07.05.2020

Engel der Geschichte

Réka Szabó, Euphoria of Being
Eindrucksvoller Tanz in die Vergangenheit: The Euphoria of Being
(Foto: Réka Szabó / DOK.fest@home)

Das DOK.fest München muss in seiner 35. Ausgabe auf Streaming zurückgreifen – wegen der behördlichen Schließung der Kinos, wegen Corona, wegen Social Distancing. Das Programm wartet natürlich trotzdem mit einigen Highlights auf. Das ist uns mehr wert ist als nur eine Erwähnung – siehe unser umfangreiches Special!

Von Matthias Pfeiffer

Es ist ein Trost, wenn auch mit einem komischen Beige­schmack. Am 19. April gab das DOK.fest bekannt, sich aufgrund der Corona-Krise in digitale Sphären zurück­zu­ziehen. »Absagen oder Verschieben war keine Option«, stellte Leiter Daniel Sponsel in der Video-Pres­se­kon­fe­renz unmiss­ver­ständ­lich klar. Auf den ersten Blick wirken die Einschnitte auch gar nicht so gravie­rend, wie man erst annehmen will: 121 Filme aus 42 Ländern werden gezeigt, davon sind 21 Welt- und 69 Deutsch­land­pre­mieren. Außerdem können alle 14 Preise vergeben werden. Was das Team hier in der kürzesten Umstruk­tu­rie­rungs­zeit leistete, hat den höchsten Respekt verdient.

Und doch bleibt da ein gewisser Wermuts­tropfen. Das kollek­tive Film­ver­gnügen, das Lein­wan­d­er­lebnis, selbst das Hasten von Kino zu Kino bleibt aus. Streaming statt Festi­val­ge­fühl.

Nun, was kann man anderes tun, als »Es geht halt nicht anders« in die Wohnung zu seufzen? Auch ohne Festival-Atmo­s­phäre bleibt die Film­aus­wahl sehens­wert. Ein Wohn­zimmer verwan­delt sich nicht in einen Kinosaal, aber ein guter Film bleibt ein guter Film. Und beim Blick auf das dies­jäh­rige Programm zeigt sich, dass das DOK.fest noch dasselbe ist. Die großen Verän­de­rungen der Welt zeigen sich hier ebenso, wie die Krisen im Privaten. Das Obskure des Alltags trifft auch 2020 auf globale Ausein­an­der­set­zungen.

Will­kommen zur Weltschau

In Sachen Aktua­lität sicher unge­schlagen ist dabei Corona Diaries / Corona-Chroniken von Elke Sasse. Für ihr Zeit­do­ku­ment ließ sie 46 Menschen aus aller Welt ihre jetzige Lebens­rea­lität mit dem Handy filmen, darunter Kran­ken­haus­per­sonal, Künstler oder LKW-Fahrer. So viel man auch derzeit mit News zur Krise über­schüttet wird, hier lohnt es sich, nochmal genau hinzu­schauen. Aus dieser Nähe erlebt man den Alltag der Anderen selten.

Auch wenn es sich so anfühlt, die rest­li­chen Baustellen der Welt stehen trotzdem nicht still. Zhou Bing porträ­tiert in Hong Kong Moments die dortige Demo­kratie-Bewegung, Maciej Cuske setzt sich in The Whale From Lorino mit dem heißen Eisen des Walfangs (in Sibirien) ausein­ander, Christian Labhart stellt mit Passion – Zwischen Revolte und Resi­gna­tion die Frage, was aus den Idealen der 68er Genera­tion in der heutigen Welt geworden ist. Wo es um Krisen geht, ist auch Trump nicht weit. #Unfit. The Psycho­logy of Donald Trump ist ein Warn­si­gnal im Vorfeld der Präsi­dent­schafts­wahlen. Dan Partland lässt Expert*innen zu Wort kommen, die in ihrem Präsi­denten mehr als einen Proll oder Idioten sehen, sondern einen psychisch kranken Menschen, dem man dieses Amt nicht hätte anver­trauen dürfen. Diese Detail-Beob­ach­tung ist es, was den Film inter­es­sant macht und von allzu leicht­fer­tiger Polemik abhebt, ohne zu verwäs­sern. Auch wenn der Erkennt­nis­ge­winn in der zweiten Hälfte leicht stagniert, #Unfit ist ein aufrüt­telnder (und doch unter­halt­samer) Beitrag.

Was von der Kata­strophe blieb

Zum 75. Jahrestag der deutschen Kapi­tu­la­tion hat sich das DOK.fest dem schwer­wie­genden Thema der Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung gewidmet. Dabei war es eine intel­li­gente Entschei­dung, sich hier vor allem mit den Opfern und ihren Hinter­blie­benen zu beschäf­tigen. Schon der Eröff­nungs­film The Euphoria of Being ist ein beson­deres Erlebnis. Die unga­ri­sche Choreo­grafin Réka Szabó insze­niert ein Tanz­pro­jekt mit der Holocaust-Über­le­benden Éva Fahidi, die sich ihrem Trauma mit Kraft der Krea­ti­vität stellt. Diese Perso­na­li­sie­rung macht die Grauen von damals viel­leicht um einiges direkter erfahrbar als die gängige histo­ri­sche Heran­ge­hens­weise. Denn auch wenn man sieht, wie die 90-jährige Dame in den Proben mit ihrer erheblich jüngeren Partnerin aufgeht, die Belastung durch die Erleb­nisse bleibt immer spürbar. Trotzdem zeigt The Euphoria of Being, dass auch ein Leben mit einer solch unver­gleich­li­chen Bürde möglich ist. In anderen Filmen der Reihe wie Displaced (R: Sharon Ryba-Kahn), It Takes a Family (R: Susanne Kóvacs) und La Casa de Wannsee (R: Poli Martínez Kaplun) befassen sich die Nach­kommen der jüdischen Opfer mit ihrer Vergan­gen­heit und ihrer jetzigen Stellung und Verant­wor­tung. Ein besonders heikles Thema spricht die Arbeit Endlich Tacheles von Jana Matthes und Andrea Schramm an. Ein Game-Designer wird hier bei seinem Vorhaben begleitet, für die junge Genera­tion den Holocaust als Video­spiel zu verar­beiten. In Zeiten von ster­benden Zeit­zeugen und unauf­halt­samer Digi­ta­li­sie­rung ein Vermitt­lungs­mo­dell? Eine schwie­rige Diskus­sion, aber eine notwen­dige. Übrigens ein beson­deres Highlight der Reihe: Anders Øster­gaards Dokudrama Winter Journey, in der er die Flucht seiner jüdischen Eltern nach­zeichnet. Man sieht hier den 2019 verstor­benen Bruno Ganz in seiner letzten Rolle. Mit ihm rekon­stru­iert Øster­gaard die Gespräche mit seinem eigenen Vater, der begna­deter Musiker und Teil des jüdischen Kultur­bundes war und als Zahnrad in die Propa­ganda-Maschi­nerie der Nazis geriet.

Die dünne Wand zwischen Kunst und Alltag

Wie man hier schon an einigen Beispielen sieht, ist es oft die Nähe zu den Prot­ago­nisten, die die Beson­der­heit eines Films auszeichnet. Selbst, wenn es wehtut, wie in The Self Portrait von Margreth Olin, Katja Hogset und Espen Wallin. Das Regie-Trio porträ­tiert darin die verstor­bene Foto­künst­lerin Lene Marie Fossen, die ihren eigenen, von Anorexie geschun­denen Körper immer wieder in den Mittel­punkt ihrer Kunst stellte. Bettina Böhler hat sich in Schlin­gen­sief – Ins Schweigen hinein­schreien (hier geht es zur ausführ­li­chen artechock-Kritik) ebenfalls einem viel zu früh verstor­benen Künstler gewidmet. In einer viel­sei­tigen Sammlung von Film-, Fernseh- und Interview-Schnip­seln zeigt sie das deutsche Regie-Enfant-terrible Christoph Schlin­gen­sief, wie man es in Erin­ne­rung behalten sollte: lebendig, niemals leise und immer am Puls der Zeit. Da der Kinostart den Schließungen zum Opfer fiel, sollte diese Chance genutzt werden. Aus der heutigen Kunstwelt ist auch der Name Ai Weiwei nicht wegzu­denken, der in jüngerer Vergan­gen­heit leider mit eher pein­li­chen State­ments von sich reden machte. Sein Beitrag Vivos verspricht jedoch wieder, ein Ausdruck seines kriti­schen, ankla­genden Geistes zu werden. In dem Film geht es um die bis heute nicht aufge­klärte Entfüh­rung von 43 Studenten des mexi­ka­ni­schen Dorfes Ayot­zi­napa. Vivos lässt die Angehö­rigen zu Wort kommen, die sich ange­sichts der insti­tu­tio­nellen Gewalt in ihrem Land machtlos wähnen, doch trotzdem ihre Stimme erheben.

Von der Suche nach Antworten erzählt auch Tim Boehmes Die Heimreise. Der 38-jährige Bernd Thiele, durch die Alko­hol­sucht seiner Mutter während der Schwan­ger­schaft und den Aufent­halt in Heimen und bei Pfle­ge­fa­mi­lien geprägt, macht sich auf die Suche nach seiner wahren Herkunft. Was nach einer schweren Thematik klingt, entpuppt sich schon im Trailer als skurriles, aber herz­er­wär­mendes Road-Movie mit grund­sym­pa­thi­schen Figuren, die so nur wenige Dreh­buch­au­toren erfinden könnten. Schatz­su­cher nach dem Obskuren im Alltag führen Alexandra Pianelli mit Le Kiosque nach Paris. Der kleine Kiosk ihrer Mutter wird hier gleich­zeitig zur Thea­ter­bühne, zum Museum und zum Nach­bar­schafts­treff. Es ist faszi­nie­rend, wie Bana­li­täten beim Zusehen zur Sozi­al­studie werden und die Menschen, an denen man täglich vorbeiläuft, zu großen Erzählern. Das schafft wohl auch nur die Kamera.

Und ja: Wir würden das alles gern im Kino sehen. Denn so richtig gebannt ist man in erster Linie im Dunkeln vor der Leinwand. Der Austausch danach ist mit Skype auch nicht derselbe, ganz zu schweigen vom Zuprosten durch die Webcam. Trotzdem sollte man nicht resi­gnieren und den Computer hoch­fahren. Nicht nur wegen des eigenen Film­ge­nusses, sondern auch weil man beim Kauf eines Online-Tickets die Gele­gen­heit hat, 1 Euro für die geschlos­senen Part­ner­kinos zu spenden. Und im Großen und Ganzen kann man ein Programm, das über jeden Virus erhaben ist, überall genießen.

DOK.fest München
6. bis 24. Mai 2020
@home

Filme mieten: 4,50 € (5,50 € mit Soli-Beitrag für die Kinos)
Zeit­fenster: 24 Stunden

Festi­val­flat­rate: 50 € (davon gehen 3 € an die Kinos)

Hotline – tech­ni­sche Sofort­hilfe: 0800 / 5565136

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