11.06.2020

Pflanzen ohne Wurzeln

This is Us
»This is Us«: Vorgelebter Serien-Alltag als neues, Rassismus überwindendes Rollenmodell?
(Foto: 20th Century Fox Home Entertainment)

Der amerikanische Film reagiert seit dem »New Black Cinema« und Filmen wie John Singletons Boyz 'n the Hood (1991) mit wuchtiger Kreativität gegen Rassismus, aber wie in Deutschland und anderswo scheint Film nicht wirklich »systemrelevant« zu sein – denn die alten Stereotypen werden über ein reform-resistentes Bildungssystem munter weiter reproduziert. Nur der Massenmarkt mit Serien wie »This is us«, »Little Fires Everywhere« oder »Queen Sono« macht ein wenig Hoffnung

Von Axel Timo Purr

»Our scars do not mean we are broken. They are proof we are healed.«
Jas Waters

Sieht man sich Arthur Jafas 7-minütige Video-Instal­la­tion Love Is The Message, The Message Is Death im Museum of Contem­porary Art in Chicago an, in der Jafa Video-Clips aus Jahr­zehnten normalen afro-ameri­ka­ni­schen Alltags gegen Szenen von außer­ge­wöhn­li­cher Gewalt gegenüber afro-ameri­ka­ni­schen Körpern schneidet, oder hat man im letzten Jahr die Art Biennale in Venedig besucht und dort die ästhe­tisch und inhalt­lich ähnlich beein­dru­ckenden Zwei-Kanal-Videos BLKNWS von Kahlil Joseph gesehen, eine Nach­rich­ten­sender-Variante von Arthur Jafas Video­ar­beit, die in ihrer Analyse und Darstel­lung von rassis­tisch konno­tierter »Blackness« in den USA aber dann auch fast so etwas wie einen Lösungs­vor­schlag zur ange­spannten Lage zwischen Schwarz und Weiß sugge­rieren, und hat man dann viel­leicht auch noch das letzt­jäh­rige Sundance-Film­fes­tival besucht, bei dem eine Doku­men­ta­tion wie Always In Season von Jacque­line Olive über eine bis in die Gegenwart reichende Lynch­justiz gegenüber Afro-Ameri­ka­nern und die Welt­pre­miere von Rashid Johnsons Native Son einen Diskurs darüber auslösten, wie man denn nun am besten über alltä­g­li­chen Rassismus sprechen, schreiben und Filme machen soll, so kann man sich nur an den Kopf fassen.

The Hate U Give

Denn schon vor dem letzten Sundance-Festival rollte ja bereits eine dichte, fast alle Genres bedie­nende Welle von US-ameri­ka­ni­schen Filmen über die Welt, die afro-ameri­ka­ni­sche Selbst­er­mäch­ti­gung thema­ti­sierten und sich kritisch mit Geschichte und Gegenwart von Rassismus in Amerika ausein­an­der­setzten. Von Moonlight (2016) über I Am Not Your Negro (2016), Black Panther (2018) Get Out, (2017), BlacK­kKlansman (2018), Green Book (2018) oder If Beale Street Could Talk (2018) war so ziemlich alles dabei, was man sich nur wünschen kann. Und nicht nur das, mit The Hate U Give wurde endlich auch der Jugend­film bedient, ein nicht zu unter­schät­zender Faktor. Denn wie soll man Bewusst­sein verändern, ohne in die frühe Sozia­li­sie­rungs­phase eines Menschen einzu­greifen?

Und George Tillman Jrs 2018 erschie­nener The Hate U Give ist ein geradezu idealer Stoff, um zu poli­ti­sieren, das zeigte bereits die 2017 erschie­nene lite­ra­ri­sche Vorlage, der gleich­na­mige Jugend­roman von Angie Thomas, der es über einen furiosen Einsatz von Slang und ein viel­leicht etwas zu sche­ma­tisch und pädago­gisch ausge­rich­tetes Narrativ geschafft hatte, sich weit über ein jugend­li­ches Ziel­pu­blikum hinaus über 50 Wochen lang auf der Best­seller-Liste der New York Times zu halten.
Tillmans hält sich dicht an die lite­ra­ri­sche Vorlage, die ja beides ist, einer­seits klas­si­scher Post-Blackness-Roman, andrer­seits klas­si­sche Coming-of-Age-Literatur. Auch im Film sehen wir beide Narrative eng mitein­ander verwoben, folgen wir dem akribisch genau geschil­derten Alltag der 16-jährigen Afro-Ameri­ka­nerin Starr Carter (Amandla Stenberg), die sich trotz ihrer Vaters Maverick (Russell Hornsby), der sie seit ihrer frühesten Kindheit mit den Ideen und Regu­la­rien der Black-Panther-Bewegung konfron­tiert und drillt, jugend­liche Leich­tig­keit bewahrt hat.

Ihr Vater hat sich von seiner Gang-Vergan­gen­heit zwar eman­zi­piert und hat einen kleinen Laden im »schwarzen« Viertel und will – obwohl finan­ziell eigent­lich zu einem Umzug in eine bessere Gegend prädes­ti­niert – dort auch wohnen bleiben, auch wenn Starrs Mutter Lisa (Regina Hall) sich immer wieder dagegen ausspricht. Dafür darf Starr eine »bessere«, also »weiße« Schule besuchen, um im späteren Leben alle Chancen zu haben. Ähnlich wie im Roman benutzt auch Tilman die Sprache, um aufzu­zeigen, wie verfahren die Lage ist, wie schwer die Grenz­gänge zwischen den Paral­lel­welten sich gestalten. Wechselt Starr in ihrer Familie und zwischen Freunden fließend von normalem Hocheng­lisch zum Hood-Slang, bewegt sie sich in ihrer Schule auf schwie­ri­gerem Terrain. Hier sprechen zwar alle (weißen) Schüler Hood-Slang, um cool zu sein, Starr jedoch muss gerade hier penibel auf ihr Hocheng­lisch achten, um nicht an Achtung zu verlieren. Diese tragische Groteske, in der Sprache zu einem verdrehten Ghetto wird, zeigt sich auch in anderen basalen Alltä­g­lich­keiten wie dem Essen. Hier müssen Starr und ihr Bruder Starrs weißem Freund Chris (K. J. Apa) vor einem ersten Besuch bei Starrs Vater genau erklären, was in afro-ameri­ka­ni­schem Kontext Beilage und was Haupt­speise ist.

Diese genauen ethno­gra­fi­schen Beob­ach­tungen gehören zu den stärksten Szenen von The Hate U Give, weil sie gerade in ihrer Alltä­g­lich­keit zeigen, wie weit der Graben zwischen weiß-ameri­ka­ni­scher und afro-ameri­ka­ni­scher Kultur ausein­an­der­klafft. Die eigent­liche Drama­ti­sie­rung der Handlung und Poli­ti­sie­rung Starrs geschieht dann über schon fast stereotyp zu nennende und dann doch nur allzu wahre Muster, als Starr miter­leben muss, wie ihr alter Jugend­freund Khalil (Algee Smith) bei einer »Routi­ne­kon­trolle« der Polizei neben ihr erschossen wird. Erst jetzt begreift Starr nicht nur die 10 »Gebote« der Black Panther, sondern auch die von ihrem Vater streng vorge­tra­genen Verhal­tens­re­geln für ein Überleben als Mensch mit schwarzer Hautfarbe, sondern versteht vor allem, dass man als Schwarzer von Weißen nicht nach inneren Werten erkannt wird, sondern stets nach dem Äußeren, der Hautfarbe, die sich nun mal beim besten Willen nicht »akkul­turieren« lässt.

Boyz n the Hood

Die verzwei­felte Wucht, mit der ein »Jugend­film« wie The Hate U Give seine Geschichte erzählt, lässt das Thema Rassismus so aktuell und virulent erscheinen, dass man fast vergessen könnte, dass die gegen­wär­tige Welle an Filmen nicht der erste, verzwei­felte Versuch Holly­woods ist, sich von der Geißel rassis­ti­schen Denkens zu befreien, dass es mit dem New Black Cinema in den 1980ern und 1990ern ja schon einmal soweit war.

Mit Spike Lees und John Single­tons Werken erhielten erstmals »schwarze« Filme Oscar-Nomi­nie­rungen und einer der Filme, John Single­tons Boyz n the Hood,galt damals als ähnlich innovativ wie heute Barry Jenkins' Moonlight. Auch Singleton erzählt die Geschichte des Groß­wer­dens in schwie­rigen, afro­ame­ri­ka­ni­schen Verhält­nissen, erzählt von der Eman­zi­pa­tion tradierter Rollen­mo­delle, vom Kampf, sich zu finden und neu zu erfinden.

Singleton brauchte jedoch nur zwei Lebens­ab­schnitte, sein Sound­track war der »unchopped«-Rap der damaligen Zeit, der allein durch die Roto­ren­geräu­sche der Hubschrauber des L.A.-Police-Depart­ments gebrochen wurde. Und Boyz n the Hood verstörte und berührte viel­leicht gerade deswegen mehr als heute Moonlight, weil er den Fokus ganz allein auf die Geschichte stellte, sich jeglicher poeti­scher Ambi­va­lenz verwei­gerte, die väter­liche Rolle noch eindeutig positiv besetzt ist und Singleton sich weder um Farben noch Erzähl­hal­tungen scherte. Und vor allem: diese Geschichte zum ersten Mal erzählt wurde.

Heute wissen wir von der Margi­na­li­sie­rung der afro­ame­ri­ka­ni­schen Minder­heit, sie ist Teil der ständigen News-Gewitter, die peri­odisch so wie jetzt nach dem Tod George Floyds über uns herein­bre­chen – und so wie die jungen Filme­ma­cher auf dem letzten Sundance-Festival ahnen tief im Inneren, dass sich trotz jahr­zehn­te­langem filmi­schem »Aufbäumen« und welt­weiter Demons­tra­tionen sehr wahr­schein­lich nur sehr wenig ändern wird.

This is Us

Denn wie soll es das auch, wenn nicht nur die ameri­ka­ni­sche, sondern auch so ziemlich alle west­li­chen Gesell­schaften innerhalb ihres Bildungs­sys­tems einem Curri­culum folgen, das rassis­ti­sche Stereo­typen schon über den Grund­la­gen­un­ter­richt bedient. In dem – um nur ein Bespiel zu nennen – stets von einem Afrika ohne kultu­relle und geogra­fi­sche Diffe­ren­zie­rungen erzählt wird, und das dann über die dann erwach­senen Schüler und späteren Jour­na­listen dementspre­chend nicht über einen Kontinent der drei »Ks« hinaus­kommt, einen Kontinent der Kriege, Krank­heiten und Korrup­tion. (1) Ein Modus Operandi, der dementspre­chend genauso mit Exil-Commu­nities und erst recht mit lang tradierten »ethni­schen Hier­ar­chien« wie der zwischen Weißen und Afro-Ameri­ka­nern in den USA funk­tio­niert.

Aber was nur tun, wenn das im Grunde alle Menschen errei­chende Bildungs­s­system sich Reformen verwei­gert, die erst einen nach­hal­tigen, »verwur­zelten« Para­dig­men­wechsel der breiten Massen ermö­g­li­chen würde?

Jugend­filme wie The Hate U Give sind zwar ein Hoff­nungs­schimmer, doch die Einspiel­zahlen sind derart ernüch­ternd, dass viel­leicht dann doch das massen­taug­liche, so wie die Schulen fast alle »Betei­ligten« errei­chende, kino-unab­hän­gige Format »Serie« die realis­tischste Option scheint, neue Sicht­weisen durch eine Art von Reframing zu etablieren – vorge­lebter Serien-Alltag als neues, Rassismus über­win­dendes Rollen­mo­dell.

Dazu bietet sich nicht nur eine Serie wie die in diesem Frühjahr gelaunchde Netflix-Serie Queen Sono an, die erste von »script-to-screen« in Schwarz­afrika produ­zierte Serie, die pointiert alte, rassis­ti­sche Stereo­typen hinter­fragt und im Gegenzug einen erfri­schend-radikalen Pan-Afri­ka­nismus und quick­le­ben­diges, femi­nis­ti­sches Geheim-Agenten-Action-Kino bietet, sondern viel­leicht noch mehr – weil kulturell ja dann doch viel näher – die ameri­ka­ni­sche Fami­li­en­serie, die ja nicht erst seit Dallas (1978) stets bewiesen hat, wie politisch sie sein kann.

Eine der nicht nur erfolg­reichsten, aber auch diffe­ren­zier­testen Serien der letzten Jahre, die die Kluft zwischen Weiß und Schwarz in den USA thema­ti­sieren, ist sicher­lich This is Us, eine bislang auf vier Staffeln ange­wach­sene filmische Erzählung, die in mehreren Zeit­ebenen dem Leben dreier Personen, die am gleichen Tag geboren wurden, und dem ihrer Eltern folgt: Kate und Kevin Pearson kommen 1980 als Teil einer Dril­lings­ge­burt zur Welt, doch als das dritte Kind bei der Geburt stirbt, beschließen die Eltern Jack und Rebecca, ein weiteres Kind, Randall, spontan zu adop­tieren. Der am selben Tag geborene afro­ame­ri­ka­ni­sche Junge ist von seinem Vater vor einer Feuer­wache ausge­setzt und später in dasselbe Kran­ken­haus gebracht worden, in dem Kate und Kevin zur Welt kamen.
Die Geschichte springt zwischen der Kindheit der drei Prot­ago­nisten mit ihren Eltern in Pitts­burgh und ihren heutigen Fami­li­en­leben und Karrieren in Los Angeles und New York City, nähert sich aber auch kriti­schen Momenten US-ameri­ka­ni­scher Geschichte wie dem Viet­nam­krieg an, fokus­siert jedoch in stets wieder­keh­renden erzäh­le­ri­schen Schleifen und dezidiert kritisch und in allen Lebens­lagen auf die so unter­schied­li­chen Lebens­be­find­lich­keiten, die sich trotz eines iden­ti­schen sozialen Umfelds für Randall, den Afro-Ameri­kaner in der weißen Familie, auf seiner Suche nach seiner »wirk­li­chen« Identät ergeben.
Dabei besticht This is Us und Showrunner Dan Fogelman nicht nur durch die Auswahl an afro-ameri­ka­ni­schen Regis­seuren wie Regina King und The Hate U Give-Regisseur George Tillman Jr., sondern auch durch eine unkon­ven­tio­nelle Zusam­men­stel­lung des Writer’s Rooms, der nicht nur mit afro-ameri­ka­ni­schen Autorinnen wie Kay Oyegun and Jas Waters (2) besetzt ist, sondern mit seinem 30%-Anteil an afro-ameri­ka­ni­schen Autoren den Hollywood-Standard von 5% auch sonst bei Weitem über­flü­gelt.

Bietet This is Us allein schon durch den fami­liären Alltags-Kampf um die Über­win­dung rassis­ti­scher Grenz­li­nien die Chance auf jahre­langes »Reframing«, das sich in seiner immer wieder unver­blümten Darstel­lung von afro-ameri­ka­ni­scher »Realität« und »Identität« den eingangs erwähnten Zwei-Kanal-Videos BLKNWS von Kahlil Joseph und einer echten Vision auf Verän­de­rung der Zustände annähert, geht es in der gerade auf Amazon erschie­nenen Kurzserie Little Fires Everwhere viel mehr um eine Abrech­nung mit der herr­schenden Whiteness in den USA. So wie in Breaking Bad, der ersten Staffel von True Detective, oder noch viel eindeu­tiger in Ozark, wird hier vor allem die Doppel­moral eines weißen Familien-Ideals hinter­fragt, das über eine »Konkur­renz­si­tua­tion« mit einer afro-ameri­ka­ni­schen, allein­er­zie­henden Mutter drama­ti­siert wird.

Die Umsetzung des gleich­na­migen Romans von Celeste Ng mit Reese Witherspoon und Kerry Washington in den Haupt­rollen ist an etlichen Stellen schon fast zu eindeutig didak­tisch angelegt, spürt man immer wieder, dass der für eine so kurze Serie übermäßig bestückte Writer’s Room seinen Anteil fordert und zu Über­dra­ma­ti­sie­rungen neigt, doch wird im Gegenzug dafür vor allem eins deutlich: wie subtil und vor allem unbewusst rassis­ti­sches Fühlen, Denken und Handeln selbst in »liberal«, »anti-rassis­tisch« denkenden Familien verankert ist. Dass bei allem Wollen und Gutsein es dann doch nur Pflanzen ohne Wurzeln sind, die bei dem leisesten Wind fort­ge­tragen werden.

(1) Weitere Infor­ma­tionen zum aktuellen Afrika-Diskurs in den Medien in I didn’t do it for you, nigger. Zum aktuellen Afrika-Diskurs in den Medien. (erschienen in: Deutsch-afri­ka­ni­sche Diskurse in Geschichte und Gegenwart, Literatur- und kultur­wis­sen­schaft­liche Perspek­tiven, Amster­damer Beiträge zur neueren Germa­nistik. Hrsg: Michael Hofmann, Rita Morrien. Amsterdam, Rodopi/Brill, 2012.)

(2) Jas Waters, die sich am 9. Juni das Leben genommen hat, enga­gierte sich nicht nur erzäh­le­risch wie in This is Us für eine stärkere Betei­li­gung afro-ameri­ka­ni­scher Themen und Autoren in Film und Fernsehen, sondern auch in Serien wie Kidding: »On Kidding I’m the only black writer and the only writer of color, as far as the staffing level. So it’s my respon­si­bi­lity to write the show along with everyone else and to ideate and track story, but it’s also my respon­si­bi­lity to make sure that like, ›Wait a minute. Why is everyone in this scene white?‹ My fight is still the same fight, and I don’t have anyone who looks like me fighting in the room. I’m fighting alone, but I’m still fighting.« (aus einem Interview mit dem »Behind-the-scenes-Coverage-of-Black-Hollywood-Magazin Shadow & Act, 2018«)