16.04.2020

Lieblingsfilme, wiedergesehen – Die Sonne, die uns täuscht

Nikita Michalkow: Die Sonne, die uns täuscht
Ein kompliziertes und tragisches Geflecht aus Vergangenheit, Schuld, Rivalität und Liebe
(Foto: Axel Timo Purr– DVD Cover)

Eine der gefürchteten und gemeinen Fragen, die man einem anderen stellen kann, ist die nach dem Lieblingsfilm. Man kann darauf verächtlich lächeln, die Frage geflissentlich überhören oder lang und breit ausführen, dass die Frage dämlich und unbeantwortbar ist wie die Fragen nach der Lieblingsmusik oder dem Lieblingsmaler. Seltsamerweise hatte ich selbst eigentlich immer einen – wenn auch alle Jahrzehnte wechselnd – Lieblingsfilm. Die Sonne, die uns täuscht, 2019 nach langer Versunkenheit im digitalen Nichts wieder als DVD erschienen, war ein Film dieser kleinen Reihe

Von Christoph Becker

»Die Schwermut? Verstehe, verstehe …Weißt du was, Kolja? Versuch doch, wie früher, zu singen, zu lachen, wütend zu werden … Bleib da, wir werden lachen, Frucht­likör trinken und deine Schwermut im Nu vertreiben. Soll ich etwas singen? … Du hast so einen leidenden Blick! Ich werde in deine Augen schauen und weinen, und uns beiden wird leichter zumute.«
(aus: »Iwanow« von Anton Tschechow)

Im Sommer 1936 auf dem Lande in der Sowjet­union. Weit weg von Stalins Terror, der sich auch gegen die Elite des eigenen Militärs richtet, herrscht im Leben des Ex-Generals und Kriegs­helden Kotow (gespielt vom Regisseur Nikita Michalkow) ein beschau­li­ches Sommer­treiben. Mit seiner jüngeren Frau Marusja (Ingeborga Dapku­naite) und seiner kleinen Tochter Nadya (Nadjeschda Mich­al­kowa) genießt er die Freuden der eigenen Sauna, sein Haus bevölkern ein paar liebens­wert verrückte Verwandte, die einer Tsche­chow­komödie entsprungen sein könnten. In diese Idylle platzt der Geheim­dienst­of­fi­zier Mitja (Oleg Menschikow), ein ehema­liger Liebhaber von Marija. Es stellt sich heraus, dass er gekommen ist, um General Kotow mitzu­teilen, dass dieser am Ende des Tages abgeholt wird, um sich in Moskau zu verant­worten. Was zu dieser Zeit einem Todes­ur­teil gleich­kommt.

Auf der im Unter­grund schwe­lenden Todes­ge­fahr des Abtrans­portes entfaltet Regisseur Michalkow nun ein kompli­ziertes und tragi­sches Geflecht aus Vergan­gen­heit, Schuld, Rivalität und Liebe. Darüber legt er eine Folie der geschäf­tigen Sommer­ak­ti­vi­täten: das dörfliche Baden im Fluss, das durch eine Gasmas­ken­ü­bung slap­stick­artig unter­bro­chen wird, Zeit für eine kleine Boots­fahrt mit der Tochter, während der das ehemalige Liebes­paar sich ausspre­chen kann, Klavier­spiel und Essen, ein Ständchen der dörf­li­chen Jugend für den ehema­ligen Kriegs­helden und vieles mehr. Unterlegt von dem russi­schen Liedthema, welchem der Film seinen (über­setzten) Titel verdankt: Die von der Sonne Ermüdeten.

Fesselnd sind die Dialoge, hervor­ra­gend gespielt, von schmerz­hafter Dring­lich­keit und Inten­sität. Daneben kleine, ungemein berüh­rende Momente der Leich­tig­keit – zum Beispiel die Szene im Ruderboot, getragen von der Chemie der echten Vater-Tochter-Beziehung des Regis­seurs und seiner Tochter.

Und was tut man, wenn man weiß, dass man nur noch wenige Stunden mit seinen Liebsten verbringen kann? Einer der vielen Höhe­punkte des Films: Kotow trommelt die gesamte Haus­ge­mein­schaft zu einem großen Fußball­spiel zusammen, in dem Jung und Alt durch­ein­ander rasen und zwischen­durch eine kleine Rechnung beglichen werden kann…

Wie kann solch ein wunder­barer Film, zudem mit dem Oscar für den besten inter­na­tio­nalen Film (1995) und dem Großen Preis der Jury in Cannes (1994) ausge­zeichnet, so lange vergriffen, nahezu unauf­findbar sein? Viel­leicht haben die (vom ersten Teil aus betrachtet über­flüs­sigen und im Wider­spruch zum ersten stehenden) zwei Nach­fol­ge­filme gleichen Namens (mit den Zusätzen: Der Exodus und Die Zitadelle) oder die diskus­si­ons­wür­digen poli­ti­schen Aussagen Mich­al­kows dazu beigetragen.

Jeder folgt in einem Film, je nach Interesse und Vorge­schichte, anderen Spuren. Die Sonne, die uns täuscht bietet auf vielen Ebenen Themen an, sei es die politisch-histo­ri­sche Situation oder die Themen Eifer­sucht, Verrat, letzte Stunden, Liebes- und Fami­li­en­be­zie­hungen. Für mich umfasst dieser Film wie ein Tschechow-Stück in einem kleinen exis­ten­ti­ellen Ausschnitt das gesamte Leben.