07.05.2009

Verwundete Seelen, verwüstete Landschaften

Geschenk an Stalin
Rustem Abdrashovs Geschenk an Stalin: tragisch-poetische Zeitreise
(Foto: Go East | Rustem Abdrashov)

Zum 9. Filmfestival des mittel- und osteuropäischen Films »goEast« in Wiesbaden

Von Florian Vollmers

Mit der Groß­auf­nahme eines Jungen, der in die Kamera blickt und dann schmerzer­füllt die Augen schließt, bevor die Leinwand schwarz wird, endet der große Gewinner des dies­jäh­rigen »goEast«-Festivals des mittel- und osteu­ropäi­schen Films, das Ende April in Wiesbaden zu Ende gegangen ist. Der zwölf­jäh­rige Tedo im geor­gi­schen Wett­be­werbs­bei­trag Gagma Napiri – Am anderen Ufer von George Ovashvili schließt die Augen vor einer Welt, deren Anblick er nicht länger erträgt, weil sie ihn zutiefst verletzt hat. Am anderen Ufer spielt im heutigen Grenz­ge­biet zwischen Georgien und dem abtrün­nigen Abchasien, einer vom Bürger­krieg verwüs­teten Region, in der Menschen wie Freiwild behandelt werden, eltern­lose Kinder ums Überleben kämpfen und Familien gewaltsam ausein­ander gerissen werden. So geht es auch Tedo, der verzwei­felt nach seinem verschol­lenen Vater sucht. Die Verzweif­lung des Jungen am Ende von Am anderen Ufer war wohl der bewe­gendste Moment des 9. »goEast«-Festivals. Zurecht wurde der 1963 geborene George Ovashvili, der in Wiesbaden seinen ersten Langfilm vorstellte, mit dem Haupt­preis »Goldene Lilie« sowie dem Preis des inter­na­tio­nalen Kriti­ker­ver­bandes FIPRESCI ausge­zeichnet.

Verwüs­tungen in Land­schaften und Verwun­dungen in Seelen, die aus der Vergan­gen­heit des Sowjet­rei­ches herrühren und noch heute die Länder Mittel- und Osteu­ropas prägen, waren das unaus­ge­spro­chene Leitmotiv des Spiel­film­wett­be­werbs in Wiesbaden: Nahezu alle Beiträge porträ­tierten Menschen, die verwirrt zwischen Über­bleib­seln des Tota­li­ta­rismus und einem neuge­ord­neten, und doch chao­ti­schen Jetzt hin- und herge­stoßen werden. So begleitet die russische Tragi­komödie Verrückte Rettung (Sumasše­dšaja pomošc) zwei Trottel durch ihren Moskauer Alltag und entlarvt dabei das Leben in der russi­schen Metropole als Farce. In minu­ten­langen Einstel­lungen ohne Kame­ra­be­we­gung tun sich der naive Land­ar­beiter Zhenja und ein geistig verwirrter Ingenieur zusammen, um eine Reihe seltsamer Missionen zu erfüllen – zum Beispiel Botschaften aus einem Vogel­häu­schen zu empfangen oder das myste­riöse Aufklappen einer Mülltonne zu deuten. Zwischen­durch werden die beiden von Straßen­banden verprü­gelt oder treffen immer wieder auf einen Poli­zei­in­spektor, der sich selbst als Mobbing-Opfer fanta­siert. So schwer vers­tänd­lich und beliebig diese Inhalts­be­schrei­bung klingt, so ist auch das Kinoer­leben von Verrückte Rettung. Regisseur Boris Chleb­nikov, der bei »goEast« mit dem Preis für die Beste Regie der Landes­haupt­stadt Wiesbaden ausge­zeichnet wurde, will seinen Film als Metapher auf das heutige Moskau verstanden wissen – einer Stadt, die sich 20 Jahre nach dem Mauerfall auf die Suche nach sich selbst begeben hat.

Auch der Prot­ago­nist in Goran Ruši­no­vics Buick Riviera hat sich selbst noch nicht wieder­ge­funden. Verloren hat er sich im Jugo­sla­wi­en­krieg: Anfang der neunziger Jahre ist der Kroate Hasan aus Bosnien in die USA geflohen, wo er die Poli­zistin Angela gehei­ratet hat. Ziel- und arbeitslos lebt er in den Weiten North Dakotas in den Tag hinein und wird immer wieder von Albträumen geplagt, die ihn in die brutale Zeit des Bürger­kriegs zurück­ver­setzen. Einzig sein Auto, ein Buick Riviera aus den Sech­zi­gern, scheint Hasan Ruhe zu schenken: Sitzt er hinter dem Steuer des Wagens, entspannt sich Hasan und kann alle Sorgen und Erin­ne­rungen abschüt­teln. Als der Buick Riviera eines Tages im Schnee stecken bleibt, kommt ihm zufällig Vuko zu Hilfe. Der Serbe stammt ebenfalls aus Ex-Jugo­sla­wien und provo­ziert den Muslimen Hasan nach anfäng­li­cher Freund­lich­keit schon bald mit altbe­kannten Vorur­teilen. Die Vergan­gen­heit des ethni­schen Konfliktes baut sich in der neuen Heimat der beiden Männer zu einer gefähr­li­chen Spannung auf. Buick Riviera, eine Kopro­duk­tion zwischen Kroatien, Bosnien und Herze­go­wina sowie Deutsch­land, entwi­ckelte sich in Wiesbaden schnell zu einem Favoriten des Festi­val­pu­bli­kums: Zwei hervor­ra­gende Schau­spieler, ein messer­scharfes Drehbuch und vor allem der über­zeu­gende Stil­willen des Regis­seurs Goran Rušinovic, der mit seinen trist-schönen Tableaus an die Filme des Isländers Fridrik Thor Frid­riksson erinnert, prägen einen der besten Beiträge des dies­jäh­rigen »goEast«-Wett­be­werbs.

Einige Filme tauchten gleich ganz in die Vergan­gen­heit ein und erzählten als histo­ri­sche Epen von den Repres­sa­lien der sowje­ti­schen Besat­zungs­macht und deren tragi­scher Wirkung auf das Leben in den einzelnen Regionen: Geschenk an Stalin (Podarok Stalinu) von Rustem Abdrashov spielt im Jahr 1949 in der Einöde Kasach­stans: Eisen­bahn­wag­gons voller poli­ti­scher Häftlinge durch­rollen das Land auf dem Weg in weit entfernte Lager. Bei einem Zwischen­stopp rettet der alte Kasache Kasym den jüdischen Jungen Sashka und nimmt ihn als Ziehsohn bei sich auf. Sashka glaubt, wenn er Stalin zum 70. Geburtstag ein ganz beson­deres Geschenk schicken würde, könne er zur Belohnung seine Eltern wieder­sehen. Doch diese sind längst tot. Jahre später – Sashka lebt inzwi­schen in Jerusalem – kehrt er als alter Mann nach Kasach­stan zurück und erinnert sich. Regisseur Rustem Abdrashov erzählt in einer eigen­wil­ligen Mischung aus Land­schafts­bil­dern und prall-bunten Details – die nicht selten blutig sind. Auch Die Jurte (Utov) von Ayub Shaho­biddinov führt in die Vergan­gen­heit einer abge­le­genen Gegend des ehema­ligen Sowjet­rei­ches: Der Schaf­hirte Ubay lebt Anfang der achtziger Jahre in einem einsamen usbe­ki­schen Tal und kämpft verbissen darum, seinen Sohn Djavahir an die uralten Tradi­tionen des Hirten­le­bens zu binden. Dieser jedoch bringt einen Fern­seh­ap­parat mit ins Haus und verfällt bald den Verlo­ckungen der Welt »da draußen«. Um sich von seinem strengen Vater loszu­reißen, geht er zum Militär – um Jahre später als vom Krieg gebro­chener Ex-Soldat zurück­zu­kehren.

Dass die Filme des »goEast«-Wett­be­werbs thema­tisch in ähnliche Rich­tungen schlugen, liegt natürlich an der Auswahl der Festi­val­lei­tung und bietet nicht unbedingt einen Quer­schnitt über das Film­schaffen der Länder in Mittel- und Osteuropa. Wie abwechs­lungs­reich dieses Kino sein kann, zeigt seit fast 20 Jahren das Festival des osteu­ropäi­schen Films in Cottbus mit einem breiten, bunt gefächerten Programm. Dass man in Wiesbaden einen anderen Weg geht, passt zum Selbst­ver­s­tändnis dieses Film­festes, das vor neun Jahren – trotz der großen Konkur­renz in Cottbus – vom Deutschen Film­in­stitut (DIF) ins Leben gerufen wurde: Mit erheb­li­chem finan­zi­ellen Puffer des Landes Hessen und der Haupt­stadt Wiesbaden ausge­stattet, möchte »goEast« exklusive Duft­marken setzen und Filmkunst zeigen, die sonst nirgendwo läuft. Dass man dabei auch Gefahr läuft, einen Tick zu akade­misch aufzu­treten, deutete sich auch im neunten Jahr des Festivals im Kinosaal an. Entspre­chend blieben die Vorstel­lungen auch an Tagen wie Freitag- und Sams­tag­abend, die auf anderen Festivals für ausver­kaufte Räume sorgen, nur zu zwei Dritteln gefüllt. »goEast« ist zu wünschen, dass es in Zukunft den Anschluss zum großen Publikum findet.

Mitten im Leben steht auch die große Über­ra­schung des dies­jäh­rigen Spiel­film­wett­be­werbs: The Happiest Girl in the World des Rumänen Radu Jude strahlte mit der Vitalität und Lebens­nähe früher Roberto Rossel­lini-Filme von der Leinwand im Wies­ba­dener Caligari-Kino. Mit Laien­dar­stel­lern und einfacher Technik auf den Straßen Bukarests gedreht, erzählt Radu Jude von der Teen­agerin Delia, die ein Preis­aus­schreiben gewonnen hat und deshalb für einen Werbespot Modell stehen soll. Ihre klein­bür­ger­li­chen Eltern wittern die Chance einer Filmstar-Karriere und motzen ihr Töch­ter­chen heftig mit Haarspray und Benimm­re­geln auf. Das Auto, das Delia gewonnen hat, wollen sie natürlich verkaufen, um ihr Eigenheim zu finan­zieren. Doch Delia hat andere Pläne: Mit dem Wagen will sie vor allem bei ihren Klas­sen­ka­me­raden angeben. Was als Komödie beginnt, entwi­ckelt sich schnell zur bitter­bösen Satire auf Profit­gier – und zum Porträt einer post­kom­mu­nis­ti­schen Gesell­schaft, die dem Kapi­ta­lismus bis zur Perver­sion verfallen ist.

Vergan­gen­heit und Gegenwart waren auch bestim­mendes Thema der übrigen »goEast«-Sektionen: Die Retro­spek­tive »Winter adé – Filmische Vorboten der Wende« zeigte Spiel-, Doku­mentar- und Anima­ti­ons­filme, die während der letzten Dekade vor der Wende entstanden und die Ahnung bargen, dass es mit den alten Verhält­nissen zu Ende geht. Die Hommage galt der ukrai­ni­schen Filme­ma­cherin Kira Muratova, deren regime­kri­ti­sche Filme in der UdSSR regel­mäßig zensiert wurden und die nach der Wende als einzig­ar­tige Film­künst­lerin gefeiert wurde. Das Porträt galt dem Tschechen Jan Sverák, der nach einem Film­stu­dium noch vor der Wende ab 1989 zum erfolg­reichsten Regisseur seines Landes avan­cierte und für Kolya 1996 sogar einen Oscar gewann.

Eine besondere Aufgabe sieht das »goEast«-Festival in seiner Förderung des Nach­wuchses: In einem Hoch­schul­wett­be­werb – an dem sich in diesem Jahr die staat­liche Kiewer Univer­sität für Theater, Film und Fernsehen »I. K. Karpenko-Kary«, die Staat­liche Akademie für Theater und Filmkunst in Sofia sowie die Film­aka­demie Baden-Würt­tem­berg betei­ligten – wurden drei Preise verliehen. Und in einer Projekt­börse konnten Nach­wuchs­filmer ihre noch nicht reali­sierten Ideen poten­ti­ellen Produ­zenten vorstellen und einen Förder­preis gewinnen. Die mit diesem Geld finan­zierten Erst­lings­werke können sich dann wiederum im kommenden Jahr um einen Nach­wuchs­preis bewerben. Dieses unge­wöhn­lich umfang­reiche Förder­pro­gramm des »goEast«-Festivals haben die jungen Filme­ma­cher auch dringend nötig. Denn ange­sichts der Wirt­schafts­krise dampfen immer mehr Film­länder Osteu­ropas ihre Förder­gelder ein. Bei geplanten Einspa­rungen von weit über 50 Prozent wird diese Entwick­lung fatale Auswir­kungen auf eine Film­in­dus­trie haben, die nach wie vor am Tropf staat­li­cher Förderung hängt.