27.02.2020

Für mehr Zivilcourage!

Corpus Christi
Jan Komasas Corpus Christi
(Foto: New Europe Film Sales)

Das diesjährige MITTEL PUNKT EUROPA FILMFEST ist durch fünf osteuropäische Länder (Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei und Slowenien) vertreten und bietet dem Zuschauer eine breite thematische Vielfalt an.

Von Tatiana Moll

Die Filme geben Einblick ins Leben der Menschen, in ihre Traum- und Trauma-Welten, in ihre Zweifel, Hoffnungen, Ängste und ihren Kampf um ein würde­volles Dasein. Sie zeigen den Befrei­ungs­schlag der Prot­ago­nisten, sind Appell gegen die vorherr­schenden Macht­formen und sind somit Wegweiser der Filmkunst. Zum Teil erkennt sich der Zuschauer in diesen Filmen wieder, zum Anderen erscheint es ihm wie ein Albtraum, auch weil viele dieser Filme auf wahren Bege­ben­heiten basieren.

Eröffnet wird mit dem Doku­men­tarfilm des slowa­ki­schen Regis­seurs Marek Kuboš Posledný auto­por­trét (SI 2018). Der Titel „Das letzte Selbst­por­trait“ ist hier wörtlich zu nehmen, denn laut Regisseur ist dies seine letzte Doku­men­ta­tion. In diesem Werk steht er als Künstler selbst vor der Kamera und reflek­tiert aus verschie­denen Rollen über sein Lebens­werk, seine lange künst­le­ri­sche Pause, sowie über das schwere Schicksal des heutigen Doku­men­tarfilms. Insbe­son­dere werden die mora­li­schen Grenzen im Doku­men­ta­ri­schen sowohl im Dialog mit seinen Kollegen, als auch mit sich selbst in Form eines Selbst­ge­sprächs in Frage gestellt. Am Ende dieses sehr thera­peu­tisch ange­hauchten Selbst­er­kenntnis-Prozesses voller Zweifel wird eine schwer­wie­gende Entschei­dung getroffen. (FMM, 27.02. 19:00 Uhr, Regisseur Marek Kuboš ist zu Gast). Apropos, die Psycho­the­rapie scheint momentan sehr en vogue zu sein, so dass auch der avant­gar­dis­ti­sche und sehr empfeh­lens­werte Anima­ti­onsfilm des unga­ri­schen Künstlers und Filme­ma­chers Milorad Krstič Ruben Brandt, Collector (HU 2018) diese zu einem der Haupt­themen macht. Erzählt wird von dem Art-Thera­peuten Ruben Brandt (zwei berühmte Künstler lassen in seinem Namen grüßen!), der von surrea­lis­ti­schen Alpträumen in Form von dreizehn welt­berühmten Kunst­werken so geplagt wird, dass er sich gezwungen fühlt, diese Kunst­werke von seinen Patienten stehlen zu lassen, um seine psychi­sche Krankheit zu bewäl­tigen. Eine gewaltige Mischung aus Kunst, Psycho­logie und Krimi mit kubis­tisch reali­sierten, Picasso ähnlichen Figuren zieht den Zuschauer in den Bann auf einer surreale Karus­sell­fahrt durch die welt­berühmten Galerien mit vielen erkenn­baren Kunst­werken sowie zahl­rei­chen Anspie­lungen aus der Kino- und Musikwelt. Ein wahres Feuerwerk aller ästhe­ti­schen Sinne! (FMM 29.02 18:30 Uhr)

Weniger heiter und opti­mis­tisch geht es in den Filmen Ich werde keine Loserin mehr sein (SI 2018), dem Debüt der slowe­ni­schen Filme­ma­cherin Urša Menart, sowie Falsche Poesie (HU 2018) von Gábor Reisz zu, welche Unsi­cher­heiten, Unge­wiss­heiten und Zweifel der Prot­ago­nisten gekonnt einfangen. Ähnlich der Hauptfigur aus dem Film Ich werde keine Loserin mehr sein (28.02. 18:30 Uhr), die nach dem Studium der Kunst­ge­schichte keinen ihrer Ausbil­dung ange­mes­senen Job findet, so dass sie bei den Eltern hausend mit Gele­gen­heits­jobs resi­gniert ihre Existenz fristet, kehrt auch der Prot­ago­nist des Films Falsche Poesie (FMM 3.03. 21:00 Uhr), der 33-jährige Werbe­texter Tomás, völlig hoffnungslos und von seiner Freundin verlassen aus Paris nach Budapest zurück und weiß nicht, was er mit sich anfangen soll. Sein zukünf­tiger Job als Slogan-Dichter für eine Hühnerflei­schfirma ekelt ihn an, sein Herz ist durch Tren­nungs­schmerz gebrochen. So taucht er — vor der uner­freu­li­chen Realität fliehend — in Erin­ne­rungen ein, um dort nach den Sachen seiner desolaten Lage zu suchen. Ein urko­mi­sches und zugleich melan­cho­li­sches Porträt der Mill­en­nials Genera­tion. Die Dreißiger-Genera­tion ist ebenfalls Thema des Debütfilms Karel, ich und du des tsche­chi­schen Filme­ma­chers Bohdan Karásek, der selber eine der Haupt­rollen übernimmt (FMM 1.03. 20:30 Uhr). Und auch hier geht es um Ängste, Unsi­cher­heiten und Zweifel, nur diesmal in Bezug auf die Bezie­hungs­krise. Es ist ein ruhig erzähltes Bezie­hungs­drama ohne große Worte und über­trie­bene Perfor­mance der Gefühle. Die mini­ma­lis­tisch ausge­stal­tete Mumble-Core-Ästhetik des Films, die durch viele spontane Dialoge zum Ausdruck kommt, sowie rhyth­mi­sie­rende Trom­mel­töne verleihen ihm eine Prise Humor und eine gewisse Leich­tig­keit, was nicht zuletzt auch an den Haupt­cha­rak­teren liegt, die trotz ihres Alters jugend­lich bzw. nicht sonder­lich reif wirken.

Voller jugend­li­chen Impetus, aber diesmal auch Hoffnung, strahlt ein weiteres Filmdrama Corpus Christi (PL/FR 2019) des polni­schen Regis­seurs Jan Komasa. Er war Kandidat als „Bester inter­na­tio­naler Film“ bei der dies­jäh­rigen Oscar­ver­lei­hung (FMM 28.02. 21:00 Uhr). Der Film handelt von wahrem Glauben, von Hoffnung auf eine bessere, voll­kom­me­nere Welt ohne Vorur­teile. Porträ­tiert wird ein junger Mann namens Daniel, der in der Straf­ko­lonie eine geistige Verklä­rung erlebt und Priester werden möchte, was wegen seiner Vorstrafe nicht möglich ist. Dennoch ergreift er bei der ersten Möglich­keit die Chance, sich als Priester in einer Gemeinde auszu­geben und tritt dank seines aufrich­tigen Glaubens — auch wenn nur für kurze Zeit — als ein neuer charis­ma­ti­scher, wenn auch sehr unkon­ven­tio­neller und fast rebel­li­scher Glau­bens­pre­diger auf, der wie viele Jugend­liche sportlich gekleidet ist, laute Musik hört und raucht. Sehr erfri­schend!

Wenn der Glaube in Corpus Christi eine erlösende, befrei­ende und frie­dens­stif­tende Wirkung hat, so wird er im Doku-Roadmovie Weite Ferne (CZ 2019, Regie: Martin Mareček) einengend, beängs­ti­gend, fast fanatisch. Gezeigt wird die Reise des Fami­li­en­va­ters Vít mit seinem Teenager­sohn Grigorij von Brno nach Russland zu seiner Ex-Frau und deren gemein­samer Tochter. Während der langen Fahrt durch das ländliche Russland schwelgt er in den Erin­ne­rungen an sein damaliges Leben mit seiner Ex-Frau, die aufgrund einer Fami­li­en­tra­gödie — vor der Realität fliehend — Zuflucht in der strengsten, beklem­mendsten Ortho­doxie gefunden hat. (3.03. 20.30 Uhr; Vít und Grigorij Kalvoda zu Gast). Alle Filme des Festivals spielen in der Gegenwart, alle bis auf einen — Begna­di­gung (PL 2018) von Jan Jakub Kolski, der im Sinne der Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung kühn von dem Trauma der Nach­kriegs­zeit in Polen erzählt (FMM 3.03 18:30). Indem dieser hoch emotio­nale Film die Begriffe der Menschen­liebe und Humanität neu definiert, unter­nimmt er einen Versuch der Versöh­nung mit der Vergan­gen­heit. Auch im slowe­ni­schen Drama Unter Tage (SI 2017) handelt es sich um eine Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, eine auf mehreren Schichten funk­tio­nie­rende. Darge­stellt wird ein erfah­rener, aus Bosnien stam­mender Bergmann, der bei der Unter­su­chung eines alten Schachts Überreste tausender getöteter Menschen — Opfer unauf­ge­klärter Nach­kriegs­ver­bre­chen — entdeckt, was bei ihm eine alte Wunde öffnet — der Völker­mord in Bosnien. Ein zutiefst erschüt­terndes und seelische Narben hinter­las­sendes Kino! (FMM 4.03. 21:00 Uhr; zu Gast ist die Regis­seurin Hanna Slak).

Leider nicht nur in der Vergan­gen­heit, sondern auch in der Gegenwart herrscht sinnlose Gewalt. Diesmal in Form des Rechts­ra­di­ka­lismus, von dem drei weitere Filme handeln. Im Debütfilm von Teodor Kuhn Mit einem scharfen Messer (SK 2019) wird ein 18-jähriger von einer Gruppe Neo-Nazis ermordet. Die Versuche seines Vaters die Gerech­tig­keit trium­phieren zu lassen, indem der Mörder bestraft wird, scheinen im korrupten Staats­system der Slowakei zum Scheitern verur­teilt zu sein (FMM 2.03 20:30 Uhr). Ein weiterer slowa­ki­scher Film von Marko Škop Es werde Licht (SK 2019) zeigt die unglaub­lich stark vernetzten Macht­struk­turen der Neo-Nazis, die bis in die Kirche reichen (FMM 6.03 18:30 Uhr).

Der durch­drin­gende, gewaltig wirkende und sehr sehens­werte Film Genesis (HU 2018) von Árpád Bogdán erzählt von einem blutigen Überfall der Neo-Nazis auf eine Roma-Siedlung, der die Schick­sale der drei Prot­ago­nisten des Films nach­haltig verändert. Die wieder­holte rechts­ra­di­kale Thematik regt zum Nach­denken über die Gefahren, die der Rechts­ex­tre­mismus mit sich bringt, an und appel­liert für mehr Zivil­cou­rage.

Der Abschlus­sfilm des Filmfests ist ein weiteres Spiel­debüt (es sind einige dieses Jahr!) des tsche­chi­schen Regis­seurs Michal Hogenauer A Certain Kind of Silence (CZ 2019), ein mini­ma­lis­ti­scher Psycho­thriller über die Macht der Mani­pu­la­tion, die zu schlimmsten Taten — wie Gewalt an Kindern — führen kann. Ein äußerst kryptisch-verstö­rendes und erschau­derndes Kino­er­lebnis! (8.03. 18:30)
Viele dieser Filme sind sicher­lich keine leichte Kost. Durch ihre gewal­tigen Bilder und bewe­genden Themen hinter­lassen sie unaus­lö­sch­liche Spuren und Narben, treffen den Zuschauer tief ins Innere. Indem sie über die hoch brisanten poli­ti­schen Themen reflek­tieren, werden sie zum macht­vollen Instru­ment eines pazifis­ti­schen, frie­dens­stif­tenden, gewalt- und trauma­be­wäl­ti­genden Dialogs. Und darin liegt fürwahr die eigent­liche Aufgabe der wahren Kunst.

Das Mittel Punkt Europa Filmfest findet vom 27.02-8.03 – im Münchner Stadt­mu­seum (FMM) und vom 28.02-3.03 in der Regens­burger Galerie im leeren Beutel. statt. Weitere Infor­ma­tionen unter http://www.mittel­punk­t­eu­ropa.eu/.