01.01.2015

Nicht das Was, sondern das Wie

Boyhood
Älterwerden, in echt! Boyhood
(Foto: Universal Pictures International Germany GmbH)

Erinnerung an einige Filme des Jahres 2014

Von Michael Haberlander

2014 war wieder einmal ein Kinojahr, in dem wirklich für jeden etwas dabei war. Jedes Niveau, jede Geschichte, jede Aussage, jeder Stil und jede Stimmung war vertreten, theo­re­tisch fand sich so für jede Anfor­de­rung, die man an Film- bzw. Kunst- bzw. Kultur­konsum stellen kann, etwas Passendes. Praktisch war dies aber nicht ganz so einfach, da man sich in der unglaub­li­chen Masse und Vielfalt irgendwie zurecht­finden musste, es also schon irgendwo den perfekten Film für jeden Kinogeher gab, die beiden aber erst einmal zusam­men­kommen mussten.

Um mit dem über­wäl­ti­genden Angebot klar zu kommen, gibt es verschie­dene Methoden und Selek­ti­ons­kri­te­rien. Der eine wählt (vor allem) nach den betei­ligten Personen aus, der andere nach der Machart, der dritte nach dem Genre, mancher lässt auswählen und vertraut auf den Geschmack seines bevor­zugten Kinos oder Kritikers. Ein ganz wichtiges Auswahl­merkmal ist für viele die Geschichte, die ein Film erzählt, weshalb den Inhalts­an­gaben in Werbung und Bericht­erstat­tung eine solche Bedeutung zukommt. Für mich hat sich im Jahr 2014 wieder einmal bestätigt, dass in meinem Kino­alltag dieses Kriterium besten­falls zweit­rangig ist. Denn in Detail­fragen und Ausfor­mung mögen sich die Geschichten im aktuellen Kino schon unter­scheiden, im Kern sind sie aber alle schon einmal dagewesen und dabei spreche ich nicht von der Elemen­tar­teil­chen-Ebene des Geschich­ten­er­zäh­lens mit Bausteinen wie »boy meets girl« oder »Gut gegen Böse«, sondern der höheren Ebene der cine­as­ti­schen Elemente, also Stoffen wie »boy meets girl aus unter­schied­li­chen kultu­rellen, verfein­deten Hinter­gründen« oder »der Gute, der eine dunkle Seite hat, kämpft gegen den Bösen, der nicht nur schlecht ist«. Inhalt­lich gab es im Kino des vergan­genen Jahres somit kaum wirklich Neues zu entdecken, weshalb für mich nicht das Was (wird erzählt) sondern das Wie (wird erzählt) maßgeb­lich bei der Auswahl und Bewertung der Filme war. Die folgenden Filme haben mir 2014 alte, mehr oder minder bekannte Geschichten auf eine neue und/oder unge­wohnte und/oder spannende und/oder einfach nur schöne Weise erzählt.

Fami­li­en­ver­hält­nisse

Stories We Tell von Sarah Polley

Die Verhält­nisse und Bezie­hungen in einer Familie (selbst in den neuen Varianten wie z.B. der mono- bzw. bi- bzw. multi­nu­klearen Familie) sind im Kino in jeder erdenk­li­chen Form schon durch­ex­er­ziert worden, darum war das inter­es­sante an Filmen wie Stories We Tell, Nebraska, Boyhood, Höhere Gewalt und When Animals Dream auch nicht die Schil­de­rung davon, wie Eltern und Kinder in den unter­schied­lichsten Lebens­lagen (nicht) mitein­ander klar­kommen, sondern die Art, wie das erzählt wurde. Sarah Polley macht sich in Stories We Tell auf eine mensch­lich wie künst­le­risch liebe­volle Suche nach ihren Vätern, Alexander Payne stellt in Nebraska melan­cho­lisch schön die Frage nach persön­li­cher, fami­liärer und allge­meiner Wahr­neh­mung und Erin­ne­rung, Richard Linklater schaut in Boyhood einem Jungen in Echtzeit beim Älter­werden zu und verdeut­licht en passant die schlei­chende Verän­de­rung, der wir alle unter­liegen, in Ruben Östlunds Höhere Gewalt wird ein Ski-Paradies zur Bezie­hungs­hölle, die ausge­rechnet durch eine Lawine frei­ge­legt wird und Jonas Alexander Arnbys When Animals Dream belegt einmal mehr (auf durchaus eigen­s­tän­dige Weise), dass sich die emotio­nellen Irrungen und Wirrungen an der Schwelle zum Erwach­sen­werden erstaun­lich treffend mit den Mitteln des Horror­films zum Ausdruck bringen lassen.

Sündhaft

Zu den am häufigsten vorkom­menden Elementen des cine­as­ti­schen Peri­oden­sys­tems zählen Gewalt, Macht, Schuld, Sünde und Sühne, dies­be­züg­lich hat man als regel­mäßiger Kinogeher auch schon ziemlich jede Konstel­la­tion gesehen.
Bemer­kens­wert an A Touch of Sin ist deshalb auch nicht, dass hier Menschen unter der Last des Lebens im- bzw. explo­dieren, sondern die kühl-konse­quente Art, wie dies geschil­dert wird.
Um Sünden und Menschen am psychi­schen und sozialen Abgrund geht es auch in Am Sonntag bist du tot, der die Geschichte vom Sünden­bock und Opferlamm so lange hin und her dreht, bis jedes Ende möglich scheint, weshalb die angekün­digte Kata­strophe bei ihrem tatsäch­li­chen Eintreten umso nach­hal­tiger verstört.
Zum Sünden­bock wird auch ein (nicht ganz unschul­diger) Ehemann in Gone Girl, der auf der Basis einer fatal attrac­tion das faszi­nie­rende Bild einer lügenden und betrü­genden Gesell­schaft zeichnet, einziger Wehr­muts­tropfen ist das etwas über­zo­gene Ende.
Virtuos (wie der gesamte Film) war dagegen das Ende von Enemy, der das altbe­kannte Motiv des Doppel­gän­gers in bester Tradition von Autoren wie E.T.A. Hoffmann und E.A. Poe als paranoid patho­lo­gi­schen Alptraum zum Leben erweckte.
Ein Klas­sen­kampf zwischen unter­drückten, recht­losen Armen und despo­tisch deka­denten Reichen in einem unstopp­baren Zug, der in einer endzeit­li­chen Welt das letzte Refugium darstellt, klingt für mich auf inhalt­li­cher Ebene nach einem lang­wei­ligen, klischee­be­la­denen Quatsch. Zum Glück habe ich mir (im Gegensatz etwa zum ähnlich gela­gerten Elysium aus 2013) Snow­piercer trotzdem ange­schaut und war von seiner mitreißenden, arti­fi­ziell über­wäl­ti­genden Machart durchaus begeis­tert.

Muster­männer

So ein Schmer­bauch kommt schon mal vor, nach den Feier­tagen: American Hustle

Wenn man Filme vor allem nach ihrer Art und Weise des Erzählens auswählt, wird man zwangs­läufig mit stilis­ti­schen Eigen­heiten und Mustern im Werk einzelner Regis­seure konfron­tiert. So schaut man sich manchen Film auch dann an, wenn die Inhalts­an­gabe nicht Gutes verheißt, weil man auf die besondere, anspre­chende Darstel­lungs­weise des verant­wort­li­chen Regis­seurs vertraut.
So hatte ich eigent­lich keine Lust auf die milli­onste Gangster-Mafia-Betrüger-FBI-korrupte Politiker-Geschichte, nachdem aber David O. Russell hinter American Hustle stand, ging ich das Risiko ein und erlebte eine für diesen Regisseur typisch stache­lige Story mit groß­ar­tiger Figuren- und Bezie­hungs­zeich­nung.

Künst­ler­bio­gra­phien im Kino fallen leider oft sehr belanglos aus, gerade der Versuch, die stilis­ti­schen Eigen­heiten des porträ­tierten Künstlers zu über­nehmen (oder viel­leicht sogar zu erklären) führt in den seltensten Fällen zu einem anspre­chenden Ergebnis. Wie gut, dass sich Mike Leigh in Mr. Turner treu geblieben ist und in erster Linie ein gewohnt meis­ter­haftes Psycho- und Sozio­gramm erstellt hat. Zahl­reiche pitto­reske Kame­ra­ein­stel­lungen fügten sich dabei gut ein, nahmen aber nicht für sich in Anspruch, der Ästhetik William Turners gleich­zu­kommen.

Bei Wes Anderson findet man konven­tio­nelle Geschichten so wenig wie konven­tio­nelle Charak­tere, das kann manchmal auch ein wenig ermüden, wenn wieder einmal zwei Dutzend Stars in skurrilen Outfits und Masken in skurrilen Dekors eine skurrile Geschichte durch­leben. Das war in Grand Budapest Hotel im Grunde nicht anders, jedoch durchzog diesen eine film-, kunst- und allge­mein­his­to­ri­sche Note, die ihm (trotz aller Verspielt­heit) Gewicht und somit Nach­hal­tig­keit verlieh.

Um unkon­ven­tio­nelle Geschichten ist auch Spike Jonze regel­mäßig bemüht, letztlich variierte und kombi­niert aber auch Her nur bekannte Geschichten von unge­wöhn­li­cher bzw. unmög­li­cher Liebe und selbst­be­wußten Maschinen, weshalb der wahre Reiz des Films in der Schil­de­rung eines anti­quiert emotio­nellen Menschen in einer hyper­mo­dernen Welt liegt.

Das entspre­chende Humor­ver­s­tändnis voraus­ge­setzt

Hier lacht der Haber­lander: 22 Jump Street

Ein Genre, bei dem die erzählte Geschichte in der Regel eine unter­ge­ord­nete Rolle spielt, ist die Komödie (was aber nicht bedeutet, dass die Geschichten in Komödien zwangs­läufig immer belanglos sind). Dass eine Handlung grund­sätz­lich nur durch die Art des Erzählens lustig wird, kann man bei der kleinsten Form dieses Genres, dem Witz, erkennen. Derselbe Witz, von zwei Personen erzählt, kann bei der einen zum Schreien komisch, bei der anderen zum Gähnen lang­weilig sein.

Gute filmische Witze­er­zähler sind etwa Phil Lord und Chris Miller, die sogar auf der Basis eines Spiel­zeuges oder einer alten Fern­seh­serie eine (zum Teil gar nicht so dumme) Geschichte so anrichten, dass man sich bei The Lego Movie und 22 Jump Street bestens amüsieren konnte (das entspre­chende Humor­ver­s­tändnis voraus­ge­setzt).
Was mit Spielzeug und Fern­seh­se­rien klappt, geht auch mit Comics, weshalb Guardians of the Galaxy ein heiterer Spaß war, der ein nettes Gegen­ge­wicht zum ange­strengten Pathos und / oder faden Humor sonstiger Super­helden-Comic-Verfil­mungen darstellte.
Eine ähnliche Wirkung hatte auch 5 Zimmer Küche Sarg, der mit einer herz­er­wär­menden Detail­ver­liebt­heit und subver­sivem Witz glei­cher­maßen die lächer­li­chen Aspekte von Horror- wie Doku­mentar- wie Buddy-Film aufdeckte.

Konflikte zwischen Nachbarn sind in der Realität wie im Kino regel­mäßig zu beob­achten, Bad Neighbors ließ ein junges Paar am schwie­rigen Übergang von jugend­lich hip zu erwachsen spießig auf eine wilde Studen­ten­ver­bin­dung treffen, dass das erfri­schend lustig wurde, liegt vor allem an der respekt­losen, anspie­lungs­rei­chen Erzähl­weise, die man seit einigen Jahren mit den Regis­seuren und Darstel­lern des sog. Frat-Packs verbindet.

Die harte Real-World

Wenn es im Kino schon keine neuen Geschichten gibt, könnte man viel­leicht in der Realität welche finden. Wer als Doku­men­tar­filmer inter­es­siert auf unsere Welt schaut, muss doch auf zahllose neue Geschichten treffen. Dem ist leider nicht so, denn auch im wirklich echten Leben begegnen uns vor allem Varia­tionen des ewig gleichen (wenn dem nicht so wäre, hätte auch das Kino als Spiegel der Realität mehr neue Geschichten zu erzählen).
So zeigte dann auch Das große Museum vor allem Mensch­li­ches, Allzu­mensch­li­ches und Bekanntes, Allzu­be­kanntes, das aber einen wichtigen Grundsatz des gezeigten Museums übernahm: auf die Präsen­ta­tion kommt es an!

In der Sub- und Jungend­kultur glaubt man auch ständig, die Welt neu zu erfinden. Wenn man genau hinschaut, sind die Geschichten um Künstler, Bands, Labels, Stil­rich­tungen, Wider­stand und Kommerz doch immer irgendwie ähnlich, so auch bei Parallax Sounds Chicago, der aber die üblichen Standards der huld- und weihe­vollen Musik­dokus vermied und damit dem Chicago Post-Rock ein ange­mes­senes Denkmal setzte.
Ein ange­mes­senes Denkmal setzte sich auch Nick Cave mit 20.000 Days on Earth, der sich im Zwischen­reich von Doku­mentar und Insze­nie­rung bewegte, was für den alten Selbst- und Fremd­in­sze­nierer Cave aber die passendste Form der Darstel­lung ist, weshalb der Film eine erstaun­liche Wahr­haf­tig­keit hat.
Ein sicherer Garant für Wahr­haf­tig­keit ist seit langem Errol Morris, der mit seinem The Unknown Known eindring­lich belegte, dass man eigent­lich keine Whist­le­b­lower und Wikileaks braucht, wenn man das offen Zugäng­liche sorg­fältig betrachtet und man den Verant­wort­li­chen die richtigen Fragen stellt.

All diese Filme haben es also im vergan­genen Jahr geschafft, durch ihre Machart vergessen zu lassen, dass sie eine alte, bekannte Geschichte erzählen. Über die anderen, die das nicht geschafft haben, die also ihre alten Kamellen mit nichts oder nur mit belang­losen Mitteln spärlich umman­telten, soll hier geschwiegen werden.