07.05.2020

Kupferträume und Systemsprenger

Copper Notes of a Dream
Ruinenträume aus dem Iran: Copper Notes of A Dream
(Foto: Reza Farahmand / DOK.fest@home)

Facetten der dokumentarfilmischen Kunst beim 35. DOK.fest München

Von Jens Balkenborg

So sehr das Kino als Ort vertei­digt werden muss, immer und immer wieder, mit Vehemenz und zur Not auch mit verbalen Faust­hieben, so sehr ist aktuell gut daran getan, auch die Vorteile der Not zu benennen. In dieser beson­deren, als @home gebran­deten Auflage richtet sich das DOK.fest München (zumindest poten­tiell) erstmals an ein deutsch­land­weites Publikum. Klar: Erst die Evalua­tion wird zeigen, ob und in welchem Ausmaß das Festival über die Grenzen der baye­ri­schen Landes­haupt­stadt wahr­ge­nommen werden wird. Aber: Status quo ist, dass hier ein großes deutsches Doku­men­tar­film­fes­tival den Kopf nicht in den Sand gesteckt hat, sondern als erstes überhaupt mit einem satten Programm aus 121 Filmen aus 42 Ländern online an den Start geht.

Genug Gele­gen­heit also, sich mit allen möglichen Facetten der doku­men­tar­fil­mi­schen Kunst ausein­an­der­zu­setzen. Und genug Gele­gen­heiten vor allem auch, um Fragen zu stellen. Denn: Was meint »Doku­men­tar­film« heute? Wo hört die doku­men­ta­ri­sche Form auf und wo fängt der Spielfilm an? Wie ist es und wie darf es um Parameter wie die Subjek­ti­vität bestellt sein? Aufgrund der fluiden Form, die das Doku­men­tar­kino immer stärker annimmt, bedürfen die Antworten darauf reger Diskus­sion.

Kupfer­träume

All diese Fragen drängen sich auch beim DOK.horizonte-Beitrag Copper Notes of a Dream des irani­schen Regis­seurs Reza Farah­mands auf. Der mit dem DOK.fest-Preis der SOS-Kinder­dörfer weltweit prämierte Film ist der zweite nach Für Sama, der in diesem Jahr aus dem syrischen Bürger­krieg erzählt. Wie die syrische Jour­na­listin Waad al-Kateab, die ihren Film als audio­vi­su­ellen Brief an ihre erst­ge­bo­rene Tochter adres­siert, wählt auch Farahmand einen zutiefst subjek­tiven Zugang.

Wir folgen dem zehn­jäh­rigen paläs­ti­ni­schen Flücht­ling Malook durch die Ruinen eines Vororts von Damaskus. Gemeinsam mit seiner Gang zieht und klettert der altkluge Junge durch die zerbombten Häuser und reißt die Kupfer­lei­tungen aus den Wänden. Mit dem Verkaufs­erlös wollen er und seine Schwester ein Konzert veran­stalten. Ein teures Unter­fangen, denn es braucht Technik, Musiker und einen Ort.

Während uns die Kamera mitnimmt in das Leben in den zerstörten Häuser­schluchten, mitten hinein in die Ikono­gra­fien des Terrors, spricht Malook immer wieder aus dem Off: über das vom Krieg hinweg­ge­fegte alte Leben, über seine Träume, über die Gräuel des ISIS (heute IS). Farahmand begibt sich komplett auf die Augenhöhe des Jungen und der anderen Kinder und versucht gar nicht erst eine objektive Einord­nung der Ereig­nisse.

Copper Notes of a Dream will mit filmi­schen Mitteln wie einem rühr­se­ligen Pianoscore eine Geschichte erzählen: eine Geschichte von Kindern im Krieg, vor allem aber eine der Hoffnung und Träume. Malook will Musiker werden. Davon, was die jungen Kinder­augen alles gesehen haben, zeugen nur die Ruinen der Stadt.

Man merkt dem Film an, dass vieles auf die Narration zurecht­ge­bogen ist. Doch man folgt dem vorlauten, opti­mis­ti­schen Jungen gerne. Als Schau­spieler hätte er sicher auch eine rosige Zukunft vor sich. Es fallen zwei Sätze, die den Film ziemlich gut beschreiben: »We don’t want anything arti­fi­cial, but from the bottom of your heart«, sagt einmal jemand bei einer Konzert­probe zu Malooks singender Schwester. Mit den Worten »We want the world to hear us« bewirbt Malook das anste­hende Konzert. Mit Herz möchte Copper Notes of a Dream uns sehen und hören machen.

Die System­sprenger

Ebenfalls von jungen, aller­dings nicht mehr ganz so jungen Menschen erzählt Maasja Ooms in ihrem DOK.Inter­na­tional-Beitrag Punks. Ist das ein doku­men­ta­risch gefilmter Spielfilm? schießt es einem nach den ersten Einstel­lungen durch den Kopf. Es wirkt unglaub­lich natürlich und gerade deshalb sehr filmisch, wie die drei Prot­ago­nisten Mike, Mitchel und Jahlano sich geben. Die von der nieder­län­di­schen Regis­seurin geführte Kamera scheint so unauf­fällig zu sein, dass die Anwe­senden sie beinahe vergessen. Ihr Blick ist sensibel und empha­tisch, dabei aber stets distan­ziert und lässt an den fran­zö­si­schen Doku­men­tar­meister Raymond Depardon denken.

Die »Punks« sind verhal­tens­auf­fäl­lige nieder­län­di­sche Jugend­liche am Rande des geschlos­senen Jugend­straf­voll­zugs, die zur Therapie auf einer Farm in Frank­reich sind. Mike lügt notorisch und lässt sich immer wieder auf zwei­fel­hafte Kräf­tem­eie­reien ein. Einmal, so erfahren wir im Gespräch, hat er ein Fahrrad von einem Balkon auf eine belebte Straße geworfen. Jahlano will an allem und jedem Rache nehmen und neigt zu Selbst­justiz, gerne auch mit einem Messer. Und Mitchel, der zu so etwas wie der Haupt­figur wird, hat den Tod der geliebten Mutter nicht verkraftet und ein mehr als schwie­riges Verhältnis zu seinem Vater.

Ooms verzichtet auf eine Off-Stimme oder eine Expo­si­tion. Wir erfahren alles aus den Gesprächen: mit den Fami­li­en­mit­glie­dern, die zwischen­durch anreisen, zwischen den Jungs selbst, wenn sie Kette rauchend rappen oder sich tagsüber bei Abriss- und Reno­vie­rungs­ar­beiten an dem alten Bauern­haus abre­agieren. Und vor allem in den Gesprächen mit Petra, der Thera­peutin, die mit einfüh­lender Autorität versucht, am Bodensatz der verhal­tens­auf­fäl­ligen Persön­lich­keiten zu kratzen. »Es ist wichtig, dass du mir das sagst. Nur dann kann ich dir helfen, hilfst du dir selbst, können andere dir helfen«, sagt sie eindring­lich zum trotzigen Jahlano. Sie vertraut und beherrscht die Macht der Worte.

So filmisch Punks auch daher­kommt, so sehr durch­kreuzt Ooms drama­tur­gi­sche Momente. Immer wieder reißt der Sound­track einfach ab und wirft uns zurück auf die Bilder und das destruk­tive Gebaren der Jungs. In Punks gibt es keine einfachen Antworten. Mit der Ankunft eines Mädchens wird alles noch kompli­zierter. Ooms gelingt ein Draht­seilakt: Sie ist nah dran und zugleich fern, niemals voyeu­ris­tisch aber doch direkt. Punks bewegt sich in konzen­tri­schen Bewe­gungen langsam aber unauf­haltsam voran, ist zuweilen zermür­bend und dabei doch poetisch. Ein eigen­wil­liges Psycho­gramm.

DOK.fest München
6. bis 24. Mai 2020
@home

Filme mieten: 4,50 € (5,50 € mit Soli-Beitrag für die Kinos)
Zeit­fenster: 24 Stunden

Festi­val­flat­rate: 50 € (davon gehen 3 € an die Kinos)

Hotline – tech­ni­sche Sofort­hilfe: 0800 / 5565136

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