06.03.2014

Perspek­tiven durch Nacht und Nebel

Alain Resnais
Alain Resnais (1922-2014)

Im Schatten von Auschwitz und Hiroshima: Der verstorbene Kino-Revolutionär Alain Resnais

Von Rüdiger Suchsland

Es ist gerade zwei Wochen her, da bekam Alain Resnais seinen letzten großen Preis: Den Silbernen Bär »für einen Film, der neue Perspek­tiven eröffnet«. Eine ironische Volte am Abend seines Lebens, zugleich aber treffend und charak­te­ris­tisch für diesen Regisseur, den lange Zeit nichts anderes inter­es­siert hat, als an der Spitze des Fort­schritts zu marschieren, und ein Teil der Avant­garde des Kinos zu sein. Mit fast 92 Jahren war Resnais zwar der an Jahren älteste Regisseur im Berlinale-Wett­be­werb, aber immer noch inter­es­siert an Expe­ri­menten, immer noch neugierig und mutig wie ein Junger – nur seine Gelas­sen­heit verriet das Alter.

Der Film, der 1955 seinen Weltruhm begrün­dete, war unbedingt Avant­garde: Nuit et Brouil­lard (Nacht und Nebel) – einer der bis heute besten, weil klügsten, stil­bil­denden, weil ästhe­tisch verant­wor­tungs­vollsten, dabei kompro­miss­lo­sesten Doku­men­tar­filme über die Shoah. François Truffaut nannte ihn »der größte Film, der je gemacht wurde.« Nur 31 Minuten dauert Nuit et Brouil­lard, ein Film voll nüchtern-bitterer Inten­sität, mit Hanns Eislers die Bilder mal konter­ka­rie­render, mal sarkas­tisch kommen­tie­render, selten anschmiegsam unter­s­tüt­zender Musik und der von Paul Celan geschrie­benen Erzäh­ler­stimme, über Jahr­zehnte die wich­tigste und stil­bil­dende Behand­lung dieses Themas im Kino wurde.
Dies wohl nicht nur wegen der Mischung von mini­ma­lis­ti­schen Farb­bil­dern, die die Ruinen der Lager zehn Jahre nach der Befreiung aufsuchen mit histo­ri­schen Aufnahmen – von oft derart uner­träg­li­cher Bruta­lität, dass man die entspre­chenden Bilder in den letzten Jahr­zehnten so gut wie nie wieder in anderen Filmen sehen konnte. Sondern auch wegen seines Textes, der skeptisch ist, der die Phan­tastik der Bilder betont und die möglichen Reserven des Betrach­ters mitein­be­zieht. Ein Meis­ter­werk, das erst mit Claude Lanzmanns Shoah ein Pendant auf Augenhöhe traf – doch bis heute hält Nuit et Brouil­lard den Jahren stand, altert nicht, sondern bleibt ein Bestand­teil im Gedächtnis der Mensch­heit.

Resnais, 1922 im breto­ni­schen Vannes geboren, verband nördlich-aske­ti­sche Strenge und Intel­lek­tua­lität mit spie­le­ri­scher Heiter­keit, wie man sie so nur in Frank­reich findet – und die natürlich ebenfalls etwas Intel­lek­tu­elles hat. Seine Karriere begann er – nachdem er Krieg und Besatzung als Student und Schau­spieler über­standen hatte – 1948 als Doku­men­tar­filmer, zunächst gemeinsam mit dem gleich alten Chris Marker (1921-2012), einem weiteren Singulär des Kinos, der bei Nuit et Brouil­lard sein Regie­as­sis­tent war.
Danach begann seine Spiel­film­kar­riere mit zwei Filmen, die Resnais Platz im Olymp des Kinos bestä­tigten: Hiroshima, mon amour (1959, nach Margue­rite Duras) und Letztes Jahr in Marienbad (1962, mit dem Drehbuch von Alain Robbe-Grillet). Beides waren sehr eigen­s­tän­dige Werke im Umfeld des Aufbruchs der Nouvelle Vague, spröde, aber gerade in ihrer Sper­rig­keit faszi­nie­rend und unver­gess­lich – allen­falls vergleichbar mit den Film-Philo­so­phien Michel­an­gelo Anto­nionis. Beides waren auch Verfil­mungen zeit­genös­si­scher, stilis­tisch unge­wöhn­li­cher Literatur, die Resnais' Interesse an politisch-kultu­reller Zeit­ge­nos­sen­schaft ebenso deutlich machten, wie seine Leiden­schaft fürs geschrie­bene Wort: Das Leben ist ein Roman hieß einer seiner späteren Filme. Dort heißt es: »Vom Lesen ist noch keiner gestorben. Im Gegenteil: Es hilft beim Leben.«

Die sechziger Jahre waren die Zeit, in denen auch Resnais das Kino neu erfinden wollte – mit Erfolg. Letztes Jahr in Marienbad ist ein Film ohne Geschichte, geprägt von elegi­schen Fahrten und Raum­ver­mes­sungen, die alles in eine magische Atmo­s­phäre tauchen. Resnais liebte immer solche neuen, ästhe­ti­schen Versuchs­an­ord­nungen. Aber im Unter­schied zu manchem anderen, nahm er deren Versatz­stücke aus der Wirk­lich­keit. Erinnern und Vergessen waren Resnais' Thema. Er erzählt, wie sich die sichtbare Welt und die der Erin­ne­rungen untrennbar über­blenden: Ob es die »Stavisky«-Affaire war (eine 1974 gedrehte Komödie mit Jean-Paul Belmondo), der spanische Bürger­krieg (Der Krieg ist vorbei), das Paris der zwanziger Jahre (Mélo) oder das der Besatzung (On connaît la chanson). Aber auch einen Science-Fiction hat er gedreht: Ich liebe Dich, ich liebe Dich (1968). Ein letzter großer Triumph für Resnais wurde 1993 Smoking/No Smoking, eine Ayckbourn-Verfil­mung über die Rela­ti­vität der Dinge.

Dennoch war er kein Rela­ti­vist, im Gegenteil: Streng geome­trisch sind seine Filme, wie auf dem Reißbrett durch­ge­plant, und dann doch voller Lust am Expe­ri­ment. Die war Resnais immer möglich, weil die Koor­di­naten unver­rückbar waren, stilis­tisch, wie thema­tisch: Auschwitz und Hiroshima, Chansons und Comics, Gefühle und Verstand, Wieder­ho­lung und Abwei­chung – alles ist bei Resnais ein Déjà-vu, wie man es noch nie gesehen hat.

In seinen letzten zwanzig Lebens­jahren wurde Resnais als Regisseur wieder zum Kind: Er tat nur noch, was ihm Spaß machte, und spielte – begleitet vom schier unend­li­chen Wohl­wollen der Filmszene, der Jurys und Kritiker, die bereits mit seinen Filmen aufge­wachsen waren, und vom Alter her seine Enkel und Urenkel sein konnten. Sie werden ihn, der am Samstag in Paris gestorben ist, nicht vergessen, und seine Perspek­tiven ins Unend­liche, durch Nacht und Nebel, weiter­ver­folgen.