30.04.2020

Über Bilder der Krise

Tropical Malady
Szene aus Apichatpong Weerasethakuls Tropical Malady
(Foto: Salzgeber)

Als Kinomagazin gehört es zum Selbstverständnis, besonders dann, wenn die Lichtspielhäuser eine Zwangspause einlegen müssen, auch über andere Bilder als die, die auf die große Leinwand projiziert werden, zu reflektieren. Mitten in einer Krise wird naturgemäß mehr über unmittelbare Ereignisse, alternative Szenarien und sich daraus ergebende politische Handlungsoptionen gesprochen als über die Bilder, die in dieser Zeit im Umlauf sind und der Krise so etwas wie ein Gesicht verleihen.

Von Sedat Aslan

Weit vor ihnen rangieren gerade in einer Pandemie die Zahlen – tagtä­g­lich beschäf­tigen wir uns mit Statis­tiken, mathe­ma­ti­schen Funk­tionen und deren grafi­scher Darstel­lung. Dies unter­scheidet sich deutlich vom Umgang mit dem 11. September, der gerade in den USA oft als Vergleich für das Ausmaß der aktuellen Krise heran­ge­zogen worden ist. Das Virus ist nun einmal nicht sichtbar, und etwas Unsicht­bares kann man lediglich auf indirekte Weise zeigen. Mit seinen gesund­heit­li­chen Auswir­kungen wie etwa über­füllten Inten­siv­sta­tionen und Leichen­bergen wird vergleichs­weise zurück­hal­tend umge­gangen, sie werden von den Medien nicht pausenlos illus­trativ ausge­schlachtet wie die zwei­fels­ohne viel bild­ge­wal­ti­geren Explo­sionen und Schutt­berge dieses verhäng­nis­vollen Tages im Herbst 2001 (was neben dem mensch­li­chen Drang, das Unfass­bare fasslich zu machen, immer einen Aspekt von Bildern als poli­ti­sches Instru­ment, etwa als Propa­ganda zum Zwecke der Kriegs­füh­rung, beinhaltet – auch in der jetzigen Krise wählen einige Regie­rungs­chefs bewusst den Krieg als Metapher).

Die Zurschau­stel­lung von kranken Menschen wäre bei allen ethischen Bedenken gleich­wohl nicht alleine negativ zu betrachten – wer sich an die Anfänge von AIDS erinnert, weiß noch genau, wie solche Bilder auch dazu beitrugen, ein dringend notwen­diges Bewusst­sein für die als rätsel­haft bis abstoßend empfun­dene neue Krankheit und ihre Opfer zu schaffen und sie über viele Jahre hinweg begreif­lich zu machen.
Bilder haben aber nicht nur einen nach vorne gerich­teten Effekt, sie beein­flussen auch, wie etwas in der Rückschau wahr­ge­nommen wird, formen die Erin­ne­rung. Der Kunst­his­to­riker Jürgen Reiche schreibt: »Unsere Erin­ne­rung an die Vergan­gen­heit lebt in Bildern[…] In ihrer Summe sind sie Doku­men­ta­tionen einer oder der Wirk­lich­keit – das Abbild einer indi­vi­du­ellen Welt, zugleich immer auch Teil einer kollek­tiven Repro­duk­tion von Wirk­lich­keit.« Von der Spani­schen Grippe haben wir auch deswegen einen nur sehr vagen Begriff, weil davon das eine prägnante Foto im kollek­tiven Bewusst­sein nicht existiert – sieht man sich jedoch die Wikipedia-Seiten dazu an, bekommt man insbe­son­dere über die Bilder plötzlich eine Art rück­wir­kendes Gefühl dafür.

Wie also wird sich an Corona erinnert werden? Welches Bild wird stell­ver­tre­tend dafür stehen, in Jahres­rück­bli­cken und Almanachs gezeigt werden, irgend­wann gar in den Geschichts­büchern landen? Auch wenn diese Frage noch nicht abschließend beant­wortet werden kann, lohnt es sich, eine Zwischen­bi­lanz zu ziehen.
Könnten es Bilder der handelnden Köpfe der Welt­po­litik sein, etwa Trump oder Merkel? Am ehesten hätte ein Bild Boris Johnsons auf der Inten­siv­sta­tion dafür das Potenzial, das es aber dankens­wer­ter­weise nicht gibt. Sind es die an der Seite der Mächtigen plötzlich im Fokus stehenden Wissen­schaftler wie Fauci und Drosten? Unter »Fauci Facepalm« kann man eines der im doppelten Sinne viralen Bilder dieser Zeit googeln.
Ist es das Bild vom abge­sperrten Markt in Wuhan, der als erster Hotspot der Pandemie gilt, oder dem geschlos­senen Kitzloch in Ischgl, von dem aus Hunderte von Infek­tionen in ganz Europa zurück­ver­folgt werden konnten? Sind es unsere »Helden des Alltags«, die Kassierer*innen, die Kunden vor Plexi­glas­scheiben bedienen, oder das komplett in Schutz­klei­dung gehüllte Gesund­heits­per­sonal in Kliniken und an Drive-In-Test­sta­tionen? Oder eben doch das stumme Grauen der Leichen­berge in Italien und New York, die auf den Abtrans­port durch Kühl­laster warten?

Die Fratze der Krise

Für den Spiegel-Jour­na­listen Marius Mester­mann ist es klar: es ist das Foto eines aufge­brachten Anti-Shutdown-Mobs, das der Lokal-Foto­jour­na­list Joshua Bickel am 13. April vor dem Regie­rungs­sitz in Ohio schoss. Hier ist der volle Zorn der Demons­tranten in ihren zur Fratze verzerrten Gesich­tern zu spüren, Guy-Fawkes-Maske und Trump-Mütze inklusive. Es ist ein Bild wie aus einem dysto­pi­schen Genrefilm, The Purge meets Dawn of the Dead, man steht als Betrachter wie vor einer zwei­di­men­sio­nalen Leinwand, wehr- und ausweglos ange­sichts dieser erregten Menschen­menge, und bangt darum, dass die Türen ihr stand­halten mögen. Das nicht totzu­krie­gende Unwort des »Wutbür­gers« zeigt sich in wohl keinem Foto so unver­blümt wie hier, das Bild trans­por­tiert die raue und unge­fil­terte Energie eines extremen Gefühls­zu­standes, in der inter­na­tio­nalen Presse ist es deswegen sogar mit Munchs »Der Schrei« vergli­chen worden, und eben diesen kann man in diesem Bild zwei­fels­ohne sehen, wenn nicht gar hören.
Als deutsches Pendant gilt das Reuters-Foto vom 18. April von einer Demo in Berlin, bei der Demons­tran­tinnen einen direkt vor ihnen stehenden Poli­zisten anschreien, der machtlos zur Seite blickt, während das turbu­lente Geschehen aus dem Hinter­grund von einer Vielzahl gezückter Smart­phones fest­ge­halten wird. Die An- und Abwe­sen­heit von Mindest­ab­stand und Mund­schutz zeigt den enormen Kontrast zwischen den beiden (Ordnungs-)Welten, die hier aufein­an­der­prallen.
Wahr­schein­lich spiegeln keine Bilder die heutige Zeit besser wider als die beiden genannten, in der klar wird, wie fragil der viel­be­schwo­rene gesell­schaft­liche Kitt tatsäch­lich ist, wenn es drauf ankommt.

Die Helden der Krise

Es gibt aber noch ein anderes Foto, das geeignet ist, stell­ver­tre­tend für zumindest einen Aspekt der Corona-Krise zu stehen: Es ist das Bild der nach einer Zehn-Stunden-Schicht mit dem Kopf vor einer Compu­ter­tas­tatur schla­fenden Kran­ken­schwester Elena Paglia­rini, foto­gra­fiert am 8. März von der Ärztin Francesca Mangia­tordi, ihrer Kollegin im Kran­ken­haus von Cremona.
Dieses Bild visua­li­siert nicht nur die Schre­ckens­vi­sion vom Crash des Gesund­heits­sys­tems und der Hilf­lo­sig­keit seines Personals in einer Situation perma­nenter Über­for­de­rung, sondern stili­siert es auch zu stummen, verletz­li­chen Helden, fernab jedweder heroi­scher Pose. Wie im Seri­en­klas­siker „ER“ erstmals für ein großes Publikum darge­stellt, gibt es in einer echten Notauf­nahme keine über­le­bens­großen Halb­götter in Weiß, sondern »nur« Menschen, die einen viel undank­ba­reren und drecki­geren Job zu erledigen haben, als sonst durch fiktio­nale Erzäh­lungen vermit­telt. Erst auf dem zweiten Blick erkennt man an der Unterlage und der zur Seite gelegten Brille, dass die Kran­ken­schwester auf dem Foto nicht unver­mit­telt bei der Arbeit kolla­biert ist, sondern lediglich um ein paar Minuten Ruhe ringt, was den Eindruck des Bildes von erschüt­ternder Hoff­nungs­lo­sig­keit zu einer leisen Poesie verschiebt.
Die Perspek­tive ist unver­hohlen voyeu­ris­tisch, wie es auch dem Kino zu eigen ist, man fühlt sich ertappt, einem Menschen in solch einem verletz­li­chen Moment über die Schulter zu blicken, will sich abwenden und muss es doch weiter betrachten, während sich jenseits aller Fakten und Zahlen eine Idee davon formiert, welch unfass­bares Leid sich in italie­ni­schen Kliniken abge­spielt haben muss. Alles, ohne den Horror direkt zu zeigen, sozusagen über Bande gespielt, dabei den Kopf des Betrach­ters akti­vie­rend – so gesehen entspricht das Bild trotz allen Natu­ra­lismus exakt der Defi­ni­tion von Propa­ganda, die etwa der »Film­mi­nister« Goebbels vertrat, und nicht umsonst erinnert es an die zahllosen Fotos ausge­laugter Soldaten an der Front (z. B. https://networks.h-net.org/battle-thiepval). Hier hätte eine Art Opfer­pa­thos geschürt werden können, daher ist dankend hervor­zu­heben, dass das Bild bislang von keiner Seite für ihre Zwecke miss­braucht wurde. Elena Paglia­rini wurde übrigens zwei Tage nach der Entste­hung dieses Fotos positiv auf Covid-19 getestet; sie hat die Infektion mitt­ler­weile über­standen.

Die Polysemie der Krise

Die Pole zwischen diesen glei­cher­maßen ausdrucks­starken und doch so gegen­sätz­li­chen Fotos scheinen den Bereich zu markieren, in dem sich diese Krise abspielt; gerade deswegen könnten sie tatsäch­lich in den Geschichts­büchern landen.
Viel­leicht ist es aber auch kein einzelnes Bild, sondern so etwas wie eine Chimäre aus den vielen in den sozialen Netz­werken kursie­renden Snippets, den als Jpegs angehängten oder hinter solchen verlinkten Aufrufen und Parolen, Pres­se­mit­tei­lungen, Inter­views, Verglei­chen und Daten­blät­tern. Das aber­tau­send­fach gezeigte Kurven­dia­gramm, das beide Extrem­sze­na­rien illus­triert, oder auch der für den schnellen Konsum als Häppchen in Bildform gebrachte, simpli­fi­zierte Vergleich von Corona- und Influenza-Toten (es bestätigt sich unter dem Eindruck dieser Krise einmal mehr, dass Facebook nach seinen banalen Anfängen als Kontakt­mö­g­lich­keit zu Leuten, die man im wirk­li­chen Leben kaum sieht und auch nicht unbedingt permanent sehen will, erst zu einem hyper­kom­mer­zi­ellen Schau­fenster der digitalen Zweit­exis­tenz – bevor das bei Instagram besser ging – und jetzt längst schon zum perfekten Propa­ganda-Markt­platz mutiert ist).
Laut Jürgen Reiche mani­fes­tiert die ständige Präsenz ausge­wählter Fotos Bildi­konen. Man kann also das bisherige Fehlen einer Corona-Bildikone darauf zurück­führen, dass keines der auch hier erwähnten Bilder ständig präsent ist. Es ließe sich argu­men­tieren, dass Bilder im Zeitalter der Digi­ta­li­sie­rung, welche im histo­ri­schen Kontext betrachtet tatsäch­lich wie eine Sturmflut in unser aller Leben einge­bro­chen ist und unser altes Denken umgewälzt hat, nicht mehr singulär dastehen, sondern an ihre Stelle viel­fäl­tige Mosaiken aus Infor­ma­tionen und Eindrü­cken getreten sind, also puzzle­teil­ar­tige Fragmente, die nur im Kopf indi­vi­duell zu einem einzelnen Bild verdichtet werden können – #flat­ten­the­curve neben #justaflu, Quasi-Wort­marken gleich­be­rech­tigt neben Bildern, Zahlen und anderen Zeichen.
Wenn ein Bild immer polysemisch ist, wie Roland Barthes behauptet, kann sich Polysemie dann nicht auch in Form eines einzelnen Bildes mani­fes­tieren?

Die Leer­stelle der Krise

Für mich am eindring­lichsten ist aber ein anderes bild­li­ches Phänomen. Auch das kein Einzel­bild, aber viel konkreter als die ange­spro­chene Chimäre; quasi eine Fotoreihe, die jedoch nicht als solche konzi­piert ist, von verschie­denen Foto­grafen stammt, sich über den ganzen Erdball erstreckt und sich dennoch als eine Beschrei­bung ein und desselben Zustands harmo­nisch zusam­men­fügt – die Bilder, aus denen sie sich formiert, sprechen zu uns vor allem über eine Leer­stelle, und diese Leer­stelle ist der Mensch.
Der Ernst der Lage und erst recht die Hysterie darum scheinen Wildtiere nämlich nicht zu kümmern, im Gegenteil, die von Menschen für Menschen verhängten Ausgangs­sperren kommen ihnen ganz gelegen für einen Ausflug in bisherige No-Go-Areas. Sika­hir­sche in Nara/Japan, die ihr Habitat verlassen und ohne jede Scheu in den leer­ge­fegten Straßen der Stadt umher­wan­dern; Kasch­mir­ziegen in Llandudno/Wales, die Hecken und Sträucher in öffent­li­chen Gärten abgrasen; frei umher­lau­fende Kojoten in San Francisco sowie Pumas in Colorado und Santiago de Chile; Wild­schwein­rudel mitten in Rom und Barcelona. Die Meldung von Delfinen in Venedig ist zwar ein Fake – die Wasser­säuger tummeln sich wie auch früher in den Häfen von Cagliari und Triest, ohne Boots­ver­kehr aller­dings deutlich entspannter – jedoch erscheint in der Kanal­stadt das Wasser nun kris­tall­klar, weil die still­ste­henden Gondeln kein Sediment mehr aufwir­beln, Quallen, Fische und Wasser­vögel ziehen ungestört ihre Runden; während sie sich draußen frei bewegen können, sitzen wir in einer Umkehrung des bishe­rigen Kräf­te­ver­hält­nisses drinnen im Käfig. Es gibt unzählige solcher Geschichten auf der ganzen Welt (hier zwei Beispiel­fotos aus dem Guardian und SFGATE).

Am liebsten würde man dieses Expe­ri­ment weiter beob­achten, wäre man nicht auf der anderen Seite. Nikolaus Geyr­halter zeigt in seinem doku­men­ta­ri­schen Werk Homo Sapiens von Menschen verlas­sene Orte, die ebenso zu einer Reflek­tion über die Leer­stelle Mensch einladen. Die aufgrund des Themas natürlich unum­wunden speku­la­tive, aber unter­halt­same Dokureihe Life After People von 2008 bebildert das Szenario einer plötzlich verschwun­denen Mensch­heit – Gebäude verfallen, Asphalt wird über­wu­chert, parallel zur Flora hält die Fauna in vormals beton­grauen Arealen Einzug. Diese Vision erstreckt sich behäbig über mehrere Jahr­tau­sende; wer hätte schon gedacht, dass in Wirk­lich­keit bereits wenigen Wochen still­ge­legter Zivi­li­sa­tion die Natur mit dem »Rollback« beginnt und sich ihren Lebens­raum vorsichtig zurück­er­obert. Es ist offen­kundig wie mit dem Rauchen, bereits nach einem Tag fängt die Lunge an, sich vom ganzen Teer zu befreien. Selbst ohne Sinn für Humor ist anzu­er­kennen, wie gewitzt Mutter Erde uns vorführt, wie entbehr­lich wir für sie sind, während wir, aus dem heimi­schen Gefängnis ins Kino der Welt hinaus­star­rend, diese bittere Satire tatenlos mitan­sehen müssen.

Das Kino der Krise

Was Menschen meistens verdrängen, dafür hat man auch als Nicht-Esote­riker nun eine lebendige Vorstel­lung: lange, nachdem das letzte Licht über die Leinwände geflim­mert ist, wird sich der viel epischere Film auf den Über­resten unserer Kinosäle abspielen. Deswegen sollte man als filmische Beglei­tung dieser Tage nicht bei solchen Pandemie- und Endzeit-Klas­si­kern wie Contagion, I Am Legend, 28 Days Later usw. stehen­bleiben. Schon immer Recht hatten und, das erscheint jetzt umso klarer, auch bis zum Schluss Recht behalten werden die Pant­he­isten und Natur­phi­lo­so­phen unter den Filme­ma­chern, Regisseur*innen, die eine beseelte Natur und das Verhältnis von Zivi­li­sa­tion und der Conditio Humana zu ihr behandeln. Dazu zählen verhält­nis­mäßig »junge« Größen des Weltkinos wie Apichat­pong Weeras­ethakul, Lav Diaz, Ciro Guerra, Kelly Reichardt und Semih Kapla­noglu, aber auch Altmeister wie Werner Herzog, Peter Weir und natürlich Terrence Malick. Elemente dessen finden sich bei den Klas­si­kern Andrei Tarkowski und Satyajit Ray, Nicolas Roegs Walkabout und Abbas Kiaros­t­amis Five – Dedicated to Ozu sind ebenso zu nennen – die Liste ließe sich problemlos fort­führen.

Der momentane Shutdown der Spezies Homo Sapiens ist ein guter Grund, sich mit dem Werk dieser Künstler im »Home Cinema« verstärkt ausein­an­der­zu­setzen, denn all diese Filme schaffen es dann doch, was ich eingangs in Bezug auf das Virus als Paradox ausge­schlossen hatte: in ihren Bildern etwas nicht Sicht­bares zu zeigen, das trotz aller Flüch­tig­keit doch so gewaltig ist und neue, unver­stellte Perspek­tiven auf unsere Zeit jenseits tages­ak­tu­eller Thesen zu eröffnen vermag – bis endlich das Licht in den Kinosälen wieder (und hoffent­lich für lange Zeit unter­bre­chungs­frei) zu flimmern beginnt.