14.05.2020

Sind Viren die besseren Terroristen (und Regisseure)?

DIE VERLORENE EHE DER KATHARINA BLUM
Teil eines jahrzehntelangen »Heilungsprozesses« – Volker Schlöndorffs und Margarethe von Trottas Die verlorene Ehre der Katharina Blum
(Foto: Axel Timo Purr – DVD Cover)

Der 14. Mai 1970 vor heute genau 50 Jahren gilt als Gründungstag der Rote Armee Fraktion (RAF), die nicht nur die deutsche Politik, das deutsche Rechtswesen und den deutschen Alltag verändert, sondern auch den deutschen Film nachhaltig geprägt hat. Und eine Ahnung davon gibt, was nach Corona an Filmen auf uns zukommen wird.

Von Axel Timo Purr

»›Was guckst du mich denn so entgeis­tert an, mein Blümelein – ich schlage vor, daß wir jetzt erst einmal bumsen.‹« Nun, inzwi­schen war ich bei meiner Hand­ta­sche, und er ging mir an die Kledage, und ich dachte: „Bumsen, meinet­wegen“, und ich hab die Pistole raus­ge­nommen und sofort auf ihn geschossen. Zweimal, dreimal, viermal. [...] Gut, jetzt bumst’s. [...] Ohne Reue, ohne Bedauern. Er wollte doch bumsen, und ich habe gebumst, oder?‘ – Heinrich Böll, Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann

Sehe ich die tagtä­g­liche Freude meines 9-jährigen Sohnes über die Corona-bedingten Schul­schließungen, muss ich immer wieder an meine eigenen, nie erfüllten Hoff­nungen auf Schul­schließungen während meiner Kindheit denken. Aller­dings hatte ich keinen Virus, der mir »beistand«, sondern nur die RAF, deren Mitglieder für mich aller­dings zu Hoff­nungs­trä­gern und Helden ohne­glei­chen avan­cierten.

Von der eher infor­mellen Gründung der Rote Armee Fraktion (RAF) durch die gewalt­same Befreiung Andreas Baaders aus der Haft am 14. Mai 1970 in West-Berlin, die als Geburts­stunde der links­ex­tremen Terror­or­ga­ni­sa­tion gilt, hatte ich kaum etwas wahr­ge­nommen, weil ich einfach noch zu jung war. Aber das war schlag­artig vorbei, als die RAF in ihrer erra­ti­scher Entwick­lung zunehmend Fahrt aufnahm und 1975 die zweite Genera­tion der RAF unter dem »Kommando Holger Meins« die deutsche Botschaft in Stockholm überfiel und Geiseln nahm. Spätes­tens ab diesem Moment fieberte ich jeder weiteren Aktion der RAF entgegen, immer in der Hoffnung, dass die RAF nicht nur den Straßen­ver­kehr durch Groß- und bald auch erste Raster­fahn­dungen desta­bi­li­sieren möge, sondern bald auch die ganze deutsche Gesell­schaft, so dass es irgend­wann auch die Schulen treffen würde.

Wie eine Träne im Ozean

Ich ähnelte in meiner Sehnsucht nach »verbrannter Erde« den heutigen Wutbür­gern und ihren Verschwö­rungs­theo­rien, die mit der zunehmend gewalt­be­reiten Kündigung unseres gesell­schaft­li­chen Vertrages ja ebenfalls hoffen, endlich ihrem eigenen Elend ein Ende setzen zu können. Hätte es damals schon eine Fakten-Check-Website wie Correctiv gegeben, ich hätte mich viel­leicht eines Besseren besonnen, aber so beglei­teten mich meine RAF-Sympa­thien bis in die heutige Zeit, ja, insgeheim hoffe ich sogar jetzt noch, dass die bislang letzte Genera­tion der RAF auch Corona überlebt, gelten sie doch gerade jetzt – als Risi­ko­pa­ti­enten – als gefährdet, wie vor einer Woche der Spiegel schrieb.

Dabei hätte ich allen Grund, zufrieden zu sein. Denn wenn schon nicht schulfrei, erhielt ich eine Lehre in der Tragik des Wider­stands in der Dimension eines Manés Sperber (und seines Romans Wie eine Träne im Ozean), stärkte der bewaff­nete Wider­stand der RAF doch gerade den Staat, den er bekämpfte, war ja Horst Herolds »Raster­fahn­dung« eine ähnliche prekäre Aushe­be­lung von bürger­li­chen Rechten wie die in zahl­rei­chen Ländern nach 9/11 erfolgten Angriffe auf den Rechts­staat, was sich sehr gut in dem im letzten Jahr erschie­nenen, sehr präzisen Official Secrets von Gavin Hood sehen lässt, in dem der verzwei­felte Kampf der Whist­leb­lo­werin Katharine Gun erzählt wurde. Eine Entwick­lung, die sich in jeder Großkrise und nicht anders in der gegen­wär­tigen Covid-19-Pandemie abzeichnet, in der schon jetzt, da die Krise ihren Höhepunkt noch gar nicht erreicht, rechts­staat­liche Systeme bedroh­lich ins Wanken geraten, so wie etwa in Ungarn und Indien.

Zu Anfang die Wut

Und dann bescherte mir die RAF-Krise ja auch eine Flut von Filmen, die das Kino als psycho­lo­gi­sches Instru­ment, als Krisen- und Trauma­be­wäl­tiger in seiner reinsten, stärksten und schönsten Form zeigten. Und das gleich zu Anfang die Wut über die verkorkste, korrum­pierte BRD spürbar machte. Und was für ein Anfang war das, gleich im Jahr von Stockholm mit Volker Schlön­dorffs und Marga­rethe von Trottas Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975), mit einer düster-brodelnden Angela Winkler in der Haupt­rolle. Und was dann kam, war, was jede Gesell­schaft benötigt, um mit ihren eigenen Geschwüren umzugehen und einen Heilungs­pro­zess zu versuchen und ihn, wenn nötig, auch gleich wieder abzu­bre­chen und eine neue Methode zu versuchen, ganz so wie es der bereits erwähnte Manés Sperber in seinem großen Roman schrieb: »Um einen Lebenden zu verstehen, muss man wissen, wer seine Toten sind. Und man muss wissen, wie seine Hoff­nungen endeten – ob sie sanft verbli­chen oder ob sie getötet wurden. Genauer als die Züge des Antlitzes muss man die Narben des Verzichts kennen.« Und so wie Sperber seinen Roman für alle und keinen geschrieben hatte, so nahm sich nun der deutsche Film der eigenen Toten an. Auf eine gesell­schafts-intro­spek­tive Gemein­schaft­pro­duk­tion wie Deutsch­land im Herbst (1977-78) folgten Auswuch­tungen in alle Rich­tungen: Fass­bin­ders gnadenlos-groteske Die dritte Genera­tion (1978), Marga­rethe von Trottas luzide Die bleierne Zeit (1981) und dann Rainer Hauffs wieder alte Wunden aufreißender Prozess­film Stammheim (1986).

Terror geht auch ohne BRD

Erst in den 1990ern beruhigte sich die filmische Wut, erinnerte Philip Gröning in seinen Terro­risten! (1992) daran, dass Terror nicht unbedingt ein Kind der 1970er und der BRD sein muss, sondern auch eins der Wieder­ver­ei­ni­gung sein könnte, ein im Rückblick fast schon prophe­ti­scher Ansatz, der sich erst 2004 mit Hans Wein­gart­ners furiosem Neo-Terror und Anti-Globa­li­sie­rungs-Film Die fetten Jahre sind vorbei wieder­holen sollte, ein Film, der erfri­schend und mit sympa­thi­schem Furor auch das erste Mal über den deutschen Kultur­raum hinaus­wies und eigent­lich klar machte, was auch schon die RAF ahnte (und in Ansätzen ja auch prak­ti­zierte), dass »inter­na­tional« zuschlagen besser als »regional« ist.

Aber auch an die RAF selbst wurde weiterhin dezidiert erinnert – und nicht nur das: Heinrich Breloer konnte auf unver­öf­fent­lichtes Material zurück­greifen und versuchte in seinem Dokudrama TODESSPIEL (1996-97), den »deutschen Herbst« sowohl für Opfer als auch Täter so empa­thisch und objektiv wie nur möglich zu ergründen. Ein Ansatz, der sich erwei­terter und konzen­trierter zugleich fünf Jahre später in Andreas Veiels großar­tiger Black Box BRD (2001) mani­fes­tieren sollte, in dem Veiel die Biogra­fien eines RAF-Mitglieds und eines RAF-Opfers einander gegenü­ber­stellte. Es waren auch sonst gute Jahre für den »filmi­schen RAF-Terr­ro­rismus«: Christian Petzoldt erzählte in Die innere Sicher­heit (2000) in einem seiner besten Filme über das Altwerden der RAF und die psycho­so­zialen Folgen fami­liären Lebens im Unter­grund, ein Thema, das auch Volker Schlön­dorf in Die Stille nach dem Schuss (2000) aufnahm.

Neuschrei­bung und Neuin­sze­nie­rung

Gleich im Anschluss an diese dichten filmi­schen Refle­xionen setzte eine Entwick­lung ein, die versuchte, das alte RAF-Personal neu zu deuten und zu insze­nieren und die RAF auch genre­ty­pisch zu »verwerten«: In Chris­to­pher Roths Baader (2002) stirbt Andreas Baader in einem Showdown mit der Polizei (und nicht in Stammheim), in Gerd Conrads Doku Starbuck Holger Meins (2002) wird aus einem Unmen­schen ein Mensch und Uli Edel bediente sich zwar in seinem Baader Meinhof Komplex (2008) der RAF-Chro­no­logie von Stefan Austs gleich­na­migem Stan­dard­werk, formt daraus aber einen gewalt-geladenen Polit­thriller, der das Faktische immer wieder der Insze­nie­rung unter­ordnet.

Egali­siert wurde dieser wilde Trip erst wieder durch Klaus Sterns vorsich­tige, doku­men­ta­ri­sche Annähe­rung Andreas Baader – DER STAATSFEIND (2010), der versucht, mit Hilfe von unver­öf­fent­lichten Baader-Briefen zu erklären, wie in kurzer Zeit aus einem sensiblen ein so wütender Mensch hat werden können. Ein Prequel-Ansatz, der am Ende jeden guten »Fran­chises« auch beim Thema RAF steht und von Andres Veiel 2011 in seinem ersten Kino­spiel­film Wer wenn nicht wir noch einmal radikal erweitert wurde, indem er das »Coming-of-Age« von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper, zweier ikoni­scher Gestalten der RAF und ihres Umfelds, erzählt.

Die Stille nach dem Schuss (ist nur die Stille vor dem nächsten Schuss)

Seitdem ist es still um die RAF geworden, im realen Deutsch­land wie auch im Fiktiven. Nur Dominik Graf hat den Faden für einen ARD-»Tatort«, eine Art RAF-Spin-off, noch einmal aufge­nommen und in DER ROTE SCHATTEN (2019) fast gelöschte Feuer wieder zum Glühen gebracht, ohne aller­dings einen neuen Flächen­brand entfachen zu können, der endlich die Frage klärt, ob Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin in der Justiz­voll­zugs­an­stalt Stuttgart nun ermordet wurden oder doch Suizid begingen.

Ähnlich komplex, immer neue Fakten und Details in den Erkennt­nis­pro­zess mit einbe­zie­hend, gesell­schaft­liche Strö­mungen inha­lie­rend und Geschichte immer wieder »umschrei­bend« werden Histo­riker, Poli­to­logen, Sozio­logen (und natürlich Virologen), Schrift­steller und nicht zuletzt Filme­ma­cher auch die Corona-Krise die nächsten Jahr­zehnte inkor­po­rieren. Und man kann hinsicht­lich des globalen Ausmaßes mit allen poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Indi­ka­toren, aber auch schon auf einer ganz persön­li­chen Ebene wie den immer zahl­rei­cher auftre­tenden Social Meltdowns sicher sein, dass die Kultur, auch wenn sie jetzt noch am Ende der förde­rungs­wil­ligen Aufmerk­sam­keit steht, am Ende als großer Sieger den Platz verlassen wird.