09.04.2020

Der goldene Brei oder Mythen des Alltags

Kelly Reichardt
Berückendes Filmessay mit Kelly Reichardt: »Elaborated Time«, aufzufinden auf Youtube.
(Foto: patreon.com/luxessays)

Im Corona-Alltag Filme integrieren und Videoessays entdecken kann helfen, die klopfende Heizung zu vergessen

Von Nora Moschuering

Neue Geräusche: Die Kinder in der Wohnung nebenan. Das Fließen der Heizung in der Küche. Alte Geräusche: Das Schlagen meiner Heizung, jetzt aber über 24 Stunden verfolgt, es ist unre­gel­mäßig und stetig. Ich recher­chiere. Schreibe dem Heizungs­tech­niker und schicke ihm Aufnahmen per Whatsapp. Er antwortet nicht. Sie muss raus. Ich werde das wohl bald eigen­händig erledigen. Mit Gewalt. Ich wache mindes­tens zwei Mal pro Nacht davon auf, lege mein eines Ohr auf das grüne Kissen und das andere bedecke ich mit dem anderen, etwas leich­teren. Da man mitt­ler­weile Zeit dazu hat, mache ich mir tagsüber Sorgen, ob auf diese Weise nicht zahl­reiche kleine Fäden und Flusen in mein Ohr fallen, die dann irgend­wann mit einem kleinen Spezi­al­gerät heraus­ge­an­gelt werden müssen. Wie Katzen-Gewöll. Ich mag Ohrstöpsel nicht. Ich höre Podcasts mitten in der Nacht oder setze mich auf die Couch in der Küche, um diesen Text anzu­fangen. Die Heizung rauscht und irgend­je­mand über mir scheint eine Badewanne einzu­lassen. Jetzt? Das, was man gemeinhin Alltag nennt, verändert sich.

Ich google: Alltag im … Mittel­alter / KZ / Kinder­heim / Natio­nal­so­zia­lismus / alten Rom / Gefängnis / Todes­trakt … Alltag im Film ist bei den ersten Vorschlägen kein Thema. Offenbar ist Alltag inter­es­sant, wenn er an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Zeit statt­findet. Zu Alltag in der Corona-Pandemie wird es viel­leicht bald mehr geben, sobald es länger geht. Wahr­schein­lich ist es per defi­ni­tionem gar nicht so schnell möglich, einen Alltag heraus­zu­bilden. Das, was wir gerade erleben, ist eine merk­wür­dige Gleich­zei­tig­keit von Routi­niertem und Beson­derem.

Alltag im Film

Der Film hat sich mit dem Alltag schon immer schwer­getan. Alltag ist nicht drama­tisch, er besteht aus lauter Wieder­ho­lungs­schleifen, Routi­ne­ak­ti­vi­täten und minimalen Ände­rungen, die den Alltag an jedem Dienstag von dem an jedem Samstag unter­scheiden. Viel­leicht liegt die Dramatik einzig in der Wieder­ho­lung und der Länge. Wenn man jeden Tag aufsteht und als erstes eine Tasse Schwarztee mit zwei Löffeln Zucker zu sich nimmt, ist das lang­weilig, wenn man aber sagt: Das hat er sein ganzes Leben so gemacht, 92 Jahre lang, dann ist das schon ein Schritt Richtung Extrem. Ein Extrem, das eher in der schrift­li­chen Form funk­tio­niert als in der bild­li­chen. In einem Film würde man in 30 Sekunden 10 Schnitte machen und Requisite und Maske ändern. Das Teetrinken bekäme so eine Dynamik, die es gar nicht hat. Büchern gelingt es eher zu flanieren, und Büchern kann der Leser selber eine Zeit geben, die Lesezeit ist viel indi­vi­du­eller als die Zeit eines Films. Filme opti­mieren sich oft, das macht die Bilder zwar reich­haltig, aber sie geben sich und uns selten Zeit, in ihnen zu flanieren. Und der Alltag kippt dabei meist hintenüber.

Ich suche nach Alltags­filmen, finde auf Netflix Pappa ante Portas. Der Haus-Alltag einer Ehefrau kolli­diert mit dem Arbeits-Alltag des Früh­r­entner-Ehemannes. Loriot arbeitet mit Über­trei­bungen und einem Rentner, der zu einer Art Roboter wird. Henri Bergson beschreibt diesen Humor in seinem Essay »Das Lachen« (1900) als totale Gewohn­heit, die mecha­ni­scher Starrheit gleicht. Als Gruppe finden wir das lustig, weil wir uns distan­zieren, können uns aber gleich­zeitig auch ertappen, also wieder­erkennen und selber korri­gieren. Wir erkennen: Alltag ist so, irgendwie beru­hi­gend, aber auch ein bisschen absurd.

Dabei gibt es für einen aufmerk­samen Beob­achter wahr­schein­lich gar keinen Alltag in Reinform. Alltag besteht aus Gesten, Details, Beson­der­heiten, aus kleinen Verschie­bungen, Ände­rungen, die das Ideal nie exis­tieren lassen. Alltag ist inter­es­sant, erst recht in solchen Zeiten, in denen wir ihn neu defi­nieren.

Es gibt einige Filme, die versuchen, eine Art »Anthro­po­logie des Nahen«, wie es Marc Augé beschreibt, zu zeigen. Klaus Wilden­hahn, der 2018 verstor­bene Doku­men­tar­filmer, der im Stil des Direct Cinema Filme auch fürs Fernsehen drehte. Sein bekann­tester ist viel­leicht Heilig­abend auf St. Pauli (BRD 1968) . Oder eine drei­tei­lige Serie von Thomas Heise über rechts­ra­di­kale Jugend­liche, die man auf der Homepage der Bundes­zen­trale für poli­ti­sche Bildung finden kann. Von Antje Ehmann und Harun Farocki steht das Projekt »Eine Einstel­lung zur Arbeit« online, Unter­su­chungs­ge­gen­stand hier: die (meist) repe­ti­tive Arbeit. Die gibt es gerade auch noch. Für einige gibt es aber gar keinen Arbeits-Alltag mehr, für andere ist er ins Home-Office gewandert. Auch viele Fern­seh­sen­dungen arbeiten mit Home-Videos. Das Zuhause ersetzt das Studio. »Heute Show«, »Die Anstalt«, »Xtra3«, Theater, Konzerte, intim und trotzdem mit einem unheim­lich vergrößerten Zuschau­er­raum. Das ist Arbeit, die noch keinen Alltag kennt, in einem Alltags­raum, der sich immer mehr in die Öffent­lich­keit begibt, es sei denn, man blurt ihn.

Auch in den USA – neben Hollywood, dieser unrea­lis­ti­schen Traum­er­fül­lungs­ma­schine – gibt es Alltag im Film. A.O. Scott beschreibt diese Filme mit dem Begriff Neo-Neo-Realismus, nach­zu­lesen in seinem Artikel im Magazin der New York Times von 2009. Dass sich dieser Begriff nicht durch­setzen würde, weil schon ein einziges »neo« oder »post« meistens ausreicht, um Hilf­lo­sig­keit in der Begriffs­fin­dung zu zeigen, und deshalb etwas stört, war abzusehen, nichts­des­to­trotz ist der Artikel inter­es­sant. Scott beschreibt US-ameri­ka­ni­sche Filme, in denen der Alltag wichtig ist: der tägliche Kampf ums Überleben oder doch zumindest um ein Auskommen. Um Freund­schaften, um Familien, um irgendwie so etwas wie Liebe. Die USA sind nämlich gar nicht so, wie wir es aus Hollywood-Filmen kennen. Ach was? Sie sind nicht alle Super­helden oder finden die einzig wahre Liebe oder gehen aus einer finan­zi­ellen oder beruf­li­chen Krise gestärkt hervor? In den von Scott erwähnten Filmen gibt es keine über­ge­ord­nete Macht, die uns qua Geburt ein Schicksal vorgibt – das bedeutet freilich nicht, dass das, was wir tun, keinen Einfluss haben kann. Aber das Leben gibt sich nicht unbedingt mit zwei Plot­points zufrieden oder einer einzigen Lebens­liebes-Geschichte. Wir sind ziemlich viel mit Geld­ver­dienen, Zähne­putzen und Essen­zu­be­reiten beschäf­tigt. Wünsche werden nicht immer wahr, Ziele werden nicht erreicht, Happy Ends gehen unter in viel­schich­tigen Momenten und sind selten ein Ende oder sie finden einfach nicht statt. Scott orien­tiert sich am Neorea­lismus der italie­ni­schen Film-Strömung nach dem 2. Weltkrieg. Die Prot­ago­nisten sind oft passiv, desori­en­tiert und suchen etwas. Sie sind keine Helden, und sie haben beschei­dene Ziele, die sie oft nicht erreichen. Filme von Ramin Bahrani, Lance Hammer oder Kelly Reichardt verlangen vom Zuschauer Geduld und Genau­ig­keit in der Wahr­neh­mung, das, was wir auch in unserem Alltag machen sollten. Das Video-Essay »Elabo­rated Time« führt ein Interview von Reichardt mit Bildern aus ihren Filmen zum Thema Zeit zusammen.

Es ist natürlich auch die Frage, ob wir gerade jetzt eben genau das nicht ansehen wollen. Ob der Wunsch nach Flucht in solchen Zeiten nicht verständ­lich ist. Wollen wir Kaffee aufbrühen und dabei jemandem zusehen, der seinen Kaffee aufbrüht? Ich gucke gerade alle Harry Potter-Filme, weil seine Welt und seine Erleb­nisse so wenig meinen gleichen, und weil ich weiß, wie es ausgeht. Ich habe aber auch Isadoras Kinder gesehen, den man bei Kino-on-demand ausleihen kann und über den Dunja Bialas vor zwei Wochen hier geschrieben hat. Der Film nimmt sich Zeit für Bewe­gungen, Gesten, Gesichts­aus­drücke. Ich habe den Film aller­dings nicht in einem durch­ge­sehen, ich habe ihn in drei Teilen geguckt und zwischen­durch gekocht und aufgeräumt. Ich habe ihn in meinen soge­nannten Alltag inte­griert. Manchmal mache ich es auch anders­herum und inte­griere den Alltag anderer in meinen. Koch­sen­dungen erschienen mir im ersten Augen­blick gut dafür, sie sind mir aller­dings meistens zu drama­tisch, also doch lieber YouTube-Videos von Menschen, die ihre Heizung entlüften oder ihre Heizungs­rohre verkleiden oder gleich demon­tieren, auch eine Art von Happy End.