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13.10.2005
 
 
       

Lost in Marbaden
Der genialische Kino-Don-Quixote Terry Gilliam und seine beiden neuen Filme BROTHERS GRIMM und TIDELAND.

 
 
"Das Unterbewusstsein als Geisterbahn"
   
 
 
 
 

"Die Brüder Grimm haben mich fürs normale Leben verdorben." - Zwerge, Hexen, Wölfe und Zauberer bevölkerten seine Kindheit. Im November wird er 65, doch wer die Filme von Terry Gilliam - u.a. RITTER DER KOKUSNUSS, BRAZIL, MÜNCHHAUSEN - kennt, der weiß, wie viel Kindlichkeit - Übermut, Unschuld, Lust, nicht Naivität - er sich bis heute bewahrt hat. "Mir geht es prächtig" strahlte Gilliam im papagaienbunten Hawaihemd während des Gesprächs beim Filmfestival von San Sebastian - gerade hatte er dort seinen zweiten neuen Spielfilm innerhalb von zwei Wochen vorgestellt, eine rekordverdächtige Quote für einen Hollywood-Regisseur. Keine Frage: Terry Gilliam ist zurück.

TIDELAND, der am Ende den FIPRESCI-Kritikerpreis erhielt, erzählt von einer Neunjährigen, die nach dem Tod ihrer Eltern allein in einem großen Haus lebt, und sich in eine Traumwelt flüchtet - Alice im Wunderland im Middlewest. Kurz davor hatte BROTHERS GRIMM in Venedig Premiere, Gilliams Phantasie über die deutschen Märchenerzähler. Gilliam geht hier mit den Grimms und ihren Märchen um wie ein Pop-DJ, er "sampelt", mixt einzelne Elemente zu etwas Eigenem und Neuem zusammen. Das Interesse für seine Stoffe führt er auf seine Kindheit zurück - obwohl viele das ehemalige "Monty Python"-Mitglied für einen Briten halten, wurde er in Minneapolis geboren, und erlebte das, was er selbst "eine sehr amerikanische Kindheit" nennt: "Wir lebten auf dem Land, hinter dem Haus war ein Wald, gegenüber ein Sumpf, ein paar Blöcke weiter lag in Kornfeld voller merkwürdiger Dinge, ein See lag in der anderen Richtung. Wir hatten kein Fernsehen. Der einzige Weg zur Welt da draußen waren Radio und Bücher."

Gilliam las Grimms und Andersens Märchen, später Geschichten wie die des Lügenbarons Münchhausen, über den er 1988 einen Film drehte, und Cervantes' "Don Quixote", mit dem sich die bisher größte Katastrophe seiner Karriere verbindet: Alles war fertig zum Dreh des aufwendigsten europäischen Films aller Zeiten. Da wurde zuerst der 70-jährige Hauptdarsteller Jean Rochefort von den Ärzten aus dem Verkehr gezogen, dann brach ein noch nie dagewesener Hagelsturm über die kastilische Wüste herein, die folgenden Sturzbäche spülten einen Großteil der Ausrüstung des Filmteams hinweg, überdeckten die sorgfältig ausgewählten Schauplätze mit einer fetten Lehmschicht, und Gilliam musste die Dreharbeiten zu seinem seit Jahren geplanten Lieblings-Projekt einstellen - der Dokumentarfilm LOST IN LA MANCHA erzählt von dieser perfektesten - weil scheiternden - "Don Quixote"-Verfilmung aller Zeiten.

Konsequent bis zum Scheitern

Seitdem wird Gilliam, früher wegen seiner unorthodoxen, zumeist unterfinanzierten, aber immer genialischen Drehs als "Captain Chaos" berüchtigt, auch gern mit seinem Helden verglichen, an dem schon der andere, ebenfalls bis zum Scheitern konsequente Filmarbeiter Orson Welles scheiterte. "Ich war auch erleichtert", lacht Gilliam in der Sonne, "ich trage mein bestes Werk noch in mir. Was konnte Orson Welles nach 'Citizen Kane' noch tun?" Bei Gilliam ist jeder Film ein quixoteskes Projekt, dessen Gelingen zunächst einmal nur zum Staunen Anlass gibt, wie das überhaupt möglich war - voller Leidenschaft und Intensität.

Das gilt auch für BROTHERS GRIMM: Ein wildes und ziemlich undiszipliniertes Spiel mit modernen Mythen, wie es eigentlich für den etwas früheren Gilliam typischer war. Hatte er in BRAZIL, TWELVE MONKEYS und eben FEAR & LOATHING... mit dem Versuch einer Interpretation der modernen Wirklichkeit mit Unmengen von Ideen, nie versiegenden Bild-Einfällen und handwerklicher Virtuosität zwar beeindruckt aber nicht absolut überzeugt, kehrt er nun auf scheinbar sichereres Terrain zurück: Zum Geist der anarchischen Monty-Python-Komödien und ihrer Veralberung abendländischen Kulturguts. Die Märchen der Gebrüder Grimm bieten nicht nur auf den ersten Blick ein dankbares Kinosujet. Eine unüberschaubare Menge - über 200 verzeichnen die Lexika -, die mehr oder weniger durchschnittliche, sklavisch-originalgeteue Nacherzählungen einzelner Märchen in der Filmgeschichte hinterließen aber ohne tiefere Spuren. Die Ausnahme bilden der aufsehenerregende Disney Animationsfilm SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE, der bereits aus dem Jahr 1937 stammt, und die weitaus freiere "Aschenputtel"-Version CINDERELLA vom gleichen Studio. Eine freiere, erwachsenere Version der Grimms im Geist der Vorlage in Realfilmform gelang bisher allein Neil Jordan in THE COMPANY OF WOLVES.

Insofern ist das, was sich Gilliam in BRÜDER GRIMM vorgenommen hat, ein mutiges und begrüßenswertes Unterfangen: Er erzählt die Geschichten der Märchen als Geschichte des Brüderpaares, ihrer Erlebnisse, Alp- und Wunschträume, als Spiegel ihres Unterbewußtseins - eine Art filmische Psychoanalyse, die zugleich paradoxerweise doch ganz frei bleibt von aller Psychologisierung. Das Unterbewußtsein als Geisterbahn, die der Zuschauer in rasender Fahrt besucht. Verfahren und Ergebnis sind dabei ähnlich wie in Gilliams FEAR & LOATHING..., in dem die Übergänge zwischen den Erlebnissen der beiden Hauptfiguren und ihren Halluzinationen im Drogenrausch ebenfalls fließend waren. Auf der Suche nach filmischen Vorbilder muss außer auf Jordan auch noch auf Ken Russels GOTHIC verwiesen werden, der die britischen Dichter Byron, Percy und Mary Shelley auf einer Schweizer Villa versammelte, und sie dort ihren selbstgeschaffenen poetischen Geschöpfen begegnen ließ. Doch wo Jordan und Russel intellektuellen, aber trotzdem ernsten Horror inszenierten, bevorzugt Gilliam Phantasmagorie und Farce. Mit den Autoren des "Deutschen Wörterbuch" hat seine Darstellung gar nichts zu tun, mit den Verfassern der "Hausmärchen" nur wenig. Gilliam mischt Figuren und Szenen aus diversen Märchen mit einigen ihrer Leitmotive zu etwas sehr Eigenem zusammen, einer Story voller Gedankensprünge und narrativer Brüche, lustvoller Einfälle und kruder Abschweifungen. In seinen besten Momenten ist der Film stark und voller Poesie, oft aber mäandert er ebenso enervierend wie unentschieden in seinem barocken Übermaß an Ideen umher. Für ein gutes Bild, einen lauten Knalleffekt würde Gilliam, das ist klar, nicht nur seine Großmutter, sondern auch die gesamte erzählerische Substanz seines Films jederzeit verkaufen.

Blutwurst und Geisterjäger

Beschrieben wird ein fiktives Leben eines fiktiven Brüderpaares Grimm im vom napoelonischen Frankreich besetzten Deutschland kurz nach 1800. Die Brüder sind junge Männer und verdienen ihren Lebensunterhalt als Unterhaltungskünstler, die durch die Gegend reisen, den Leuten mit angeblichen Zauberkünsten als "Geisterjäger" das Geld aus der Tasche ziehen, und nebenbei junge Mädchen verführen. Jakob ist ein Träumer voller Glauben an die Existenz einer phantastischen Parallelwelt, Wilhelm hingegen ein berechnender, immer aufs Ökonomische orientierter Pragmatiker. Zu ihrem Gegenspieler wird der französische General Delatombe. Die Opposition zwischen den Brüdern und ihm darf man auch als satirische - und überaus parteiische - Konfrontation zwischen Romantik und Aufklärung verstehen, und auch zwischen Deutschland und Frankreich. Gelungen sind dabei sowohl die - kulturhistorische treffenden - Witze über das, aus Sicht des Franzosen, zurückgebliebene Deutschland, über "Blutwurst und Sauerkraut", über Irrationalismus, Wald- und Naturschwärmerei, als auch Gilliams Karikierung des "herzlosen" Rationalismus, die Veralberung französischer Bürokratie. Als in der Kleinstadt Marbaden neun junge Mädchen verschwinden, unter anderem eines mit rotem Käppchen und ein anderes namens Gretel, zwingt Delatombe die Brüder, die manchen selbst verdächtig geworden sind, dazu, die Täter ausfindig zu machen, und die Mädchen zurückzubringen - eine arg erzwungen wirkende Rahmenhandlung, die Giliam freilich die Möglichkeit gibt, den zweiten Teil des Films mit allerlei Geblödel, Slapstickeinlagen und kuriosen Figuren - etwa einem von Peter Stormare verkörperten italienischen Folterexperten, aber auch wandelnden Bäumen und den Grimm-obligatorischen bösen Wölfen und Hexen, und allerlei anderen Motiven aus Rapunzel, Froschkönig und Dornröschen - vollzustopfen.

BRÜDER GRIMM scheitert allerdings gerade dann, wenn er versucht, einen zeitlosen, kindlich unschuldigen Blick wiederzufinden, zu dem auch die - immer zauberhaften - Schrecken der Kindheit und ihrer Märchen gehören. Gerade das nimmt Gilliam selbst immer wieder gern für sich in Anspruch - und in TIDELAND ist ihm das auch hervorragend gelungen. Auch den Ideen der Brüder Grimm selbst, denen es eher darum ging, Urängste durch Aufklärung und Benennung aus den Köpfen zu bannen wird der Film kaum gerecht. Im Gegenteil: Gilliam macht sich in der Figur des Delatombe über alles, was Aufklärung sein könnte, lustig. Nun ist es freilich Gilliams gutes Recht, ein einseitiges, historisch-verzerrtes Bild der Grimms zu zeichnen. Wenn der Film nun auch auf Deutsch den englischen Titel trägt, so liegt darin ein zweifacher und ziemlich doppelbödiger Scherz, ganz nach der Art wie sie Gilliam mag: "Es soll natürlich wie ein Unternehmen klingen: 'Grimm Brothers' wie 'Warner Bros.', das waren sie schließlich." Und dann ist alles vielleicht auch eine Anspielung auf die Weinstein-Brüder, Gilliams Produzenten. Mit denen hat er sich nämlich, wie bekannt wurde, ziemlich gestritten, und dem Film ist deutlich anzumerken, dass seine späte Veröffentlichung auch auf einen überaus schwierigen Produktionsprozeß zurückzuführen ist, vor allem, den bei Miramax-Produktionen zuletzt fast zur Routine gewordenen, und in diesem Fall zugegebenen "künstlerischen Differenzen" zwischen Regissseur und Produzent Harvey Weinstein. Ein halbes Jahr lag der Film auf Eis, und man tut Gilliam nicht unrecht, wenn man bemerkt, dass man dies BROTHERS GRIMM auch ansieht. Heute sagt er: "Ich mag die Weinsteins, ich bewundere sehr, was sie tun - aber ich beobachte sie lieber aus der Distanz."

"Ich bin Grimms"

Wenn nur BROTHERS GRIMM wenigstens ein echter Gilliam-Film wäre! Aber über weite Strecken bleibt vom Regisseur nur die Oberfläche seines Stils, das Barocke und Überladene, Ausgelassene um seiner selbst willen, während dessen Substanz, die Selbstreflexion, oder wenn man will: postmoderne "Aufklärung über Aufklärung" verloren geht. Zu gradlinig, geistlos, unspielerisch und daher im Effekt einfach platt ist die Handlung - wofür man wohl besser das Studio als den Regisseur verantwortlich macht. Dass er es viel besser kann, dass er weiß, dass Träume immer etwas mit Alpträumen, Komödien mehr mit Tragödien, als mit Entertainment zu tun haben, das zeigt - noch einmal sei's gesagt - TIDELAND viel besser. Alle Gilliam-Fans dürfen sich auf den Film freuen. "Ich habe in mein Inneres geschaut, und gemerkt, dass da ein kleines Mädchen steckt", scherzte Gilliam im Zusammenhang mit diesem Film, und es klingt wie das Flaubertsche "Madame Bovary, c'est moi". Und auf die hier mehr als naheliegende Frage, wieviel von seinem merkwürdigen ungleichen Brüderpaar Grimm er denn in sich trage, kam prompt die Antwort: "Ich bin beide. Ich bin ein heilloser Träumer und ein skrupelloser Pragmatiker." Das mag wohl sein. Und wir werden Gilliam auch nach solchen Filmen, die allemal viel Spaß machen, ungleich intelligenter sind, als 80 Prozent der Filme, die derzeit im Kino laufen, die Treue halten. Terry Gilliam wird sich - wie Don Quixote, wie seine Grimms - die Träume nicht nehmen lassen. "Wir sollten mal die Telefone ausmachen, und uns in den Wald setzen." Nochmal ein breites Grinsen, ein neuer Einfall: "Es stimmt: durch die Wissenschaft kamen wir auf den Mond. Aber die Fantasie hat uns schon lange dorthin gebracht - und zwar viel billiger."

Rüdiger Suchsland

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