19.05.2016

Das Volk fehlt

Zonas de rebelión
Zonas de rebelión: Der kürzeste Film des »Themas« ist ein filmi­sches Manifest, kollektiv entstanden während der Besetzung der mexi­ka­ni­schen Piaza de la Consti­tu­ción.

Die 62. Inter­na­tio­nalen Kurz­film­tage Ober­hausen auf der Suche nach dem »neuen Latein­ame­rika«

Von Dunja Bialas

Nach­denken über »el pueblo«. Fünf Tage lang, in acht Programmen und über fünfzig Filmen. Dabei stellte sich dem Besucher des dies­jäh­rigen Ober­hausen-»Themas« – el pueblo – unwei­ger­lich die Frage: Was eigent­lich ist el pueblo, und wieso überhaupt sollte ich mich hier und jetzt dafür inter­es­sieren? Zum ersten Mal seit drei Jahren war die renom­mierte Neben­reihe, wegen der allein es sich lohnt, zu den Kurz­film­tagen zu pilgern, inhalt­lich gefasst (und nicht medi­en­re­flexiv wie die letzten drei Vorgän­ger­themen »Flatness«, »Film without film« und »3D«, eine Diskurs-Tradition, die im nächsten Jahr wieder aufge­griffen werden soll, so wurde nachts beim Bier kolpor­tiert). »El pueblo«, damit ist »das Volk« Latein­ame­rikas gemeint, und inter­es­sieren sollen wir uns deshalb dafür, weil der Begriff, wie sich heraus­stellte, zwar überholt ist, aber inter­es­sante Tradi­tionen von Kampf und Kine­ma­to­gra­phie in sich birgt, in deren Absetzung sich viele neue Filme posi­tio­nieren. Eine Verab­schie­dung des mili­tanten Kinos der 60er Jahre, »Wir sind das Volk«-Demons­tra­tionen, kommu­nis­ti­sche Utopien, aber auch von Armuts-Darstel­lungen, Folklore und Diktatur.

Themen-Kurator Federico Wind­hausen fächerte den Begriff anti-tradi­tio­nell rein seman­tisch auf und subsu­mierte »Region, Nation, das Volk allgemein, das Dorf«, ohne ausdrück­lich Blicke auf Politik oder Gesell­schaft werfen zu wollen. Die einzelnen Programme entfal­teten dann jedoch ein kollek­tives Bild über Arbeit, Ethno­gra­phie, Migration, Urbanität, Protest und Gesell­schaft, die die Harm­lo­sig­keit des Wind­hau­sen­schen Wortfeld-Ansatzes zum Glück durch­kreuzten und ein viel­stim­miges und –deutiges Bild entwarfen, das, wenn man alle acht Programme durch­ge­sessen hatte, doch so manche Erkenntnis lieferte.

Ins Zentrum des Themas hatte Wind­hausen, auf der »Suche nach dem neuen Latein­ame­rika«, zeit­genös­si­sche Künst­ler­filme gestellt. Ein »Künst­ler­film«, das ist ja ebenso wie der Kurzfilm eine oftmals angst­ma­chende kine­ma­to­gra­phi­sche Spezies, im schlimmsten Fall ambi­tio­niert der eine, poin­ten­ver­sessen der andere. Das »Thema« war, wie die Kurz­film­tage insgesamt, nicht vor derar­tigen Ausrut­schern gefeit, es fanden sich aber auch hell­sich­tige Werke im Programm, die das »Kunst­volle« einsetzten, um Andeu­tungen und Brüche zu insze­nieren und so das Allum­fas­sende, Gesamt­heit oder Ganzheit zu verwei­gern, das Erzählen vorzu­ent­halten. Das »Volk« schälte sich aus dem »Thema« vielmehr in kaum noch mosa­ik­fähigen Split­ter­s­tü­cken, die mehr auf das Zerbro­chene als auf eine Identität hinwiesen.

Metaphern für die latein­ame­ri­ka­ni­schen Seele

Es gab Beispiele für den sehr gelun­genen Künst­ler­film, die wie Metaphern für die latein­ame­ri­ka­ni­sche Seele wirkten. Federico Adorno entfal­tete in La Estancia (Paraguay 2014) eine poli­ti­sche True-Crime-Scene, die im nächt­li­chen Absuchen eines Zucker­rohr­feldes ein Massaker offen­barte. Ein Szenario, das ohne Worte auskommt, das immer wieder in den Schatten der Nacht verschwindet, in denen die Land­ar­beiter auf- und abtauchen, eine Ästhetik des Schre­ckens, gezeichnet von Trauer und Unfass­bar­keit.
Oder Guillermo Moncayos Echo Chamber (2014), eine fran­zö­si­sche Produk­tion, die der kolum­bia­ni­schen Eisen­bahn­linie zwischen Karibik und Pazifik in einer Kunst­ak­tion nachging, ein mit Laut­spre­cher bewehrtes Schienen-Motorrad durch die Dörfer schickt, dabei Warnungen ausruft, vor einem bevor­ste­henden Hurrican und, ganz allgemein, dem Untergang. Oder Carlos Silvas El Hueco (Chile 2013), dem ein Pizza­wagen in einer Straßen­ni­sche zum Anlass wird, über ökono­mi­sche Alter­na­tiven zum großen, globalen Kommerz nach­zu­denken. Schließ­lich Cristian Alcaróns großar­tiger Propa­ganda, 10mo Aniver­sario (Peru 2010), der sehr witzig über die Bilder von der Wieder­wahl des japanisch-perua­ni­schen Poli­ti­kers (und verur­teilten Diktators) Alberto Fujimori die Tonspur eines japa­ni­schen Mons­ter­films legte. Das war poli­ti­scher Kommentar genug, und fand, indem er sich die Mitteln der Propa­ganda zunutze machte, zu einem Abgesang an das Tota­litäre. (Einen Auszug gibt es hier.)

Fujimoro

Cristian Alcaróns PROPAGANDA, 10MO ANIVERSARIO: Abgesang auf das Tota­litäre

Einige Filme feierten sich jedoch auch als verkün­s­telt-diskur­sive Abhand­lungen. Das nervte im Kino und wäre eventuell im Kunst­kon­text besser platziert gewesen. Um nur drei Beispiele zu nennen, waren dies Nariño aus Kolumbien über einen Thea­ter­work­shop, die lite­ra­ti­sche Verrät­se­lung La cabeza mató a todos (Puerto Rico) oder die Perfor­mance-Doku Ficções aus Brasilien. Filme, die schnell und fürs Netz gedreht waren, als Doku­men­ta­tionen des eigenen Tuns (so vor allem im Programm »Theater of Conflict«), waren der dritte zeit­genös­si­sche Pfeiler, durchaus konse­quent beim Blick auf das Volk von heute, im Kinosaal jedoch: ermüdend.

Der zweite große Strang der Program­mie­rung machte diese filmi­schen Durst­stre­cken aber wieder wett. Die Rückschau auf die Tradition poli­ti­schen Filme­ma­chens in Latein­ame­rika verwies in zahl­rei­chen Beispiele aus den 60er bis 90er Jahren auf eine unter­ge­gan­gene poli­ti­sche Zeit des Aufbruchs und der Aufruhr. Die man sich auch als eine filmisch gefasste denken kann, so sehr wirkten die 16- und 35mm-Filme wie eine mate­ri­elle Konter­re­vo­lu­tion zur digitalen heutigen Zeit. Chick Strands Fake Fruit Factory (1986) zeigte, wenn auch als DCP vorge­führt, den wunder­baren Moment, wenn sich das Korn des Film­ma­te­rials in extremen Close-ups an Gegen­s­tände, Hände und lachende Münder schmiegt. Die 2009 verstor­bene Ameri­ka­nerin bringt den doku­men­ta­ri­schen mit dem Blick der Avant­garde zum Verschmelzen, haucht den Arbei­te­rinnen einer Holz­früchte-Fabrik Erotik und Begehren ein (hier gibt es den Film auf Vimeo).

Chick Strand

Notiere: Chick Strand ist allemal eine Retro­spek­tive wert.

Zur regel­rechten Feier von Material und anar­chi­scher Lust am Film geriet der brasil­lia­ni­sche Cocô Preto von Marcos Bertoni, von Super8 auf die riesige Leinwand im Lichtburg-Kinosaal proji­ziert. Der Regisseur höchst­per­sön­lich war am Projektor und hielt live ins Bild den »Cocô Preto«, einen unde­fi­nier­baren Gegen­stand, den er zum »Außer­ir­di­schen« erklärte und ins recycelte Film­ma­te­rial des 1986 gedrehten Sangue de tatu tauchte: »Film without Film« und »pueblo« als Frem­der­fah­rung eines Außer­ir­di­schen. So schön kann »Thema« sein. (Einen Eindruck über den repor­ta­ge­ar­tigen, unernsten Bricolage-Charkter erhält man hier.)

Nostalgie und Melan­cholie

»Un dejo de nostalgia y melan­colía« (ein Geschmack von Nostalgie und Melan­cholie) sei immer verbunden, wenn man Rückschau auf die Hoch­zeiten des »pueblo« halte, so Film­wis­sen­schaftler Gonzalo Aguilar. Aguilar war einer der Panel­gäste, die das Thema diskurs­theo­re­tisch absichern sollten. Er hinter­fragte zunächst einmal – ganz grund­sätz­lich – den Titel, »el pueblo«. Der Begriff sei aufgrund des Miss­brauchs durch die latein­ame­ri­ka­ni­schen Dikta­turen und des Neoli­be­ra­lismus', der das Volk popu­lis­tisch einfängt, unbedingt zu vermeiden. »Somos el pueblo«, der einstige Schlachtruf der revo­lu­ti­onären Selbst­er­mäch­ti­gung (»wir sind das Volk«), nehme sich unter der Perspek­tive seiner Verein­nah­mung nur bitter aus. Dagegen setzte Aguilar: das Diffe­rente, das Viel­fäl­tige, Viel­stim­mige, Multi­per­spek­ti­vi­sche und Multi­kul­tu­relle und verwies auf die Unmög­lich­keit von Inte­gra­tion des Dispa­raten unter die Einheit des »pueblo«, die sich als solche auch gar nicht mehr darstelle. So sei keines­falls eine Renais­sance fest­zu­stellen, weder des Begriffs noch des Phänomens »pueblo«.

Anknüp­fend an Aguilar hätte sich »el pueblo« eben auch als »Nostalgie« oder »obszöner Wunsch« perspek­ti­vieren lassen, in dem sich die Bilder von Unter­wer­fung oder Armut als pervers-sehn­suchts­volle Konstrukte der Bour­geosie offenbart und entlarvt hätten. Aguilar erinnerte an Glauber Rochas Manifest Estética do Sonho von 1971, in dem dieser den entschei­denden Satz prägte: »O povo é o mito da burguesia.« – »Das Volk ist ein Mythos der Bour­geoisie.« Zwischen einer Ästhetik des Hungers und Traumes entspanne sich, so Aguilar, demgemäß die Darstel­lungen von »el pueblo«. Daneben impli­ziere es immer auch »el líder« (»Führer«) als Gegenüber und werfe Fragen auf wie: Wie geht es der Demo­kratie in Latein­ame­rika? Oder: Was ist mit Peron, Evita und Kirchner?

Klas­sen­ver­hält­nisse und Porno­mi­seria

Einzelne Filme jedoch lösten auch die von Wind­hausen nicht ausdrück­lich perspek­ti­vierten Punkte ein. Neben dem oben schon erwähnten Propa­ganda von Cristian Alcarón ist vor allem El Palacio (Mexiko 2013) von Nicolás Pereda erwäh­nens­wert, der jenseits der histo­ri­schen Filme kraft­vollste und anre­gendste Beitrag des gesamten Themas. Pereda entwirft eine »multidad feminina« (so nach Aguilar der Gegent­ent­wurf zum »pueblo masculino«) als Teilmenge der Arbei­ter­klasse, die sich im titel­ge­benden Palast auf ihr Leben als Dienst­mäd­chen vorbe­reiten. Pereda bringt die gesell­schaft­li­chen Klassen in ein Kontinuum, zeigt Bewusst­wer­dung über die Mecha­nismen der Unter­wer­fung und wider­s­tän­dige Diskurser­mäch­ti­gung. »Sag, wenn du gefragst wirst, ob du mit Dampf bügelst, dass du das tust. Die Frage allein sagt dir, dass sie das erwarten.« Die »Einstel­lungs­in­ter­views«, in denen derart die Beherr­schung der Sprache der »Herren« erprobt wird, filmt er en face. Es ergeben sich Porträts von Frauen, die den Blick auf den Betrachter zurück­lenken, auf die abwesende Bour­geoisie, zurück­ge­worfen von der Arbei­ter­klasse, die sich auf den nur mehr als gesell­schaft­liche Konven­tion denkbaren »servid­umbre« vorbe­reitet.

Nicolás Pereda

Außen­räume zu Innen­räumen, das Private wird im »servid­umbre« öffent­lich.

In Tableaux wird die kollek­tive Existenz der Frauen, die unter einem Dach leben, in der Totalen insze­niert. Außen­räume stülpen sich zu Innen­räumen, wie der Patio, der Lichthof, der sich im tiefsten Inneren des Gebäudes befindet und in den doch der Regen einfällt, wo die Pflanzen gedeihen und die Zähne geputzt werden. Wie in surrealen Momenten betreten Tiere das Haus, ein Esel, Hühner, ein Hund zerrt an seiner Kette, ange­bunden im Innenhof, ein durchaus auch meta­pho­risch zu verste­hendes Bild.

Dem masku­linen Herr­schafts­kon­strukt stellt sich auch die »multitud feminina« in dem sehr großar­tigen und kollektiv gedrehten Somos + (We Are More, Chile 1985) entgegen. Auch hier Diskurs-Aneignung gegen die Klas­sen­dis­tink­tionen: Arbei­te­rinnen kleiden sich wie Frauen des Mittel­standes, um gegen Pinochets Regime anzu­treten. Die Polizei sprengt mit Wasser­wer­fern die Versamm­lungen, gleich­zeitig scheut sie vor mehr Gewalt zurück: die Kleidung als Klassen-Camou­flage wirkt wie ein Schutz­schild innerhalb der gesell­schaft­lich-dikta­to­ri­schen Ordnung.

Als Verspre­chen, im »pueblo« das Wirkliche anzu­treffen, dem immer auch etwas Wahr­haf­tiges zukommt, wurde in den 60er Jahren das »Volk« gefilmt, so Aguilar in »Más allá del pueblo«: »una promesa del encuentro con el pueblo como lo real«. Agarrando Pueblo (The Vampires of Poverty, 1978) der Kolum­bianer Carlos Mayolo und Luís Ospina macht aus dem »Hunger nach dem Realen« vieler enga­gierter Filme­ma­cher der Zeit ein wunderbar zynisches Schel­men­s­tück. Ein Filmteam ist auf der Jagd nach besonders eindring­li­chen Szenen, um das verarmte Volk als »Opfer von verschie­denen Umständen« zu filmen, in Zuständen von »Schwach­sinn, Bettelei und Analpha­be­tentum«. Wir brauchen jetzt noch einen richtigen »loco«, einen Verrückten, rufen die Filme­ma­cher begeis­tert am Ende ihrer Tour, auf der sie den Armen der Straße die Seelen gegen Geld und für die Kamera entrissen: ein sati­ri­sches Beispiel für »Porno­mi­seria«. (Da die DCP in Ober­hausen »hing«, hier der Link zum voll­s­tän­digen Film.)
Eine auch heute noch hoch­ak­tu­elle Entlar­vung falsch verstan­denen Doku­men­tar­fil­mens, man denke an den Öster­rei­cher Hubert Saupert und seinen Darwin’s Nightmare oder die nieder­län­di­schen Indo­ne­sion-Exploi­ta­tion Shape of the Moon (beides 2004).

Mit »El pueblo« haben die Kurz­film­tage Ober­hausen dieses Jahr ein Thema aufge­bracht, das das zeit­genös­si­sche Kino derzeit selbst aufwirft. Statt Exploi­ta­tion unter dem Deck­män­tel­chen von Gutmen­schentum und Enga­ge­ment zu betreiben, wie die soeben erwähnten Beispiele, erzählen jüngere Filme lieber von indigenen Völker. Aber nicht etwa wie der zwei­fel­hafte También la lluvia (2010), vermeint­lich von Icíar Bollaín, in Wirk­lich­keit jedoch von Ken-Loach-Dreh­buch­autor Paul Laverty, mit allen erdenk­baren Klischees vom »guten Wilden«. Sondern jüngst, und dies ist als echte Eman­zi­pa­tion von der über­kom­menen Ethno­gra­phie zu deuten, nicht als von außen gerich­tete Frem­der­zäh­lungen, sondern als von innen heraus erzählte Mythen und Erleb­nis­welten. Jayro Busta­mantes Ixcanul (Guatemala 2015) macht vor, wie ein Film ganz in der Welt der Indigenen spielen und in deren Sprache gespro­chen sein kann, ohne folk­lo­ris­tisch zu sein, der kolum­bia­nisch-venzu­la­ni­sche El abrazo de la serpiente von Ciro Guerra (2016) zeigt, wie man von einem Schamanen erzählt, ohne dem Ethno­kitsch zu verfallen.

El pueblo falta

Aguilar lässt sich in seiner »pueblo«-Kritik, der er heute die Existenz als etwas Gefasstes abspricht, sehr schön mit Gilles Deleuze' Ausfüh­rungen in »Zeit-Bild« zusam­men­bringen. El pueblo falta, »das Volk fehlt«, schreibt Deleuze im Hinblick auf die »größten poli­ti­schen Regis­seure des Westens«, Straub und Resnais: »Im klas­si­schen Kino ist das Volk präsent, auch wenn es unter­drückt, getäuscht, unter­worfen, ja selbst dann, wenn es blind oder unbewusst ist. (…) Wenn es ein modernes poli­ti­sches Kino gibt, dann auf der Basis, dass das Volk nicht mehr existiert oder noch nicht existiert …das Volk fehlt

Nur in dieser Hinsicht hat Ober­hausen dieses Jahr: das Thema verfehlt.