11.06.2020

Projekt Voltaire

Wie ein Fremder
Mehr Mythos als real: Musiker in Deutschland
(Foto: Mindjazz Pictures / Thomas Rabsch)

Musiker können in Deutschland nur schlecht vom Pop leben – eine Serie

Von Jens Balkenborg

Fremd bin ich einge­zogen,
fremd zieh’ ich wieder aus

Winter­reise, Franz Schubert, Wilhelm Müller

Aljoscha Pauses fünf­tei­lige Dokuserie »Wie ein Fremder – Eine deutsche Popmusik-Geschichte« beginnt mit einem Zitat aus Schuberts Winter­reise. Und sie ist genau das: eine Reise. Eine tatsäch­liche, eine persön­liche und eine kreative.

Der Fremde im Zentrum der Serie dürfte den meisten tatsäch­lich fremd sein: Roland Meyer de Voltaire. Der 1978 in Bonn geborene Musiker war der Krea­tiv­kopf hinter der 2011 aufgelösten Band Voltaire, die Mitte der 2000er Jahre von der Kritik als aussichts­reiche deutsche Newcomer gefeiert wurden. Komplexe deutsch­spra­chige Texte, ein Sound mit poppiger Attitüde, Gitar­ren­riffs und Brüchen, dazwi­schen de Voltaires gerne auch in die Kopflagen lavie­rende Stimme. Dass der »Rolling Stone« die Band als »schönste Aussicht auf das Jahr 2006« neben die Indie-Rocker der Arctic Monkeys stellte, half aller­dings eben so wenig wie der Plat­ten­ver­trag bei Universal.

»Ich glaube, dass die meisten sich nicht vorstellen können, wie wenige Musiker eigent­lich von ihrer Musik leben können«, fasst es SWR-Mode­ra­torin Chris­tiane Falk nüchtern zusammen. Sie ist eine der Stimmen dieser Dokuserie, für die Pause den Musiker sechs Jahre lang beglei­tete. Die beiden kennen sich schon länger, de Voltaire hat, neben anderen Projekten, die Sound­tracks für Pauses Fußball-Dokus, zuletzt etwa für Inside Borussia Dortmund, beigesteuert. Der Bonner Regisseur hat zuvor mit seinen Lang­zeit­stu­dien Tom Meets Zizou – Kein Sommer­mär­chenTrainer! oder Being Mario Götze – Eine deutsche Fußball­ge­schichte die Fußball-Szene durch­leuchtet. Jetzt gewährt er einen Einblick in das Leben eines Musikers und in den deutschen Popmu­sik­zirkus.

Bei den ersten Begeg­nungen im Jahr 2014 wirkt Roland Meyer de Voltaire wie ein Gestran­deter, wie er da in seinem Kölner WG-Zimmer wohnt und am Exis­tenz­mi­nimum herum­krebst. Die Miete muss er teils mit Instru­men­ten­ver­käufen zusam­men­kratzen. »Da gibt es kein Mandat für einen tollen Musiker, dass er da irgend 'ne Berech­ti­gung hätte«, erklärt Musik­ex­press-Redakteur Linus Volkmann. In Rück­bli­cken zeigt Pause Musik­vi­deos und Live-Auftritte aus den good old days und lässt Exper­tinnen und alte Band­mit­glieder ihre Verwun­de­rung darüber zum Ausdruck bringen, dass der Mann nicht völlig durch die Decke gegangen ist.

Die Serie gibt sich gerade zu Beginn viel Mühe, Mythen­bil­dung zu betreiben: De Voltaire, die zarte Künstler-Seele, das verkannte Genie! Das ist eine Spur zu dick aufge­tragen und soll der Drama­turgie dieser sehr klassisch geratenen Doku-Serie dienen. Die kommt in manchen Momenten konse­quen­ter­weise, wie man ergänzen muss, selbst wie ein Popsong daher. Es braucht halt ein bisschen Drama.

Und doch folgt man de Voltaire gerne bei seinem persön­li­chen und vor allem kreativen Wandel. Ist da anfangs noch ein Stör­ge­fühl, wenn der zunächst über­idea­lis­tisch wirkende Mann, unter­stützt noch von seinen Eltern, sich als für die Musik geboren betrachtet, kommt im Laufe der Seri­en­mi­nuten immer mehr die Erkenntnis: Das ist völlig ernst gemeint, und zwar mit aller Konse­quenz!

Von Köln verschlägt es de Voltaire nach Berlin, wo er sich in einem noma­di­schen Dasein in verschie­denen Wohnungen von Freunden und Bekannten neu sortiert. Wir folgen ihm zu Gesprächen mit Produ­zenten oder in den Proberaum der deutschen Rockband Madsen, die fast zeit­gleich mit Voltaire bekannt wurde, sich aller­dings bis heute gehalten hat. Wir sehen den Kompo­nisten und Soundf­rickler in seinem kleinen Heim-Studio vor neuen Produk­tionen, an denen er arbeitet, als Ideen­geber für eine Bekannte, bei der er schließ­lich einzieht und auch im Studio von Rapper Uchenna van Capel­le­veen alias Megaloh, für den de Voltaire schon länger als Gast­sänger arbeitet. Trotz musi­ka­li­scher Erfolge muss auch der Rapper sich nebenbei im Lager eines großen Paket­lie­fe­ranten verdingen, um sich »genug Zeit und Sicher­heit für seine Musik« zu verschaffen, wie er erklärt.

»Wie ein Fremder« ist einer­seits die in Serie gegossene Entro­man­ti­sie­rung des Popmusik-Traums. Eine zuge­spitzte Botschaft lautet: Für wirkliche Krea­ti­vität ist im auf Radio­taug­lich­keit und ökono­mi­sche Inter­essen gebürs­teten Show­busi­ness wenig bis gar kein Platz und Geld verdienen die wenigsten. Ande­rer­seits hat es zugleich etwas Roman­ti­sches, wie Pause dem selbst­kri­ti­schen, teils unschlüssig herum­sto­chernden, aber doch ziel­stre­bigen Sound­per­fek­tio­nisten de Voltaire dabei zuschaut, wie er versucht, seinen Traum zu leben.

Die kreative Reise, auf der wir ihn begleiten, scheint eine vom Licht ins produk­tive Dunkel: von ehemals deutschen Texten hin zu engli­schen, von akus­ti­schen Sounds hin zu elek­tro­ni­schen. »Schwarz« nennt sich das Projekt, das sich langsam aus der Serie heraus­schält. Inspi­riert von der »Dunkel­heit, bevor der Film losgeht«, so de Voltaire, vermischt er 80er-Jahre-Synthe­sizer mit Sound­s­capes, die Radio Head-Krea­tiv­motor Thom Yorke in seinen Solo­pro­jekten eingehend karto­gra­fiert hat. Mehr Kraft als auf Platte entwi­ckelt Schwarz live. Es ist ein starker Moment der Serie, wenn der Musiker, gemeinsam mit einer Cellistin und einer Pianistin, erstmals seit Langem wieder auf der Bühne steht und vor kleinem Publikum ein Akustik-Arran­ge­ment des Songs »Shine« zum Besten gibt. Auch davon erzählt die Serie: Musik gehört auf die Bühne.

»Wie ein Fremder – Eine deutsche Popmu­sik­ge­schichte«
Als DVD / VoD bei Mindjazz Pictures