07.08.2008

Anatomie der Melancholie

Factory Girl
Eine Frau in der Männerwelt:
Factory Girl
(Foto: Kinostar Filmverleih)

Zu spät gekommen: George Hickenlooper ist der Lumpensammler des »American Dream«

Von Rüdiger Suchsland

Viel­leicht wird die Zeit kommen, in der man das Werk von George Hicken­looper als eines der wenigen Beispiele unab­hän­gigen Filme­ma­chens in den USA unserer Gegenwart ansehen wird. Hicken­looper gehört zu den inter­es­santen und durchaus singulären Stimmen des US-ameri­ka­ni­schen Kinos unserer Tage. Aber selbst im eigenen Land ist er eher unbekannt, und dieje­nigen seiner Filme, die bisher die meiste Aufmerk­sam­keit erhielten, sind nicht unbedingt seine wich­tigsten.

Hicken­looper ist ein schwie­riger Fall. Es fällt weitaus leichter, anzugeben, was er alles nicht ist, als sein Werk inhalt­lich exakt zu verorten und diesen Filme­ma­cher im Einzelnen zu charak­te­ri­sieren. In jedem Fall ist er kein Hollywood-Regisseur. Er dreht keine Auftrags­ar­beiten, keine Block­buster, und wenn er einen Genrefilm macht, fügt dieser sich nur zum Teil den Konven­tionen der Gattung. Ande­rer­seits ist Hicken­looper auch kein Vertreter des klas­si­schen Autoren­kinos. Im Unter­schied zu etwa einem John Sayles schreibt er die Dreh­bücher zu seinen Filmen selten selber, obwohl er oft schon – so auch im deutschen Pres­se­heft zu seinem neuesten Film –, darauf hinge­wiesen hat, dass ihn ein Filmstoff »persön­lich bewegen« müsse. Und man kann auch nicht wirklich behaupten, dass es so etwas wie einen »Hicken­looper-Filmstil« gäbe.

Ein durch­gän­giger Ton ist seinen Filmen aller­dings sehr wohl eigen. Es ist jenes Zusam­men­spiel aus Trauer und Erschöp­fung, die Sehnsucht nach einer Vergan­gen­heit, die eigent­lich die Vergäng­lich­keit selbst bedauert, das Nachwehen von etwas, das knapp verpasst wurde: Eine Liebe, ein Zeitalter, etwas letztlich Ungreif­bares auch, das nur im Sehnen selbst für einen Augen­blick noch einmal aufscheint und Leben erhält. Es ist oft, als wären diese Filme, als wäre dieser Regisseur zu spät gekommen.

Verehrer der US-Film­ge­schichte

Hicken­looper ist ein Filme­ma­cher im Zwischen­raum. Er ist Nicht-mehr-Inde­pen­dent und Noch-nicht-Hollywood. Er lebt in Los Angeles, muss für die Finan­zie­rung jedes seiner Filme erneut lange Kämpfe führen, aber bringt doch alle zwei bis drei Jahre – also eher häufiger als ein durch­schnitt­li­cher deutscher Regisseur in unserem fern­seh­fi­nan­zierten Umfeld – einen neuen Film heraus. Er dreht mit vergleichs­weise sehr kleinen Budgets, aber arbeitet mit Stars, und muss immerhin so gewinnend und inter­es­sant sein, dass es ihm gelang, Mick Jagger zu dem jüngsten seiner nur insgesamt acht raren Auftritte als Schau­spieler in einem Kinofilm zu verführen (im Jahr 2001 in A Man From Elysian Fields). Auch ist er ein Schau­spiel­re­gis­seur, in dessen Filmen z.B. Naomi Watts und Billy Bob Thornton wichtige frühe, Irene Jacob und Nigel Hawthorne spätere bedeu­tende Auftritte hatten.

Unver­kennbar ist Hicken­looper ein Verehrer der US-Film­ge­schichte und ihrer Autoren­filmer. Ganz direkt sucht er in einzelnen Werken den Dialog mit Orson Welles, Peter Bogd­a­no­vich, Francis Ford Coppola und jetzt, in seinem neuesten Film Factory Girl auch mit Andy Warhol.

Skep­ti­sche Grund­satz­re­fle­xion modernen Filme­ma­chens

Als Doku­men­tar­filmer mit Arbeiten zur US-Film­ge­schichte begann er. 1963 in St. Louis geboren, studierte Hicken­looper in Yale Geschichte und »Film Studies«, und arbeitete nach seinem B.A.-Abschluß 1986 einige Zeit für Roger Corman – verfolgt man seinen weiteren Karrie­reweg, unzwei­felbar ein entschei­dender Kontakt. 1988 debü­tierte er mit dem TV-Film »Art, Acting, and the Suicide Chair: Dennis Hopper«. Dann kam Picture this: the times of peter bogd­a­no­vich in archer city, texas über Werk und Leben des »New Hollywood«-Helden. Es folgte eine dritte film­his­to­ri­sche Doku­men­ta­tion, sein bis heute inter­na­tional bekann­tester Film, mit dem Hicken­looper 1992 zwei »Emmy‘s«, u.a. für Regie, gewann: Hearts Of Darkness: A Filmmaker’s Apoca­lypse, von 1991 ist eine intime, sensa­tio­nell enthül­lungs­reiche Doku­men­ta­tion der Dreh­ar­beiten zu Francis Ford Coppolas Apoca­lypse Now, entstanden aus Outtakes und zum Teil sehr privaten Bild- und Tonauf­nahmen von Coppolas Frau Eleanor. Der anek­do­ten­ge­spickte Film ist auch eine Grund­satz­re­fle­xion – nicht des Films, aber modernen Filme­ma­chens; voller Skepsis gegenüber der Idee unein­ge­schränkter Autonomie des Film­künst­lers im modernen Studio­system. Natur­gemäß hatte das Projekt unter manchen Rechts­pro­blemen zu leiden. So fehlt alles Bild­ma­te­rial zum damaligen Rauswurf Harvey Keitels. Der in Europa seiner­zeit von manchen erhobene Vorwurf der »Hofbe­richt­erstat­tung« erscheint aus 17 Jahren Abstand trotzdem einseitig und ressen­ti­ment­ge­laden.

Möglich­keiten und Grenzen der Ameri­ka­ni­sie­rung des europäi­schen Auteur-Konzepts

Im gleichen Jahr, 1991, veröf­fent­lichte Hicken­looper auch den Inter­view­band »Reel Conver­sa­tions: Candid Inter­views With Film’s Foremost Directors and Critics«, ein glei­cher­maßen wichtiges, wie – gemessen am univer­salen Anspruch – verrä­te­risch einsei­tiges Buch, das den Wandel des Mediums Film ebenso reflek­tiert, wie den Verfall der Film­kritik in den USA. Gesprächs­partner der 25 Inter­views sind u.a. Martin Scorsese, Francis Ford Coppola, Peter Bogd­a­no­vich, Michael Cimino, David Lynch, Oliver Stone, John Sayles, David Cronen­berg, John Carpenter, George A. Romero, Louis Malle, Stephen Frears, Wim Wenders, Ken Russell und Paul Verhoeven. Damit hatte der Autor das Feld seines Inter­esses und seines eigenen Filme­ma­chens ziemlich genau markiert: Es dreht sich um Möglich­keiten und Grenzen der Ameri­ka­ni­sie­rung des europäi­schen Auteur-Konzepts, um die Bedeutung der Heraus­for­de­rung durch die aufkom­menden B- und Midnight-Movies für das klas­si­sche Kunstkino, und um trans­at­lan­ti­sche Verbin­dungs­li­nien. Die Konzen­tra­tion liegt auf New Hollywood und den Meistern des 70er-Jahre Kinos.

Auch was hier fehlt, ist inter­es­sant: Völlig abwesend sind Bezugs­punkte zu Asien, sei es zu Altmeis­tern wie Ozu oder Kurosawa, sei es zum von italo­ame­ri­ka­ni­schen Vorbil­dern beein­flussten Genrekino aus Hongkong, sei es zum seiner­zeit gerade neuen Kino aus China und Taiwan. Aber auch das seiner­zeit aktuelle und höchst lebendige US-Inde­pen­dent-Kino eines Jim Jarmusch und Spike Lee, überhaupt die Bezugs­punkte zum schwarzen US-Kino, zum Queer-Cinema, zu Gender-Debatten kommen nicht vor. Hicken­loo­pers Blick ist klassisch, weiß und männlich. Neorea­lis­ti­sche und sozial enga­gierte Perspek­tiven tauchen allen­falls vermit­telt über Film­ge­schichte auf.

Leben und das Lebens­ge­fühl der 30- bis 40-Jährigen der 90er Jahre

Nach diesen Ausein­an­der­set­zungen mit der Geschichte seines Mediums begann Hicken­looper, eigene Spiel­filme zu machen. Auch hier kam es zunächst zum Rückgriff ins Histo­ri­sche: Gray Night, Hicken­loo­pers fiktio­nales Debüt von 1993, später heraus­ge­bracht unter dem Titel The Killing Box, ist im US-Bürger­krieg ange­sie­delt, und erzählt eine Geister-Zombie-Geschichte. Unver­kennbar aber sind im Bild eines desaströs-depres­siven, homo­se­xu­ellen Armee­män­ner­bundes, der von Drogen­sucht und Rassismus geprägt ist, die Anspie­lungen auf Vietnam. Ein düster-poeti­sches Spiel mit den Elementen des Genre-Kinos, das im Zweifel auf die Magie seiner Bilder setzt – mit stimmigem Ergebnis. Dieses aller­dings wurde vom Studio stark verändert, der originale, auf Festivals gezeigte Director’s-Cut ist aber auf Laserdisc erhält­lich.

Mit dem für nur 55.000 Dollar gedrehten 20-Minüter Some Folks Call It A Sling­blade kam Hicken­looper 1994 nach Sundance. Es folgt eine Trilogie des ameri­ka­ni­schen Westens, die Hicken­looper zu einem führenden Vertreter des US-Inde­pen­dent-Kinos machte: The Low Life (1995), Persons Unknown (1996) und Dogtown (1997). Die Trilogie ist in Atmo­sphäre und ihren Themen deutlich von Peter Bogd­a­no­vich, besonders dessen The Last Picture Show beein­flusst, und versucht, dessen Ansatz für die 90er aktuell zu refor­mu­lieren. Ein ernster Ton, der ohne falsche Gefühle und ohne unun­ter­bro­chenen Aktio­nismus auskommt, durch­zieht diese Stories von durch­schnitt­li­chen Exis­tenzen. Tod, Leiden und Geldnöte sind ständig präsent, ohne dass sie ins Senti­men­tale abgleiten.

Der Regisseur behan­delte das Leben und das Lebens­ge­fühl seiner Alters­ge­nossen, der 30- bis 40-Jährigen der 90er Jahre, schil­derte ein Milieu, und griff Lebens­ge­fühle auf – ein Lumpen­sammler des »American Dream«. Lakonisch, ruhig, nüchtern und mit auto­bio­gra­fi­schen Zügen zeigt The Low Life das Leben des Möch­te­gern­au­tors John unver­klärt so, wie es wirklich ist.

Schuldig sind die Daheim­ge­blie­benen

Dogtown gehörte zum Besten, was Mitte der 90er aus Amerika kam: Ein zurück­hal­tendes Meis­ter­werk, das stark durch das europäi­sche Kino beein­flusst war. Der eindring­liche Film erzählt von der Heimkehr des mäßig erfolg­rei­chen Hollywood-Schau­spie­lers Philip in das Dorf seiner Kindheit. Dort trifft er auf die Traumfrau seiner Jugend, deren Leben in Lange­weile und Depres­sion erstickt. Diese Rückkehr wirkt als Kata­ly­sator, der heimliche Ängste, Neid und Hass der Daheim­ge­blie­benen zum Ausbruch kommen lässt. »Like a virus« erscheint Philip in der Stadt, und sobald er wieder da ist, bleibt nichts wie zuvor. Die Hölle, das ist die Heimat, die man hinter sich gelassen hat, und das ist die Provinz, die geogra­phi­sche, aber auch die innere unseres Bewusst­seins. Am Ende dieser leiden­schaft­li­chen Geschichte liegen sich die Liebenden in den Armen – als zwei Über­le­bende: geschlagen, aber nicht besiegt.
Dogtown war Mehreres zugleich: Zunächst eine Thir­ty­so­me­thing-Geschichte, die ohne Senti­men­ta­lität den bekannten Wider­spruch zwischen den Hoff­nungen von einst und den Reali­täten von heute aufzeigt. Die Wahrheit ist, dass wir alle unserer Jugend und den damals verfehlten Möglich­keiten nach­trauern, und nur viele das später nicht akzep­tieren mögen. Dogtown war aber auch eine moderne Adaption der bibli­schen »Heimkehr des verlo­renen Sohnes«, die die Moral der Geschichte umdrehte und dadurch verschärfte: Schuldig sind die Daheim­ge­blie­benen, nicht deshalb, weil sie den Ausbruch nicht gewagt haben, sondern weil sie sich vor Neid auf den vermeint­lich erfolg­rei­chen Heim­kehrer verzehren.
Vor allem aber handelte es sich um die Darstel­lung eines zutiefst mensch­li­chen Dramas: Wie lässt sich das Leben meistern, ohne früh­zeitig zu resi­gnieren, oder an den eigenen Ansprüchen zu zerbre­chen? Wie in The Low Life mündete Hicken­loo­pers Analyse eines ganz gewöhn­li­chen Lebens in das exis­ten­tia­lis­ti­sches Pathos des Über­le­bens im Scheitern: Was bleibt, ist die Würde des Einzelnen, die darin liegt, den Kampf nicht allzu früh aufge­geben zu haben.

Diese Grund­mo­tive durch­ziehen auch Hicken­loo­pers folgende Arbeiten, die zugleich einen – halben, inkon­se­quenten – Schritt zum Main­stream markieren: In The Big Brass Ring (1999), entstanden nach Orson Welles‘ letztem Skript, ist William Hurt ein Politiker im Wahlkampf, der gegen die Geister der Vergan­gen­heit, die eigenen Dämonen und den Teufels­pakt der Medi­en­ge­sell­schaft kämpft. In The Man From Elysian Fields (2001) steht ein erfolg­loser Autor im Zentrum, der sein Geld in einem Escort Service verdient, und dort unver­se­hens wieder zum Autor wird – die Selbst­re­fle­xion des Künst­ler­tums, des Zusam­men­hangs von Sex und Krea­ti­vität, Glamour und Erfolg. Ein wenn man so will konser­va­tives, altmo­di­sches Männer­bild dominiert: Anständig zu verlieren ist besser als um jeden Preis zu gewinnen. Und die Männer in Hicken­loo­pers Filmen gewinnen zumindest das Herz von schönen Frauen. Ihr Scheitern bleibt also erträg­lich. Zugleich ist Hicken­looper ein großer Frau­en­re­gis­seur, der seine weib­li­chen Figuren nicht nur voller Liebe und Sensi­bi­lität, aber auch mit dem nötigen Anteil an bewun­derndem Glamour foto­gra­fiert, sondern ihnen auch Raum zur Entfal­tung gibt.

»Ich finde den Post­mo­der­nismus zerstö­re­risch«

Das gilt auch für Factory Girl. Hicken­looper mischt hier wie sonst auch Dokumente und Mythen, der Einsicht folgend, dass Mythen nur eine andere Form von Wahrheit sind. Dieses speku­la­tive Edie-Sedwick-Biopic handelt von einer Frau in der Männer­welt, ist dann aber auch – indem es Andy Warhol und Bob Dylan glei­cher­maßen als intri­gante und mani­pu­la­tive, vor allem aber narziss­ti­sche Künst­ler­vam­pire zeigt – eine mora­li­sche Abrech­nung mit unseren Vorstel­lungen von Star­gla­mour und Künst­lertum. Immer wieder scheitern in seinen Filmen Idea­listen, immer wieder schlägt Sensi­bi­lität in Grau­sam­keit um. Hicken­loo­pers Amerikas ist ein anonymes, erstarrtes Niemands­land, in dem kein Weiter­kommen mehr möglich ist.

In diesem Sinne ist er ein fast altmo­di­scher Regisseur, ein Vertreter einer klassisch-modernen Idee von Kino und damit ein Solitär in der gegen­wär­tigen Kino­land­schaft: »Ich hatte Filme in Sundance, die ziemlich gut ankamen. Aber ich bekam nie ein Entrée zu der Intel­lek­tu­el­len­clique der Ostküste. Meine Filme passen nicht zu den Ideen der Post­mo­derne. Sie sind nicht schnip­pisch, nicht so über­witzig und kari­kie­rend wie so viele heutige Filme. Ich bedaure das nicht – es war meine bewusste Entschei­dung. Ich finde den Post­mo­der­nismus zerstö­re­risch für unsere Kultur. Peter Bogd­a­no­vich sagte mir einmal, dass The Last Picture Show heute noch nicht mal ins Kabel­fern­sehen käme. Aber ich glaube, die Geschichte wird ungnädig sein mit Filmen wie Far from Heaven, die nur noch auf Meta­ebenen und über Fanclubs funk­tio­nieren. Am Ende sind es mensch­liche Dramen, Tschechow, Wyler und Ford, die bleiben.«
Ob er seinen eigenen Ansprüchen bisher immer gerecht geworden ist, darf man mit Recht fragen. Aber immerhin geht es bei diesem melan­cho­li­schen Lumpen­sammler des »American Dream« immer ums Ganze.

Herz­li­chen Dank an Ulla Rapp, Nina Roeder und George Hicken­looper.