24.04.2020

Filmgewordene Großartigkeit

Michelle Pfeiffer und Al Pacino
Dunkel, düster, unausweichlich: Al Pacino in Scarface
(Foto: Prod. DB/imago images)

Al Pacino wird, kaum zu glauben, 80 Jahre alt. Eine Würdigung

Von Jens Balkenborg

Man will das manchmal nicht wahrhaben, doch: auch die ganz Großen werden älter. Klar, für jemanden aus dem Jahrgang 1984 ist Al Pacino schon immer da gewesen, dieser Mann, der mit einer einzigen Gesichts­falte ganze Geschichten erzählen und mit seinem Lächeln erschre­ckend mühelos von unschuldig zu diabo­lisch wechseln kann. Aber wirklich schon 80 Jahre alt?!

Selten konnte man mit derart gutem Gewissen sagen, was infla­ti­onä­r­er­weise über sehr viele schon gesagt wurde: Al Pacino ist einer der größten Schau­spieler seiner Genera­tion, einer der großar­tigsten Charak­ter­dar­steller, den die ameri­ka­ni­sche Film­in­dus­trie jemals auf den Globus losge­lassen hat. Ein Mann aus einer Epoche, in der Filme sich gerne auch drei Stunden lang Zeit ließen, um Figuren aus dem kine­ma­to­gra­fi­schen Beton zu hauen, die Film­ge­schichte schrieben.

Was sind das für ikonische Rollen, die der am 25. April 1940 in New York geborenen Alfredo James Pacino gespielt hat: als Tony Montana zele­brierte er am Ende von Brian De Palmas kontro­vers-brutaler Gangs­ter­bal­lade Scarface (1983) die film­ge­wor­dene Hybris, wenn er die Nase durch einen Schreib­tisch voller Koks zieht und mit einem Maschi­nen­ge­wehr bewaffnet auf die Horde Söldner losgeht, die gerade seine Villa stürmt; in Sidney Lumets Cop-Thriller-Klassiker Serpico (1973) gab er mit seiner Rolle als Frank Serpico die Blaupause für den idea­lis­ti­schen Bullen auf Kriegsfuß gegen seine korrupten Kollegen; in Dog Day Afternoon (1975), seiner zweiten Zusam­men­ar­beit mit Lumet, wechselte er die Seiten und spielte einen sympa­thi­schen Bankräuber, der zum Popstar der Zuschau­er­mengen avanciert.

Zu inter­na­tio­naler Bekannt­heit kam Pacino durch seine Rolle im ersten Teil von Francis Ford Coppolas drei­tei­ligem Mafia-Opus-Magnum Der Pate im Jahr 1972. Paramount Pictures wollte Robert Redford in der Rolle des Michael Corleone sehen. Doch Coppola setzte sich mit seinem Faible für den italo-ameri­ka­ni­schen Darsteller, der kurz zuvor bei einem Off-Broadway-Auftritt entdeckt worden war, durch. Und, bei allem Respekt für Redford: Coppola sollte recht behalten. Pacino wurde für einen Oscar als bester Neben­dar­steller nominiert und gehört bis heute zu den prägendsten Gesich­tern des Gangster-Subgenres Mafiafilm.

Das mag auch dem südlän­di­schen Tempe­ra­ment des in Manhattan geborenen Pacino geschuldet sein. Nach der Scheidung der Eltern zog er mit der Mutter in die Bronx, wo er ab dem zweiten Lebens­jahr bei den sizi­lia­ni­schen Groß­el­tern aufwuchs. Als Stiefsohn einer Masken­bild­nerin und Schau­spie­lerin und Bruder von vier Schwes­tern, darunter Zwillinge und eine von seinem Vater aus vierter Ehe adop­tierte, wird Pacino im Patchwork-Stil groß. Nach seinem Rauswurf aus der Schule im Alter von 17 Jahren geht er auf die Manhattan School of Performing Arts.

Wie sein drei Jahre jüngerer Kollege Robert De Niro, mit dem er lange unsichtbar verbunden scheint, gehört Pacino zur zweiten Method-Actor-Genera­tion. Er spielt seine Figuren nicht bloß, sondern wird eins mit ihnen, alle physi­schen Hürden inklusive.

Pacino hat vieles gespielt: besagten nimmer­satten Gangster in Scarface, den von seinen Gespie­linnen umgebenen leib­haf­tigen Teufel in Taylor Hackfords Anwalts-Mystery-Thriller The Devil’s Advocate (1997), einen idea­lis­ti­schen Foot­ball­trainer in Oliver Stones Any Given Sunday (1999) oder jenen vom Leben verbit­terten, erblin­deten Ex-Lieu­tenant in Martin Brests Scent of a Woman (1993), der ihm seinen ersten und bisher einzigen Oscar einbrachte. Mit physi­scher Wucht, mal leise, mal umso lauter, hat Pacino wie kein zweiter an die Türen des Over­ac­ting geklopft. Und auch wenn er die Schwelle mal über­schritten hat, sah man ihm gerne dabei zu.

Im Jahr 1995 geschah das, worauf viele lange schon gewartet hatten: endlich Pacino und De Niro in einer gemein­samen Szene, in Michael Manns Meis­ter­werk Heat. In einem Restau­rant treffen sie aufein­ander, Goliath gegen Goliath, Pacino der Bulle, De Niro der Gangster, beide vom Ehrgeiz zerfressen. Eine weitere Szene für die Ewigkeit. Zuletzt war Pacino in Quentin Taran­tinos Hollywood-Hommage Once Upon a Time... in Hollywood (2019) und, wieder gemeinsam mit De Niro, in Martin Scorseses Mafia-Spätwerk The Irishman (2020) auf der Leinwand zu sehen.

Große Teile von Pacinos Filmo­grafie lesen sich wie ein »Best of« der Film­ge­schichte aus dem letzten halben Jahr­hun­dert. Er hat dem Kino und damit uns viele wunder­bare Momente geschenkt. Happy Birthday, Mr. Pacino! Weiter­ma­chen!