zurück; das Potential des Internets für die Festivals und damit für die Film­kultur würde man am liebsten regle­men­tiert sehen. Die Anzahl der möglichen Zuschaue­rinnen und Zuschauer für ein Programm im Internet soll begrenzt werden, digitale Reich­weite der Programme möglichst noch auf den Horizont der Stadt: Repli­ka­tion der Provinz im Internet. Ein Online-Festival aber sollte nicht geopo­li­ti­sche Grenzen neu errichten. Der Ort ist das Festival, nicht die Stadt. Der nun wirklich nötige poli­ti­sche Aushand­lungs­pro­zess unter allen Betei­ligten, wie mit Fragen des Geoblo­ckings oder der Festi­val­pre­mieren künftig fair umzugehen sei, wird hier zu einem ideo­lo­gi­schen Konflikt (»Graben­kampf«) verschüttet. Auf kurz oder lang müssen sich vor dem Hinter­grund der drama­ti­schen Erosion der Kino­land­schaft, die politisch nicht aufge­halten wird, die Festivals ohnehin überlegen, wie Film­kultur mit sehr beschränkten Ressourcen noch vermit­telt werden soll. Das wäre der Kampf, der gemeinsam zu führen wäre.

An dieses Lager­feuer will ich nicht

Betrachtet man die Argumente, die in den Texten von Dunja Bialas, Alejandro Bachmann, Sebastian Höglinger, Peter Schern­huber und Heide Schlüp­mann – bei allen Unter­schieden in Person und Position: Alle veran­stalten oder arbeiten für Film­fes­ti­vals – gegen Online-Festivals vorge­bracht werden, so fällt auf, dass hier durchweg unzu­rei­chend bestimmte Begriffe wie »reale Begegnung«, »Erfahrung«, »Gemein­schaft«, »Gegenwart verstanden als physische Nähe von Menschen«, »Reibung« usw. bemüht werden, also Werte, die nun angeblich durch die »Digi­tal­in­dus­trie« abhan­den­kommen oder bedroht sind. Im »Verlust an Nähe« klingt der »Verlust der Mitte« nach, den Hans Sedlmayr einmal gegenüber progres­siver Kunst beklagte. Spätes­tens hier beginnt es begriff­lich etwas zu wabern, lauert der Jargon der Eigent­lich­keit um die Ecke der gesell­schaft­li­chen Analyse. Während man sich über Online-Festivals mokiert, als gehe es ums eigene Überleben, bringt man die eigene Meinung wie selbst­ver­ständ­lich durch das Internet zu Gehör, wohl in der Einsicht, wie Öffent­lich­keit heute auf dem Stand der Dinge herstellbar ist. Für kritische Film­kultur jeden­falls ist das Internet die Rettung, nicht der Untergang. Anschei­nend ist man hier um den eigenen digitalen Fußab­druck weniger besorgt als um den »Ener­gie­ver­brauch« derje­nigen, die sich gerade oder überhaupt keinen Festi­val­be­such ermö­g­li­chen können und Filme notge­drungen online schauen. Wer sich Bahn und Hotel leisten, unein­ge­schränkt zu Festivals reisen kann, kennt solche Probleme natürlich nicht. Die einen fahren zu den Salz­burger Festi­val­spielen, die anderen nach Bologna zu Cinema Ritrovato. Das lässt ein elitäres Kultur­ver­ständnis befürchten. Bialas, Bachmann, Höglinger, Schern­huber und Schlüp­mann haben zumindest eines gemeinsam: in Städten mit Film­mu­seen zu leben, ein Privileg, das den wenigsten zuteil­wird. Da sieht man die Dinge natur­gemäß anders als anderswo.

Vor solcher Art Gemein­schaft wird mir Angst und Bange. Da bin ich lieber allein im Kino. An dieses Lager­feuer will ich nicht. Offenbar hat man hier kaum einen anderen Begriff von Kino als subjek­tive Erfahrung. Das ist sehr schlichte Phäno­me­no­logie mit einem bisschen Kultur­pes­si­mismus oben drauf. Wenn gesell­schaft­liche Eman­zi­pa­tion ausbleibt, droht herd­enge­mein­schaft­li­ches Erleben. Die Kino­wirt­schaft, der »Filmkunst« stets nur so viel taugt, wie sie gut ist fürs Geschäft, zieht längst am selben Strang: Mitten in der Corona-Krise rekla­mierte die AG Kino »Verfas­sungs­rang« für Kinos. Drunter macht man’s nicht mehr mit Kino­kultur.

Falsche Nähe

Da möchte man das Kino gegen seine Liebhaber vertei­digen und sich zunächst einmal über den Begriff von Kino verstän­digen, was also an Kino spezi­fisch ist. Hatten wir seit Benjamins bahn­bre­chendem Kunst­werk­auf­satz nicht ein medi­en­ge­schicht­li­ches Verständnis von Kino und Öffent­lich­keit? Die medi­en­ge­schicht­liche Einzig­ar­tig­keit des Kinos besteht doch darin, einem privaten Wesen eine öffent­liche Wahr­neh­mungs­form aufge­zwungen zu haben, aus Privat­per­sonen Bürger gemacht zu haben, die sich nicht mehr öffent­lich präsen­tieren, sondern sich selbst öffent­lich zu einer fremd­ar­tigen Wahr­neh­mung verur­teilen. Das bedeutete die Über­win­dung sozialer Nähe, des Originals und der Aura durch ein »taktiles« Verhältnis zur Wirk­lich­keit. Kino ist kein Schau­bu­den­zauber, keine Illusion; es ist die bislang tief­grei­fendste Auslie­fe­rung an die Welt, die größte und großar­tigste Zumutung bürger­li­cher Öffent­lich­keit. Man begreift jedoch allmäh­lich, dass das Kino nicht mehr zum Struk­tur­wandel einer Öffent­lich­keit passt, in der sich Leute eigent­lich nur noch am liebsten wie privat aufführen. In jeder Kunst­aus­stel­lung kann man »umschalten«, nicht so im Kino. Dem stand Kino entgegen, nicht aber durch »Gemein­schaft«, »Gegenwart«, »Nähe«, sondern durch Zwang. Im Kino unter­wirft sich das Bewusst­sein einem tech­ni­schen Regime: einer Sicht auf die Welt. Kino, das einmal als Ort der Unter­hal­tung galt, bewahrt uns als medi­en­ge­schicht­li­ches Relikt vor der Belie­big­keit, vor der Ablenkung, indem es uns auf die Welt bezieht, in der wir leben. Das geht, ich stimme zu, mit Online-Festivals verloren, nicht aber »Gegenwart« oder »Nähe«, Nestwärme des Kollek­tivs.

Im Kino ist für einen subjek­tiven Umgang mit der Welt kein Platz. Das unter­scheidet das Kino von den Künsten und den neuen Tech­no­lo­gien glei­cher­maßen. Und das ist radikal am Kino, immer geblieben. Es handelt sich um eine kultu­relle Praxis, ein verän­dertes Verhältnis zur Welt, nicht nur um eine neue Kunstform. Gilles Deleuze hat das in seinen beiden Büchern über das Kino benannt: Das Kino ähnelt im Grunde philo­so­phi­schen Konzepten, die Welt zu sehen. Und genau das machte das Kino so verdächtig und verhin­derte seine Aner­ken­nung in der arri­vierten bürger­li­chen Kultur, auch in ihrer kriti­schen Ausprä­gung im fort­ge­schrit­tenen Kunst­dis­kurs, der am Kino immer nur die Kunst wahr­nehmen will (»Kino als ästhe­ti­sche Erfahrung«, so Bachmann/Höglinger/Schern­huber) und nicht, was am Kino radikaler ist als die Kunst im Film.

Was von Cine­philie übrig geblieben ist, kann man überall dort besich­tigen, wo die Liebe zum Kino wie aller­gisch auf jeden Versuch reagiert, über Kino und seinen Stand kritisch nach­zu­denken. Cine­philie müsste das Kino also nicht nur gegen schlechten Geschmack vertei­digen, sondern ein Bewusst­sein der eigenen gesell­schaft­li­chen Hinfäl­lig­keit, ihres möglichen Schei­terns erlangen.

»Sehnsucht nach Nähe«, die Heide Schlüp­mann (für mich die bedeu­tendste deutsche Kino­theo­re­ti­kern) geltend macht, muss unbedingt geschützt und vertei­digt werden, möge man aber lieber woanders suchen. Wer im Übrigen will ermessen, wie Erleb­nis­tiefe für wen entsteht, sei es im Kino oder im Internet? Es ist anmaßend anzu­nehmen, dass wichtige Filme nicht auch auf anderen Wegen als durch das Kino Wirkung zeigen können: »alles verfügbar, nichts erfahrbar«, wie Bachmann/Höglinger/Schern­huber befürchten. Wenn wir aber den intel­lek­tu­ellen Austausch über Film und Kino vermissen, so führen wir den gerade und ohne falsche Nähe.

Abschließend sei der Hinweis erlaubt, dass das Konzept von »Cine­mal­overs« für digitale Kino­lein­wände, das Dunja Bialas lobend erwähnt, unter meiner Mitwir­kung entstanden ist und ich mich seit Jahren in Büchern, Artikeln und Inter­views für die Rettung der Kino­kultur einsetze. Dies freilich schließt für mich nicht die Möglich­keit einer gleich­zei­tigen digitalen Strategie aus, weder für Kinos noch für Festivals.

Der Autor ist Leiter der Inter­na­tio­nalen Kurz­film­tage Ober­hausen, Mither­aus­geber der Bände »Provo­ka­tion der Wirk­lich­keit. Das Ober­hau­sener Manifest und die Folgen« (2012) und »after youtube. Gespräche, Portraits, Texte zum Musik­video nach dem Internet« (2018) sowie Autor der Bücher »Das ortlose Kino. Über Margue­rite Duras« (2001), »Film und Kunst nach dem Kino« (2012/2017, auf Englisch 2019) und »Film­ge­schichte als Kino­ge­schichte. Eine kleine Theorie des Kinos« (2019).