12.03.2015

Der Mann, der zuviel wusste oder der Verlust der cine­philen Unschuld

THE JUDGE
41.000 Mal umgeschrieben – Robert Downey Jr. und Robert Duvall in The Judge

Von Peter Mehlman

Was wohl fast jeder kennt, der zu viele Filme gesehen hat, gilt erst Recht für die Veteranen von Holly­woods Film­in­dus­trie – sie zahlen einen hohen Preis dafür, Teil des »Esta­blish­ments« zu sein...

Der erste Fehler war, Karten im Voraus zu bestellen. Denn der zog gleich den zweiten Fehler nach sich: jedem erzählen zu können, dass ich The Judge sehen würde.

»Oha...«, sagte ein Freund.

»Oha?«

»Ach, egal, ich meine nur, dass ich wen kenne, der mit dem Dreh­buch­ver­ant­wort­li­chen ausge­gangen ist. Oder war es der Dialog-Coach? Egal, jeden­falls hat der gesagt, dass das Drehbuch 41.000 Mal umge­schrieben worden ist.«

Die Karten kann man nicht zurück­geben. Du liebst Robert Duvall, der immerhin für seine Rolle in The Judge für einen Oscar nominiert war und Du hast auch mal Robert Downey Jr. im Starbucks getroffen. Das war noch während seiner harten Drogen­zeiten und niemand hätte cooler als er sein können, also...

Nach zwanzig Minuten in The Judge beginnen die Dialoge ein wenig zu entgleisen, hört sich die Erzählung mal nach Nora Epron, mal nach Joe Esterhazy, dann wieder nach Erma Bombeck an. Nach einer Stunde – der Wahnsinn – hat man das Gefühl, dass hier eine Spezi­al­ein­heit der Navy Seals ins Rennen geschickt wurde, um das Ganze in den Griff zu kriegen.

Zurück zu Hause erwartet mich eine Mail von einem Freund, der eine Zeitzone vor mir im Kino war: »Habe The Judge gesehen. Toller Film!«

Neid. Genau das ist es, was Du gegenüber deinem Freund empfin­dest. Denn er kann das, was du nicht mehr kannst: einen Film genießen. Aber in Los Angeles zu arbeiten bedeutet nun mal, dass Kinospaß der Vergan­gen­heit angehört und du nichts weiter als eine weitere kata­stro­phale Erfolgs­ge­schichte bist.

Bevor ich nach L.A. kam, habe ich Filme geliebt. Es war einfach die reine Freude, diese Konzen­tra­tion auf eine Geschichte, die im Dunkeln erzählt wird, kombi­niert mit meinem natur­ge­ge­benen Talent fürs Schule schwänzen und der Lust in den Sesseln des Baronet-Kinos in der Third Avenue zu versinken.

Genug davon. Nach 5, 10 oder 20 Jahren in L.A. weiß man einfach zu viel. Du bist so sehr in diesem Mikro-Universum verankert, dass du einfach alles über Dreh­buch­stru­kuren, Studio-Kommen­tare, Budget-Über­schrei­tungen, Star­neu­rosen und gefeuerte Regis­seure weißt. Es ist fast so, als ob Du den Film schon gesehen hast, bevor er überhaupt gezeigt wurde.

Es ist schon seltsam, dass ich mich an den Grün­schnabel, der Filme so tief in sich aufge­sogen hat wie nichts anderes, kaum mehr erinnere. Ich habe versucht, letztes Jahr dieses alte »Ich« wieder­zu­be­leben, indem ich mir in einem »Revival House« Lethal Weapon angesehen habe. Aber auch hier konnte ich nicht anders und bemerkte sofort die endlosen Neuein­spre­chungen in der Post­pro­duk­tion – Mel Gibson hat wahr­schein­lich im Tonstudio über­nachten müssen, um das hinzu­kriegen.

Ich erinnere mich aller­dings daran, wie meine Kinoun­schuld endete. Es war im dritten Jahr im Show­busi­ness, auf einem Gangplatz in einem Kino in Westwood, als ich in einem Film saß, den ich eigent­lich mochte. Und beim Betrachten eines Aaron Sorkin-Dialogs mit Killer Jack Nicholson den hart­nä­ckigen Gedanken nicht los wurde, dass dieser Film einen anderen Titel verdiente – »Eine Frage der Nahauf­nahmen«.

Es war diese Art von unfrei­wil­ligen Gedanken, die meine Kino­be­suche von nun an beglei­teten und denje­nigen vor der Tür ließen, der sich während eines Kino­be­suchs selbst vergessen konnte. Antennen wuchsen aus meinem Kopf und Signal-Detek­toren begannen zu blinken, wenn auch nur die kleinste Plot­schwäche zu erkennen war, die mini­malste Unglaub­wür­dig­keit in der Charak­ter­zeich­nung oder diese ganzen »Das-musst-du-jetzt-fühlen«-Tricks ausge­spielt wurden.

Aber es ist nun mal L.A. und natürlich gehst Du weiterhin ins Kino. Du kannst ja nicht einfach aufhören und dich damit von jedem Gespräch frei­willig ausschließen. Also verlässt Du dich auf deine Liste von wunder­baren Talenten – Paul Thomas Anderson, Kathryn Bigelow, Woody Allen – und versuchst nur dann und wann vorsichtig auszu­scheren, was anderes zu versuchen, in der irrwit­zigen Hoffnung, mal wieder über­rascht zu werden.

Kurz bevor Gravity rauskam, traf ich den unglaub­lich netten Typen, dessen Firma für die Spezi­al­ef­fekte von Gravity zuständig war. Irre. Danach glaubte ich wirklich, dass ich zumindest der majes­tä­ti­schen Visua­lität des Films was abge­winnen könnte.

Das Licht im Kino war noch nicht ganz runter­ge­dimmt. als ich schon einen verdrah­teten George Clooney durchs Weltall schweben sah, um mit Sandra Bullock zu schwätzen, so als wäre sie nichts weiter als ein neues Gesicht auf einem alten Barhocker gleich neben dir.

Oh Mann. Plum­pester Hinter­grund­ge­schichten-Alarm.

Er fragt, ob es irgendwen gibt, der zuhause auf sie wartet.

Oh mein Gott, nein. Versuche Dich lieber auf den wunder­schönen Weltraum zu konzen­trieren ...

Sandra sagt, dass niemand wartet. Ihre 4-jährige Tochter ist gestorben.

Und dann ist die Lawine des Entset­zens nicht mehr aufzu­ahlten: Anschei­nend hat Warner Bros. dem Ziel­pu­blikum nicht zugetraut, sich eine Frau vorstellen zu können, die alleine im Weltall gestrandet ist. Also schnell mal eine tote Tochter dazu. Aber muss das dann gleich so weit gehen, dass sie den anderen Astro­nauten vorher nichts sagt, um gerade das Aller­un­mög­lichste zu provo­zieren: dass sie während eines komplexen, wissen­schaft­li­chen Außen­bord­manö­vers, 16.000 Kilometer über der Erde darüber ausge­fragt wird?! Und außerdem: ist eine Frau, die nichts mehr zu verlieren hat, für die NASA wirklich die optimale Besetzung für eine derartig wichtige Mission?

Und wo wir gerade von einer optimalen Jobb­be­set­zung sprechen: auf meiner verzwei­felten Suche nach einem Film, der keinerlei Denk­pro­zesse abver­langt, habe ich mir Non-Stop angesehen. Liam Neeson spielt einen Air Marshal, der dem Alkohol verfallen ist, weil ... seine 8-jährige Tochter gestorben ist.

Wann wurde es eigent­lich so schwer die einstel­ligen Lebens­jahre zu überleben?

Und wo wir gerade von Liam Neeson sprechen – das Taken-Franchise bietet ein hervor­ra­gendes Übungs­feld für manisch-kritische Hollywood-Insider. Diese Filme sind unsere Art von Komödie. Nichts in dem Drehbuch ist lustig, aber die ganze Logik ist einfach nur hyste­risch, was im Grunde genau die Perspek­tive ist, mit der man echte Komödien sieht. Die Taken-Filme sind Urlaube. Zwei Stunden, um endlich einmal jedes Urteils­ver­mögen ausschalten zu können während Liam einen Körper auf den anderen stapelt und seine unglück­se­lige Tochter – wie hat sie es nur geschafft älter als acht Jahre zu werden? – ihr unvor­stell­bares Talent unter Beweis stellt, entführt zu werden.

Als ob unsere »So schlecht, dass es bereits wieder gut ist«-Einstel­lung nicht schon depri­mie­rend genug wäre, sind es nicht allein die Filme, die uns Veteranen der Hollywood-Kriege unseren Spaß rauben.

Zum einen ist da noch der Nach­bar­schafts­zy­nismus (»Wild muss ich mir nicht antun, ich sehe doch Reese Wither­spoon ständig in Brentwood umher­laufen«).

Zum anderen gibt es diese Abneigung gegenüber beson­deren Privi­le­gien (»Warte mal, niemand will eins meiner Dreh­bücher lesen, wenn sie mehr als 108 Seiten haben? Aber Gone Girl dauert zwei­ein­halb Stunden? Ich sag Dir was: Lies erst mal 108 Seiten von meinem Drehbuch und falls Du es wirklich hassen soltest, sehen wir weiter.«).

Und dann – die Leute.

Im Vorspann eines jeden Hollywood-produ­zierten Films stehen die Chancen nicht schlecht, dass du einen Namen siehst, den du kennst – und mal die Hand aufs Herz: Menschen hier fühlen sich Bekannten nicht sonder­lich verpflichtet. Will­kommen in L.A. – dem einzigen Ort, wo Kino­be­su­cher sich wünschen, dass der Film so richtig Scheiße ist. Ich persön­lich habe Kinos immer wieder mit dem Wunsch betreten, den Film zu hassen. Und zwar aus folgenden Gründen:

A. Mir wurde angeboten, das Drehbuch umzu­schreiben, aber ich habe abgelehnt.

B. Ich habe mit dem Regie­as­sis­tenten Basket­ball gespielt ohne dass sich daraus was anderes ergeben hätte.

C. Ich hatte ein Date mit der Ausstat­terin.

D. Dem Produ­zenten hat eines meiner Dreh­bücher »richtig gefallen«, aber er hat mich trotzdem nie wieder angerufen. Und das, obwohl er ganz in meiner Nähe wohnt, so dass ich, wenn ich ihn treffe, immer so tun muss, als ob nie was passiert wäre. Falls es einen Gott gibt, wird dieser und sein nächster Film genauso floppen wie seine Ehe.

Auf eine fast beschwingte Art und Weise sprechen mich deshalb auslän­di­sche Filme viel mehr an. Du kennst niemanden, der mitge­macht hat und falls der Vorspann dann auch noch in Korea­nisch ist, wird es gleich noch besser.

Natürlich gibt es jedes Jahr ein paar gute Filme, die einem durch die Finger schlüpfen. Aber selbst wenn du einen Film anhim­melst und niemanden kennst, der daran beteiligt war, wird dein Eindruck dadurch geschmä­lert, dass du zuviel von dem weißt, was du eigent­lich gar nicht wissen willst.

Nachdem ich Foxcat­cher gesehen hatte (und Capote, beide von dem hervor­ra­genden Bennet Miller), war mein erster Gedanke: Wie konnte so etwas Gutes nur jemals entstehen? Nachdem ich Birdman genossen hatte, mit dieser irren langen Liste von Produk­ti­ons­firmen, war mir das aller­dings sofort klar. Nach Imitation Game dachte ich nur, dass irgendwer einen irren Druck ausgeübt haben muss, um das schönste Gesicht in England für das weibliche Mathe-Genie zu casten.

Das Leben ist nichts weiter als ein Kabarett des Verzichts.

Ich frage mich inzwi­schen wirklich, ob eine erfolg­reiche Karriere in Hollywood es wert ist, so freudlos zu leben. Viel­leicht, rede ich mir dann immer ein, ist das auch alles so in Ordnung, denn es ist ja im Grunde wie im wirk­li­chen Leben, wo es einem ebenfalls niemals gelingt etwas so zu lieben oder zu hassen, wie man es sich eigent­lich wünscht.

Nach 25 Jahren in Los Angeles bleibt mir im Grunde nur noch meine Freude auf die kleinen Licht­blicke. Nach dem Abspann von Her zum Beispiel dachte ich, dass da doch noch so einiges drin ist, dass die Film­in­dus­trie Potential hat. Ich habe das aber für mich behalten, dann mir selbst vorge­worfen das Wort »Industrie« gedacht zu haben – was eigent­lich bestraft gehört.

Peter Mehlman ist Roman­autor, Dreh­buch­autor (»Seinfeld«), Produzent und Kolumnist in der HUFFINGTON POST und NEW YORK TIMES – er lebt in Los Angeles.

Übersetzt aus dem ameri­ka­ni­schen Englisch von Axel Timo Purr.