08.01.2009

Nachworte

OLD JOY
Quiet is the new loud:
Old Joy von Kelly Reichardt

Ein Rückblick auf das Kinojahr 2008

Von Michael Haberlander

Da für einen gewis­sen­haften, diffe­ren­zierten, volls­tän­digen Jahres­rück­blick dieses Mal leider die Zeit fehlt, ich das Kinojahr 2008 aber nicht ganz kommen­tarlos vorbei­ziehen lassen möchte, wollte ich nur kurz anmerken,

... dass ein Filmjahr, in dem There Will Be Blood (der durch die David Lean-Retro­spek­tive im Film­mu­seum noch weitere, inter­es­sante Facette gewonnen hat) und No Country for Old Men zu sehen sind, grund­sätz­lich schon mal ein gutes ist, egal was sonst noch lief;

... dass man bei Gomorra und Waltz With Bashir ange­sichts ihrer inhalt­li­chen Brisanz nicht übersehen sollte, dass sie auch formal heraus­ra­gend waren und dabei in bester Weise die gesamte Band­breite der Kunstform Film – vom direkten Realismus bis zur abstrakten Verfrem­dung – reprä­sen­tierten;

... dass aus dem Stoff von La Zona in US-Amerika ein Paranoia-Terror-Science Fiction-Film gemacht worden wäre, den man dann als inter­es­sante (aber fiktive) Parabel auf den herr­schenden Angst- und Sicher­heits­wahn betrachtet hätte, während die vorlie­gende Verfil­mung aus Latein-Amerika durch die Schil­de­rung eines möglichen wenn sich sogar tatsäch­li­chen Alltags-Horrors erschüt­tert;

... dass das Motto »quiet is the new loud«, das die Popmusik schon vor ein paar Jahren geprägt hat, nun auch im ameri­ka­ni­schen Kino ange­kommen ist und der gemein­same Nenner so unter­schied­li­cher (aber durch­ge­hend guter) Filme wie Dan – Mitten im Leben, Die Geschwister Savage (dessen deutscher Titel sehr bezeich­nend unkorrekt ist, da der Origi­nal­titel The Savages eben auch den dementen Vater der beiden Geschwister beinhaltet), G Grace is Gone und Old Joy war.
In die Reihe passt theo­re­tisch auch Paranoid Park von Gus van Sant, nur ist der weniger im Rahmen eines Trends oder einer allge­meinen Stim­mungs­lage, als vielmehr in einem der eigen­s­tän­digsten und viel­schich­tigsten Oeuvres des aktuellen (ameri­ka­ni­schen) Kinos zu sehen;

... dass die Verfil­mung von Schmet­ter­ling und Taucher­glocke all das richtig macht, was die Verfil­mung von 39,90 falsch macht;

.... dass So viele Jahre liebe ich dich ein ganz ausge­zeich­netes Drama ist, dessen versöhn­li­ches Ende nicht deshalb so ärgerlich ist, weil ein Drama zwangs­läufig hoff­nungslos und depri­mie­rend ausgehen muss, sondern weil hier der positive Schluss durch die Erklärung, Recht­fer­ti­gung und damit letztlich auch Entschul­di­gung aller den Film tragenden, unklaren Moti­va­tionen erkauft wird;

... dass mir von den beiden großen Musi­ker­bio­gra­phien Control besser als I’m Not There gefallen hat, obwohl der zweite vermut­lich der »bessere« Film war, ich dort aber (zu) vieles nicht bzw. nicht richtig verstanden habe, weil ich mich nicht seit Jahren inten­sivst(!) mit Leben und Werk von Bob Dylan ausein­an­der­setze;

... dass Falco – Verdammt, wir leben noch! zwischen unüber­seh­baren Quali­täten und massiven Schwächen, zwischen groß ange­legtem Weltkino und öster­rei­chi­scher Prove­nienz bzw. Provin­zia­lität hin und her schau­kelte, was den Film ein wenig unein­heit­lich machte, was aber eine adäquate Art war, vom ähnlich wech­sel­haften Leben des Hansi Hölzels zu erzählen;

... dass man die Vielfalt von Musik und Musik­filmen schön auch an Once und Die Band von nebenan bewundern konnte, wobei mich bei letzterem die abge­dro­schene Geschichte vom wortkarg abwei­senden, alten Mann und der unbe­irrbar zutrau­li­chen, schönen Frau genervt hat;

... dass ich irgendwo gelesen habe, dass Happy-Go-Lucky der »heiterste« Film von Mike Leigh sei, was ein sehr relatives Urteil ist, weil hier unter der heiteren Schale ein äußerst ernster und (gewohnt) desil­lu­sio­nie­render Film steckt und weil Leighs wenig bekannter Topsy Turvy mindes­tens genau so »heiter« ist;

... dass der poli­ti­sche, gesell­schaft­liche und wirt­schaft­liche Unsinn, der sich in der soge­nannten Bush-Ära in Amerika abge­spielt hat, immerhin zu einigen ganz guten (»Protest«-)Filmen führte, in die mit großer Wahr­schein­lich­keit George Clooney verwi­ckelt war. 2008 waren dies Michael Clayton und Burn After Reading, der stre­cken­weise leider etwas zu klamot­ten­haft war.
Mit Barak Obama werden diese Filme sicher nicht schlag­artig verschwinden, da sich viele Miss­stände auch von ihm nicht von heute auf morgen abstellen lassen und die (jüngere) Geschichte Amerikas noch genügend Stoff für zahl­reiche solcher Werke bereit hält, was dieses Jahr der äußerst gelungene Der Krieg des Charlie Wilson bewies;

... dass ich aus You Kill Me und Unter Kontrolle nicht wirklich schlau wurde, ich nur schwer fest­ma­chen kann, was mir daran gefallen bzw. nicht gefallen hat, was insgesamt gesehen aber ein gutes Zeichen ist, da ich mich im Kino lieber nach­haltig verwirren und verun­si­chern als eindeutig lang­weilen lasse;

... dass man bei Sweeney Todd, dem neuesten Tim Burton- / Johnny Depp-Grusels­tück nicht den Fehler machen sollte, ihn als Selbst­ver­s­tänd­lich­keit (zu) gering zu schätzen, sondern man sich immer wieder klar machen muss, wie wunderbar jedes einzelne dieser Werke ist;

... dass ich I Am Legend erstaun­lich gut fand, obwohl er inhalt­lich nahezu identisch mit dem hoch­ge­schätzten 2 28 Weeks Later ist und auch die Erlöser-Thematik am Ende ein bisserl arg dick aufge­tragen war;

... dass Iron Man in diesem Jahr mein liebster Block­buster-Film war, weil hier (Selbst)Ironie, Timing und kultu­relle Refe­renzen und nicht (Bier-)Ernst, Hektik und aufge­blähte Reali­täts­be­züge vorherrschten;

... dass ich bei keinem Film so gelacht habe wie bei Tropic Thunder, der für eine Film von und mit Ben Stiller über­ra­schen­der­weise immer im rechten Moment (vor dem totalen Klamauk) die Kurve kriegt und dass ich unter den durch­ge­hend tollen Schau­spie­ler­leis­tungen die von Robert Downey Jr. besonders erfreu­lich fand, weil dieser zwar regel­mäßig gute Vorstel­lungen liefert (siehe u.a. auch Iron Man), langsam aber Gefahr lief, in der immer ähnlichen Rolle des leicht läster­li­chen Dandys ein wenig eindi­men­sional zu werden;

... dass mich dagegen die Rolle von Tom Cruise in Tropic Thunder in einen der schwersten mora­li­schen Konflikte des Jahres gestürzt hat. Ange­sichts seiner mehr als obszönen Perfor­mance dachte ich erst: »Darf DER das überhaupt?« Als ich dann doch darüber lachen musste, dachte ich entsetzt: »Darf ICH das überhaupt?«
Als ob die Frage »Darf man über Hitler lachen?« nicht schon schwer genug wäre, musste ich mich hier plötzlich mit der Frage »Darf man über die Vorstel­lung von jemanden lachen, dem es nicht zusteht, einen Hitler-Atten­täter zu spielen?« ausein­an­der­setzen

... dass Die Girls von St. Trinian und Der Sohn von Rambow genügend schöne Momente und nette Ideen hatten, um mich gut zu unter­halten, sie letztlich aber dann doch zu sehr den Vorgaben des Jugend­films folgten, um ein unein­ge­schränktes (sarkas­ti­sches) Vergnügen zu sein;

... dass Standard Operating Procedure einer der ganz wenigen Doku­men­tar­filme war, die mich dieses Jahr unein­ge­schränkt beein­druckt haben und dass dieser zudem das beste Antidot für die schwer zu ertra­gende Moral­sauce in The Dark Knight war;

... dass die Doku Jimmy Carter: Man From Plains von Jonathan Demme, die mir ähnlich gut gefallen hat, leider nicht regulär im Kino, sondern nur auf dem Filmfest München lief;

... dass die ebenfalls sehens­werte Doku Der große Navigator über Missio­nare in Ostdeutsch­land leider auch keinen offi­zi­ellen Kinostart hatte;

... dass dafür wieder eine unglaub­liche Zahl belang­loser Dokus in die Kinos kamen, was sich nur dadurch erklären lässt, dass sie geringe Herstel­lungs­kosten und (aufgrund ihres jewei­ligen Themas) eine praktisch garan­tierte Zuschau­er­zahl haben, womit sie eigent­lich die Voraus­set­zungen eines Exploita­tion-Films erfüllen;

... dass ich dieses Jahr von erstaun­lich vielen Filmen (mit und ohne hoher Erwartung) enttäuscht war und auffällig viele davon mit Verbre­chen in England bzw. engli­schen Verbre­chern bzw. engli­schen Verbre­chens­bekämp­fern zu tun hatten;

... dass das Kinojahr 2008 besser war als das Börsen­jahr 2008 und man sich wohl auch 2009 sinn­vol­ler­weise mehr mit Film­be­su­chen als mit Akti­en­spe­ku­la­tionen beschäf­tigen sollte.

Michael Haber­lander