13.11.2008

Lebensträume im leergeräumten Ratssaal

Candela Figueira und Maitena Muruzabals Under the Snow
Candela Figueira und Maitena Muruzabals Under the Snow
(Foto: IFF Mannheim-Heidelberg)

Das 57. Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg

Von Ingrid Weidner

Mit schwarzem Tuch abge­deckte Tische, dazu rote Lampen – fertig ist die Kino­at­mo­sphäre. Wo sonst im Halbrund des Saales die Mann­heimer Stadträte große Pläne für die Stadt im Quadrat schmieden, zieht für zehn Tage das Inter­na­tio­nale Film­fes­tival Mannheim-Heidel­berg ein. Dem gegenüber gelegenen Bürger­saal geht es ähnlich. Auch dort herrscht Kino­stim­mung. Im Foyer vor der Stadt­bi­blio­thek warten Korb­stühle auf diskus­si­ons­freude Kino­gänger, die mit Regis­seuren und Schau­spie­lern disku­tieren möchten. Rote Teppiche gibt es außerdem reichlich.

Den Auftakt des Festivals machte der deutsche Film Geliebte Clara von Selma Sanders-Brahms am vergan­genen Freitag in Mannheim. Festi­val­chef und Kinopä­d­agoge Kötz ermahnt die Besucher vor der Vorstel­lung, doch bitte nicht nach der Schluss­szene aus dem Saal zu stürmen, man sei schließ­lich auf einem Festival. Außerdem habe man die Regis­seurin und einen der Haupt­dar­steller, Pascal Gréggory, zu Gast. Viel­leicht hätte er sich diese Ermahnung verkniffen, weil über­flüssig, hätte er Martina Gedeck ankün­digen können, eben noch RAF-Terro­ristin, die die erfolg­reiche Pianistin Clara Schumann spielte. Zwölf Jahre lang arbeitete Sanders-Brahms an der Idee zu einem Film über das kompli­zierte Leben der Pianistin, ihres Mannes, dem Kompo­nisten Robert Schumann, sowie das des jungen Johannes Brahms. 23 Dreh­bücher habe sie in dieser Zeit verfasst, erzählt die Regis­seurin, Isabelle Huppert sollte ursprüng­lich Clara Schumann spielen, doch aufgrund von Termin­schwie­rig­keiten bekam schließ­lich Martina Gedeck die Haupt­rolle. Eine große Produk­tion mit den Berliner Phil­har­mo­niker sollte es werden, auch daraus wurde nichts. Geschadet hat es nicht, dass die Geschichte demnächst als kleinere Variante ins Kino kommt.

»34 Leben­sträume in zehn Tagen« verspricht feierlich der Chef des Newcomer-Festivals in seiner Eröff­nungs­rede. In den »inter­na­tio­nalen Entde­ckungen« – so der Titel einer Programm­sek­tion –, die an den Neckar und in die Nach­bars­tädte Mannheim und Heidel­berg geholt wurden, dreht sich alles um Leben­sträume, aus der Hand von Regis­seuren, die eben ihren ersten oder zweiten Film abgedreht haben. Wie etwa in dem Film des jungen spani­schen Auto­ren­teams Candela Figuiera und Maitena Muruzabal. Ihr Film Novando voy (Under the Snow) erzählt aus dem Leben von vier Menschen, die sich in den tristen Hallen eines Schnee­ket­ten­her­stel­lers im Valle de Egüés, mitten in der nord­spa­ni­schen Provinz, treffen. Sie hoffen auf das Unmög­liche: dass es endlich schneien und mit dem Schnee statt der Kündigung ein neuer Zeit­ver­trag auf sie herab­rie­seln möge. Das Warten auf die Ankün­di­gung von kühlen Tempe­ra­turen und Schnee nimmt exis­ten­ti­elle Ausmaße an, und der schnöde Wetter­be­richt wird zum täglichen Orakel über das eigene Schicksal.

Dem Damo­kles­schwert der Kündigung versuchen die vier Arbeiter mit Lust und Laune zu entkommen: Wer faltet und verpackt schneller die Schnee­ketten? ist eines der Spiele, mit denen Schwung in die kalte Werks­halle kommt. Popsongs aus dem Radio liefern die Hinter­grund­musik, ein Lächeln vertreibt die schlechte Laune; mit keinem teueren Moti­va­ti­ons­se­minar ließe sich das besser schaffen.
Zwischen der guten Laune und den Kaffee­runden verfolgt jeder der vier Prot­ago­nisten einen eigenen Lebens­traum verfolgt. Die quirlige Angela beispiels­weise möchte sich Geld für eine Reise zusam­men­sparen, ihr gleich­alt­riger Kollege motzt sein Auto zum Rennwagen auf. Die Träume des älteren Vorar­bei­ters sind verschüttet, doch erst einmal findet er sein Lächeln wieder, auch wenn sich zu Hause weder seine Frau noch seinen Sohn dafür inter­es­sieren. Die Stärke von Novando voy ist es, dass die Regis­seu­rinnen die Geschichte keines­wegs auf ein Happyend hin tunen, sie gaukeln den Zuschauern nichts vor, Leben­sträume erfüllen sich selten en passant. Doch ein Lächeln kann etwas verändern, daran lassen sie keinen Zweifel aufkommen. Die Idee zum Film kam den Regis­seu­rinnen Candela Figueira und Maitena Muruzabal während eines Aushilfs­jobs in eben dieser Fabrik, um sich das Geld für den ersten Film zu verdienen. Neben den ersehnten Euros sammelte Maitena Muruzabal dort zwischen Schnee­ketten und Zündkabel-Montage Erfah­rungen, Ideen und Geschichten für das Drehbuch – und hatten auch gleich den Drehort gecastet.

Auch der ameri­ka­ni­sche Regisseur Sean Baker und sein Autor Darren Dean mussten eine ganze Weile auf Schnee in New York warteten. Ohne die weiße Kulisse hätte in ihrem Film Prince of Broadway etwas gefehlt, und für Kunst­schnee reichte das 45.000-Dollar-Budget, mit dem der Film reali­siert wurde, beiweitem nicht aus.

Lucky lebt als illegaler Immigrant aus Ghana in Downtown Manhattan, irgendwo in der Nähe des Broadway und der 20. Straße. Dorthin verlaufen sich weniger chice Menschen, teure Desi­gner­ware können sie sich kaum leisten. Im Hinter­zimmer verkauft ihnen Lucky solche Träume. Levon, sein Chef und Laden­be­sitzer ist liba­ne­sisch-arme­ni­scher Herkunft mit Aufent­halts­ge­neh­mi­gung, aber ohne Greencard. Die beiden leben mal besser, mal schlechter vom Verkauf der Hehler­ware. Immerhin hat es Levon gemeinsam mit seiner Freundin zu einer halbwegs ansehn­li­chen Wohnung gebracht, während die Bleibe von Lucky ziemlich schäbig wirkt, wären da nicht die vielen fein säuber­lich aufge­reihten Sneakers.

Lucky quatscht Kunden auf der Straße an, lotst sie ins Hinter­zimmer. Der Job scheint ihm Spaß zu machen, bis seine Ex-Freundin Linda mit einem etwa Einein­halb­jäh­rigen auftaucht, den sie Lucky mit dem Hinweis, es sei sein Sohn, in die Arme drückt. Er müsse sich zwei Wochen um ihn kümmern, und schon ist sie weg. Anfangs hält es der coole Sprüche­klopfer für einen schlechten Scherz. Seinen Lebens­traum hatte sich Lucky ganz anders vorge­stellt. Er reagiert mal lässig, mal witzig, manchmal verzwei­felt und keines­falls immer pädago­gisch korrekt. Irgendwie scheint er sich mit dem keinen Wesen namens Prince anzu­freunden, der viel­leicht garnicht sein Sohn ist, wer weiß das schon.

Produzent Darren Dean und Regisseur Sean Backer haben einen tempo­rei­chen Streifen gedreht, mit dem sie sich das Label »Under­ground« oder »Inde­pen­dent« allemal verdient haben. Im Publi­kums­ge­spräch erzählt Dean, dass Haupt­dar­steller Lucky, der eigent­lich Prince heißt, ein echter Glücks­fall für die Haupt­rolle war. Er ließ seine Kontakte spielen, schleuste Freunde als Darsteller in das Projekt ein und machte sich einfach unent­behr­lich, indem er etwa aus seinem Freun­des­kreis den kleinen Prot­ago­nisten enga­gierte oder Locations suchte.

Insgesamt 18 Wett­be­werbs­filme konkur­rieren um den Festi­val­preis, der am 16. November in Mannheim verliehen wird. Wer also dem grauen Novem­ber­wetter entfliehen und sich in Leben­sträume, weltweit vertiefen möchte, hat bis Sonntag noch in Mannheim und Heidel­berg die Chance dazu.