06.12.2018

Vertrei­bung aus dem Paradies

Bernardo Bertolucci 2011
Bernardo Bertolucci, 2011
(Foto: © Elisa Caldana / Cinemazero)

Er war einer der größten Filmregisseure seiner Generation, eine Regie-Legende; seine Filme zählen zu den Klassikern des europäischen Autorenfillms nach der Nouvelle Vague in den 70er Jahren galt er als Skandalregisseur und Bürgerschreck. Doch sein Kino ist erfüllt von Sehnsucht, Jugendlichkeit und Neugier – jetzt ist der große italienische Filmemacher Bernardo Bertolucci in seiner Heimatstadt Rom im Alter von 77 Jahren gestorben.

Von Rüdiger Suchsland

»Fragt man zehn Leute, die aus dem Kinosaal kommen, was die Geschichte des Films war, wird man zehn verschie­dene Versionen hören.« -Bernardo Berto­lucci

Er hatte eine Brumm­bär­stimme und einen massigen Körper, und doch strahlte Bernardo Berto­lucci etwas Feines, Zartes, fast Schüch­ternes aus, eine Sensi­bi­lität und Intel­li­genz, die auch seine Filme prägt. Berto­lucci steht für ein Kino, das glei­cher­maßen sinnlich und intel­lek­tuell ist.

1941 in Parma zur Welt gekommen, wurde Rom zu seiner eigent­li­chen Heimat­stadt. Es war eine bürger­liche Kindheit, der Vater war Dichter und Jour­na­list, und Berto­lucci wuchs früh hinein in die kultu­relle Elite des Italien der Nach­kriegs­zeit, das vom Anti­fa­schismus und dem »Histo­ri­schen Kompro­miss« zwischen Katho­li­zismus und Sozia­lismus geprägt war. In der römischen Kultur-Szene lernte er unter anderem die Schrift­steller Alberto Moravia und Per Paolo Pasolini kennen. Letzterer wurde zu einer Art geistiger Vater­figur (aber der Großvater dazu heißt Visconti; s.u.). Die Regie­as­sis­tenz bei Pasolinis frühem Film »Accatone« öffnete ihm den Weg ins Kino, später verfilmte er Moravias Roman »Der Konfor­mist« mit Jean-Luis Trin­ti­gnant in der Titel­rolle.

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»Berto­lucci hält das Erbe von Pasolini als Fackel in die Höhe, um zu verbergen, dass er ästhe­tisch als Erbschlei­cher Viscontis in die Filmwelt kam.«
Karsten Witte »Der späte Manierist«; 1982 (= zentraler Essay im Berto­lucci-Band der blauen Hanser-Reihe)

Als Filme­ma­cher war Berto­lucci ein Reprä­sen­tant der Genera­tion nach dem Neorea­lismus, für den er zu jung war. In seinem opulenten, manchmal epischen, immer die Ober­flächen schät­zenden Stil war er einem Visconti und Pasolini mehr verpflichtet als Rossel­lini oder de Sica.

Das bedeutete sowohl, dass der Einfluss der Nouvelle Vague für ihn wichtig wurde, wichtiger als der der Lands­leute. »Als ich das erste Mal Regie führte, 1962 mit 21 Jahren, , kamen Jour­na­listen. Ich hatte noch nie Inter­views gegeben, und naiv und brutal wie das meinem Alter entsprach, sagte ich: 'Das Interview führen wir natürlich auf Fran­zö­sisch.' Das waren alles Italiener, Römer und so wollten sie wissen warum. Meine Antwort: 'Weil Fran­zö­sisch die Sprache des Kinos ist.'«
Berto­lucci liebte auch das Ameri­ka­ni­sche Kino, auch das Hollywood der 50er Jahre. So arbeitete er mit Schau­spie­lern wie Marlon Brando, Burt Lancaster und Robert de Niro; später noch Liv Tyler und Michael Pitt.
Das Ameri­ka­ni­sche liebte er so sehr, dass er sogar einen Western schrieb. Wer weiß schon, dass das Drehbuch zu dem Meis­ter­werk seines Kollegen Sergio Leone, Spiel mir das Lied vom Tod (1968) von ihm stammt. Aber wer es weiß, der erkennt Berto­luccis Liebe zum Über­drehten, Hyper­rea­lis­ti­schen, zur Künst­lich­keit der Oper, einer Künst­lich­keit, die den Dingen unter die Haut kriecht.

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''Politics was part of our life. People don’t seem involved or passio­nate anymore; politics is something distant.''
-Bernardo Berto­lucci, 2014

Trotz mehrerer wichtiger Filme vor 1970 – etwa Vor der Revo­lu­tion und der Borges-Verfil­mung Die Strategie der Spinne – steht Berto­lucci vor allem für das Kino, das die 68er Erfahrung aufzu­ar­beiten versucht und die poli­ti­sche Gemenge­lage im Italien der 70er. in seinen Filmen verschmelzen Marxismus und Psycho­ana­lyse, anti­mar­xis­ti­scher Indi­vi­dua­lismus und die Lust auf die Entde­ckung der Welt außerhalb Europas.

Die wird in seinem berühm­testen Film deutlich: wurde 1987 ein Welterfolg, und gewann unter anderem neun Oscars: Als erster west­li­cher Regisseur durfte Berto­lucci in Pekings »verbo­tener Stadt« drehen, dem alten Kaiser­pa­last. Seine Bilder, wie immer gestaltet von Vittorio Storaro, hielten auch ein China fest, das nach den Roten Garden dann der kapi­ta­lis­ti­schen Hyper­mo­der­ni­sie­rung seit 1989 zum Opfer fiel, und erweisen sich so auch von enormem histo­ri­schen Wert. Die Verfil­mung von Pu Yis Auto­bio­grafie »Ich war Kaiser von China« entdeckte den Fernen Osten für das euro­päi­sche Kino­pu­blikum, und zeigte die Verban­nung des 18-jährigen Kaisers aus der »Verbo­tenen Stadt« als Vertrei­bung aus dem Paradies. Versteckt richtete sich das auch an die Freunde und Wegge­fährten: Als eine sehr diffe­ren­zierte Betrach­tung der Revo­lu­tion, die in eine Abrech­nung mit dem Maoismus der Linken mündete und ihrer naiven Begeis­te­rung für die Kultur­re­vo­lu­tion. Damit nahm Berto­lucci auch das neue Kino der 5.Genera­tion Chinas vorweg: Erst 1989 erlebte es mit Zhang Yimou und Chen Kaige seinen Durch­bruch.

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»Natürlich geht es in dem Film um Sex. Aber mehr noch um den Drang des Besitzen-wollens. Dieser Drang gipfelt in der gegen­sei­tigen Zerstö­rung. Man zerstört das, was man liebt, um es ganz zu besitzen.«
»Einzig der Sexus ist in der west­li­chen Gesell­schaft noch lebendig. Der ganze Rest ist tot: die Bour­geoisie, die Ehre, die Orden, die Familie, die Ehe und sogar die Liebe selbst.«
-Bernardo Berto­lucci über Der letzte Tango in Paris

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Voraus­ge­gangen waren zwei andere Meis­ter­werke: Der letzte Tango in Paris, der weit mehr ist als ein Skan­dal­film zur »Sexuellen Revo­lu­tion«, sondern ein großes, miss­ver­stan­denes Werk der Film­ge­schichte: Eine Reflexion über entfrem­detes, defor­miertes, todes­sehn­süch­tiges Leben, ein Reigen über Sex und Tod.
»The Movie Breakthrough has finally come« schrieb immerhin Pauline Kael im »New Yorker« – dies nur, um alle neueren Legenden zu wider­legen, nach denen dies »kein besonders guter Film« sei, sondern eine »Macho-Seifen­oper«, »was auch damals erkannt wurde, als die Würde der Frau noch nicht so viel galt...«
Wer den Film heute sieht, und bei Sinnen ist, der erkennt die seis­mo­gra­phi­sche Präzision, mit der hier die Melan­cholie der 70er fest­ge­halten wird, die man schon als Kind jener Jahre spüren konnte, der Sieg des Konsums und der Beginn der Sinn­lo­sig­keit. »Nach der Revo­lu­tion« hätte dieser Film auch heißen können.
Zum Zeitgeist, den der Film erstaun­lich genau reprä­sen­tiert, gehört auch ein anderes Verhältnis zur Sexua­lität und zu den Bezie­hungen von Männern und Frauen. Die recht unver­blümten Sexszenen machten den Film zum Skan­dal­s­tück. Was dabei genau zwischen den Haupt­dar­stel­lern Maria Schneider und Marlon Brando am Set vorging, ist gegenüber der künst­le­ri­schen Leistung des Films nicht zweit-, sondern dritt­rangig.

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Noch viel wichtiger als Der letzte Tango in Paris und wohl Berto­luccis bester Film: 1900, im Original Novecento, was viel umfas­sender ist, und mehr meint, denn es nimmt das ganze 20. Jahr­hun­dert in Blick und die gleich­na­mige italie­ni­sche Küns­ter­gruppe zur Zeit des Faschismus, ist noch einmal ein anderer Versuch poli­ti­sches und revo­lu­ti­onäres Kino zu produ­zieren: »Mein Ziel war es, einen poli­ti­schen Film endlich einmal so populär zu machen, dass er von den Massen gesehen wird. Denn nur so kann ein poli­ti­scher Film seiner Aufgabe gerecht werden: Eben eine bestimmte Ideologie optimal zu verbreiten.«

So schickt er Robert de Niro und Gerard Depardieu, die damals noch keines­wegs so berühmt waren, wie heute, in den Klas­sen­kampf gegen Donald Suther­land. Novecento ist ein Gesell­schafts­por­trät Italiens zwischen 1900 und 1945, voller Liebe für den länd­li­chen Norden der Po-Ebene. Es geht darin um das Verhältnis von Ober­klasse und Unter­klasse. Wie in Viscontis Der Leopard spielt Burt Lancaster einen Groß­grund­be­sitzer – die Besetzung macht Novecento zu einer Art Fort­set­zung dieses Films, und zugleich zu dessen Antithese. Denn Berto­lucci erzählt hier vom Wandel der Geschichte, nicht von Bestän­dig­keit. Und er erzählt vom Faschismus, der Ober- wie Unter­klasse an die Träume wild­ge­wor­dener Klein­bürger verrät.
Novecento zeigt, wie der Faschismus aus der Ignoranz der bürger­li­chen Mittel­klasse groß wird.

Parallel zu den Dreh­ar­beiten drehte Pasolini ein paar Kilometer weiter Die 120 Tage von Sodom. Zwischen der Arbeit haben sich die beiden Teams regel­mäßig getroffen – zu Fußball­mat­ches! Wie gern wäre man dabei gewesen.

2003 entstand noch einmal ein Meis­ter­werk: Mit Die Träumer träumte sich Berto­lucci ins Paris des Mai ‘68 und damit in seine eigene Jugend zurück. Die Jugend entdeckte dort zwar nicht den »Neuen Menschen«, aber das Kino. Noch einmal sah man hier eine Erzählung vom Paradies und der Vertrei­bung aus ihm.
Und die visuelle Summe einer Erfahrung, die er viel früher treffend formu­liert hatte: »Die wich­tigste Entde­ckung, die ich nach den Ereig­nissen vom Mai 1968 machte, war, dass ich die Revo­lu­tion nicht für die Armen gewollt hatte, sondern für mich. Die Welt hätte sich für mich ändern sollen.«

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»This is something that I dream about: to live films, to arrive at the point at which one can live for films, can think cine­ma­to­gra­phi­cally, eat cine­ma­to­gra­phi­cally, sleep cine­ma­to­gra­phi­cally, as a poet, a painter, lives, eats, sleeps painting.«
-Bernardo Berto­lucci

Nicht alle Filme Berto­luccis waren ähnlich bedeutend. Was auffällt in der Rückschau, ist, dass auch die schwächeren von den zentralen Themen des Regis­seurs durch­drungen sind: Immer wieder das Bürgertum. Immer wieder die sympa­thi­sie­rende Partei­nahme für de Jungen. Immer wieder der Inzest. Den sah der Marxist und Freu­dianer wohl mehr symbo­lisch als nur konkret. In dem Sinn sind auch Alfredo und Olmo in Novecento Brüder, Paul und Jeanne in Der letzte Tango in Paris Vater und Tochter. Konkret wird es auch in , Vor der Revo­lu­tion, Die Träumer, Ich und Du. Nur an Zufall mag ich da nicht glauben.
»Als ich Pasolini 1969 erzählte, dass ich mit einer Psycho­ana­lyse beginne, war er sehr erschro­cken. Er sagte zu mir: Du riskierst, Dein künst­le­ri­sches Talent zu verlieren. Mach es wie ich: Lies sein ganzes Werk. Das ist genug.« Hier aber eman­zi­pierte sich Berto­lucci vom Verehrten: »Die Psycho­ana­lyse ist wie eine zusätz­liche Linse: Zeiss, Pana­vi­sion, Sigmund Freud.«
Bemer­kens­wert, dass die Gesell­schaft und die Geschichte in manchen seiner Filme eine große Rolle spielen, in anderen aber gar keine: In Der letzte Tango in Paris und Die Träumer bleibt sie komplett außen vor, der Schau­platz ist das Innere einer großen bürger­li­chen Wohnung.
Aber selbst und Novecento sind am Ende sehr intime, private Geschichten. Mehr als ein Hauch von Reali­täts­flucht.
Der Verlust der Illu­sionen ist das Zentrum von Berto­luccis Werk, ein Verlust, den er immer wett­zu­ma­chen versucht, durch Form. Aber zu stark ist der Sog jener Leere, die mit den Faschismus und dem Konfor­mismus verbindet. Die reak­ti­onäre, konsu­mis­ti­sche Seite des Bürger­li­chen hat gesiegt über die revo­lu­ti­onäre. Das kalte Ende der Romantik, die endgül­tige Vertrei­bung aus dem Paradies.

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Aus Berto­luccis offenen Bildern quillt eine Sinn­lich­keit, wie sie in dieser über­wäl­ti­genden Kraft auf den Lein­wänden heute eher selten anzu­treffen ist: Er war ein Magier der Sinne. Seine Filme trak­tieren unsere Rezep­toren sehr bewusst und sehr geschickt. Berto­lucci hatte auch ein sicheres Gespür für die Aura von Origi­nal­schau­plätzen: Man kann beim Betrachten seiner Filme fühlen und riechen, dass man vor Ort mit dabei ist.

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In seinem sehr schönen Nachruf in der ZEIT schreibt Georg Seeßlen treffend: »Bernardo Berto­luccis Filme haben stets betört, berauscht, über­wäl­tigt, inspi­riert, erregt. Manchmal ... folgte auf den Aufruhr der Sinne und der Gedanken ein Gefühl von Gleichmut, von Aussicht auf Verän­de­rung, meistens aber von Verzicht, Lähmung, Abschied. Alles in allem verlässt man nach Berto­lucci-Filmen das Kino (und nur dort gehören sie hin) stets mit einer eigen­tüm­li­chen Wehmut. Schön war das alles, aber um welchen Preis? Das Scheitern zu begreifen? Hinter die Insze­nie­rungen zu blicken? Dem Tod bei der Arbeit zuzusehen?
Was Luchino Visconti für das italie­ni­sche Nach­kriegs­kino war, die Verbin­dung von bürger­li­cher Dekadenz und revo­lu­ti­onärer Energie, das war Bernardo Berto­lucci für die Zeit nach 1968. Die wahre Schönheit war immer nur vor der Revo­lu­tion, und doch musste sie, die Revo­lu­tion, nicht bloß als poli­ti­sches Ereignis, sondern auch in den Bildern und Worten vollzogen werden. Darum konnten beider Filme, bei allen Unter­schieden, von nichts anderem handeln als von der Hoffnung auf das Leben und der Sehnsucht nach dem Tod.«

Und Fabian Tiedke gräbt in der taz das rührende Gedicht »An einen Jungen« aus, das Pier Paolo Pasolini dem jungen Bernardo Berto­lucci 1958 gewidmet hat:
»Mit dem verwirrten Lächeln dessen, der die Schüch­tern­heit / und die Bitter­keit mit Heiter­keit erträgt // kommst Du zu den erwach­senen Freunden, voller Stolz / bescheiden, brennend stumm, sitzt du / aufmerksam unseren Ironien, unseren Leiden­schaften lauschend. / Uns zu imitieren und uns fern zu sein, bereitest Du Dich vor / Dich beinahe Deines fest­li­chen Herzens schämend / Sie gefällt Dir, diese Welt!«

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»Man kann einen Film mit einem Pira­ten­schiff verglei­chen. Er hat sein eigenes Leben und ich bin der Kapitän dieses Schiffs. Ich muss mich nach dem Wind richten.«
-Bernardo Berto­lucci

Was bleibt neben diesen Werken von Berto­lucci? Weniger ein Stil, außer dem Klas­si­zismus, dem Willen zum Epischen, zum monu­men­talen Malen mit der Kamera,
sondern ein Interesse und eine Haltung: Die Würde der Melan­cholie, die Lust an Intel­lek­tua­lität und den Gaben der Welt, die Sehnsucht nach Jugend.