11.06.2020

Nichts ist jetzt gar nichts mehr

We are One
Sind wir jetzt eins? Kritik am Online-»Festival«
(Foto: We are One / Youtube)

Nicht Cannes, nicht Fassbinder, nicht Wirklichkeit – Gedanken zur 73. Ausgabe des Filmfestivals von Cannes im Moment seiner Absage und zum Betrug am Publikum

Von Rüdiger Suchsland

»Das Leben muss bis zum Tod hin gelebt werden können, sonst kann der Tod nicht gestorben werden.
Trotzdem gibt es Empfeh­lungen, dass Menschen ab einem bestimmten Alter vor diesem Leben und der damit verbun­denen Gefahr es zu verlieren, besonders geschützt werden sollen. Warum? Nicht damit sie gar nicht sterben, sondern damit sie, wenn es soweit ist, als sowieso bald Sterbende keinen Stau in Kran­ken­häu­sern erzeugen können.«
Josef Bier­bichler

Das Virus ist absurd. Niemand hat das so erkannt, wie Josef Bier­bichler. Ich kenne keine präzisere Erfassung des Kinder­gar­tens, in den wir uns alle frei­willig, keines­wegs gezwungen und in den meisten Fällen trotzdem wider­willig, aus Ratlo­sig­keit verwan­deln, als die von Josef Bier­bichler, und seine Geschichte über die »zwei grau­haa­rigen Schul­buben« Josef Bier­bichler und Alexander Kluge.

Glasklar benennt Bier­bichler die komplette Umwälzung des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­le­bens und die notwen­dige Korrektur des Geis­tes­zu­stands einer Gesell­schaft. Unseres Geis­tes­zu­stands.

Es geht nicht um neue Norma­lität und darum, dass »alles anders wird«, sondern darum, dass bald alles wieder so ist, wie es war. Macht euch bitte nichts vor!

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Hat sich irgend­einer mal gefragt, was Fass­binder wohl für Filme »über die Pandemie« gemacht hätte?

Wie er »innerhalb der gültigen Abstands­re­geln« gefilmt hätte? Eine groteske Vorstel­lung. Wo ist es mit uns hinge­kommen?
Warum machen wir diesen Schwach­sinn mit? Alle, ohne Ausnahme. Warum sind wir so vernünftig? Warum haben wir das Spielen und die Leiden­schaft verlernt?

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Letzte Woche trudelten sie rein, und nie waren sie absurder und blöd­sin­niger als diesmal: Die Pres­se­mit­tei­lungen der Film­för­derer. Wer sich da alles »freute«, und »stolz war«. Als sei nichts geschehen! Sie kommen einfach nicht raus aus ihren Routinen, die Verwalter der verwal­teten Welt, die, die nichts an dieser besser, und vieles schlechter machen, weil sie das System »am Laufen halten«.

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Mir tut vor allem Oskar Roehler leid! Noch nie war er in Cannes in der Sélection Offi­ci­elle, einmal wäre er da gewesen. Mit seinem Film über Fass­binder hätte er da großartig hinge­passt und es allen zeigen können, die ihn schon lange abge­schrieben oder sowieso nie ernst­ge­nommen haben.

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Thierry Frémaux kann man auch in der Schrift­form die Erschüt­te­rung anmerken. »Cancel­la­tion has never been an option« schreibt der Direktor des Film­fes­ti­vals von Cannes in einem erstaun­lich langen, nach­denk­li­chen und zugleich wider­stän­digen Text.

Nur 1939 durch den Kriegs­aus­bruch sei das Festival abgesagt worden, 1968 abge­bro­chen. »It was necessary for it to take another form. It could not just disappear.« Frémaux vertei­digt und definiert zugleich das Film­fes­tival als Diener der Filme­ma­cher und des Kinos. Nicht der Filme und des Filme­zei­gens um jeden Preis. Sondern als Ort der »Mytho­logie des Kinos«.

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»This Selection is here, and it’s a beautiful one. Even though movie theatres have been shut for three months – for the first time since the invention of film screening by the Lumière Brothers on December 28, 1895 – this Selection reflects that cinema is more alive than ever. It remains unique, irre­pla­ce­able. We live in a world where moving images are in constant evolution, whether we talk of the way the movies are shown or the movies them­selves. Cinema makes a diffe­rence thanks to those who make it, those who give it life and those who receive it and make it glorious. 'Coming soon to a theatre near you': the formula has never been so compel­ling. We will see it soon: cinema is not dead, it’s not even sick.«

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Manche Filme­ma­cher haben entschieden, ihren Film kommendes Jahr zu zeigen. 2021 ist das Jahr!
»The year 2021 will be important in many, many ways.«

»We will all miss the Cannes expe­ri­ence this year. We will all miss the Cannes effect: what a single projec­tion at the Palais des Festivals gives birth to, an accla­ma­tion, a repu­ta­tion, a storm and sometimes a thun­der­storm. All things that make up the flavor and richness of the 12 days of the Cannes Film Festival, before the films go to find other fortunes and other successes in cinemas and festivals around the world.«

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Vor zwei Wochen ging es los. Ein »globales Film­fes­tival«. Alle wichtigen Film­fes­ti­vals waren dabei. Insgesamt 21 taten sich zusammen. Alle zeigen Filme. Dazu Aufzeich­nungen von Podi­ums­dis­kus­sionen, Master­classes und Präsen­ta­tionen. Und alles gratis.

Begleitet von einer Spen­den­ak­tion für die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion (WHO) und weitere lokale Charity-Orga­ni­sa­tionen. Die Berlinale ist natürlich auch dabei.

Eine tolle Sache – oder?

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Es klingt wahn­sinnig mensch­lich: »We are one«. »Wir sind eins«. So wie man sich die Welt eben wünscht, wenn man sie sich malen könnte, und wenn das eine einzig Übrig­ge­blie­bene nicht gerade ein globaler Konzern, ein trans­na­tio­naler Strea­ming­dienst oder ein welt­weites Online-Kaufhaus ist.

»We are one« das klingt fast so wie »We are the world. We are the children« – sehr werbe­taug­lich, sehr ameri­ka­nisch, sehr nach saccha­rin­ge­süßter Humanität und asep­ti­schen Gefühlen.

Machen wir uns bitte nichts vor: »We are one« ist zual­ler­erst einmal eine Marke­ting­idee. Der Versuch einer Marken­bil­dung.
Das was hier Marke werden soll, ist nicht etwa das Kino, und schon gar kein spezi­eller Film, sondern in aller­erster Linie ist es Youtube.

Youtube, das Gegenteil von Kino und Film­kultur, tritt hier plötzlich auf als deren Vertei­diger.

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Auch wem es ganz fern liegt, Youtube zu verteu­feln; auch wer Youtube total gern mag als ein öffent­li­ches Archiv für Musik­vi­deos und verges­sene Fern­seh­stücke, für wissen­schaft­liche Vorträge und für seltene Film­klas­siker, und wem es auch nichts ausmacht, dass die Seite auch ein Tummel­platz für allerlei schräge Typen und Quar­tals­irre ist, und leider auch für einige Ratten­fänger und schlimme Hetzer – wer all das akzep­tiert, der kann doch trotzdem gleich­zeitig der Ansicht sein, dass Youtube zwar für vieles gut ist, aber ein Kino, auch nur ein Kino-Ersatz ist es auf keinen Fall.

Und dann noch alles gratis. Das mag man gern, »Geiz ist geil«, und die Popu­listen aller Welt lieben Billig­kunst – aber tatsäch­lich ist nicht zuletzt diese Gratis­men­ta­lität der Toten­gräber aller Kultur.
Egal wie, ob mit indi­vi­du­ellen Eintritts­gel­dern, per Abon­ne­ment oder mittels einer Kultur­flat­rate – irgendwie muss das hoch­wer­tige Gut Kultur bezahlt werden, irgend­etwas darf es dem zum »Nutzer« mutierten Publikum auch im Digital-Zeitalter wert sein.
Vor allem aber müssen die Künstler von ihrer Arbeit leben können, für ihre Krea­ti­vität ange­messen entlohnt werden.

Zwar darf man der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion spenden – aber seien wir ehrlich: Deren Aura verblasst auch gerade.

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Ist das alles nicht trotzdem eine tolle Sache? Nein, ist es nicht!

Es ist vielmehr ein mehr­fa­cher Betrug. Ein Betrug am Zuschauer und an der inter­na­tio­nalen Öffent­lich­keit. Ein Betrug an den Filme­ma­chern. Und am Ende ein Betrug am Kino selbst.

Ein Betrug am Zuschauer ist es, weil die Filme, die »We are One« zeigt, oft uralt sind, und längst woanders und besser gesehen werden konnten.
Und was neu ist, stammt noch nicht mal aus der zweiten Reihe.

Ein Betrug an der inter­na­tio­nalen Öffent­lich­keit ist es, weil hier vorge­gau­kelt wird, das Programm habe irgend­etwas mit dem Film­pro­gramm renom­mierter Festivals zu tun. Aber Venedig, das nach wie vor damit rechnet, im September statt­zu­finden, wird sich hüten, seine Film­schätze umsonst weltweit auszu­kü­beln.
Cannes genauso, schließ­lich hat man sich auch vor Corona jedem Einkni­cken gegenüber Strea­ming­diensten versagt – warum also ausge­rechnet jetzt, ohne Geld, auf der Internet-Rester­ampe?

Ein Betrug an den Filme­ma­chern ist das alles, weil sie von dem natürlich trotzdem per Werbung erwirt­schaf­teten Geld nichts abbe­kommen, und weil der Profit und Image­ge­winn für Youtube ihnen nichts nutzt, eher schadet.

So ist »We are One« ein Verrat am Kino selbst, der zu seiner Zerstö­rung beiträgt und mit gezinkten Karten gespielt.

Bei diesem neuesten Streich der US-Film­in­dus­trie kann man ausnahms­weise sogar mal den ameri­ka­ni­schen Präsi­denten zitieren: »It’s a fake!«