Gehen Sie in DIE KINDER DES MONSIEUR MATHIEU. Da gibt es
nichts, worüber man sich ärgern müsste, was Anstoß erregt:
die Bösen sind böse, die Guten gut, in jedem Kind steckt ein
anständiger Kern und der jubelnde Chor jugendlicher Kehlen
erfüllt das Herz. Ein beherzter Lehrer weckt im Frankreich
von 1949 den Lebensmut von Zöglingen eines Erziehungsheimes.
Und die Welt wird besser. Machen Sie sich selbst eine Freude
und schauen Sie sich diesen Film an.
Es sei denn, Sie suchen im Kino mehr als eine Ansammlung
gefällig präsentierter Klischees. Und es reicht Ihnen nicht,
wenn hundertmal gesehene Standardsituationen nun zum 101sten
Mal präsentiert werden. Falls sie kein Freund von Filmen sind,
die sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner ausruhen (Kinder
brauchen Anerkennung, nicht ungerechte Strafen) statt Widersprüchlichkeiten
zuzulassen, oder falls sie nicht begeisterte Anhängerin jedweder
musikalischer Äußerung im Film sind - dann können Sie LES
CHORISTES auch ausfallen lassen.
Um wie viel eindrucksvoller wird die Macht der Musik doch
in der mitreißenden Dokumentation RHYTHM IS IT! dargestellt.
Wie viel intelligenter zeigt dieser Film die Begeisterung,
die die Mitarbeit an einem musikalischen Projekt hervorrufen
kann! Auch da geht es um Kinder, die den Anforderungen des
Lebens verunsichert gegenüber stehen. Aber da werden sie nicht
als Vehikel für eine sentimentale Schnulze missbraucht, die
auf dem Niveau eines Groschenromanes heruntergenudelt wurde.
Der Dokumentarfilm war bereits auf der Berlinale ein Erfolg,
und das nicht nur, weil die Ereignisse in Berlin aufgenommen
wurden. Die erste Spielzeit der Berliner Philharmoniker unter
ihrem neuen Leiter, Sir Simon Rattle, beinhaltete unter anderem
den Start eines bemerkenswerten Education-Projekts: 239 Berliner
Kinder und Jugendliche aus 25 Nationen, aus den unterschiedlichsten
Schultypen und sozialen Schichten erarbeiteten zusammen mit
Rattle und den Philharmonikern ein Ballett zu Igor Strawinskys
"Le sacre du printemps". Angeleitet wurden die jungen Tänzer,
von denen kaum einer tänzerische Vorbildung hatte und nur
wenige mit klassischer Musik in Berührung gekommen waren,
vom in der Jugendarbeit erfahrenen Choreographen Royston Maldoom.
Die Filmemacher Thomas Grube und Enrique Sanchéz Lansch waren
als stille Beobachter dabei. Die Probenarbeiten begleitend,
erfährt man von der Arbeit, die hinter dem Projekt steckt,
aber auch dem Ansporn, den Erfolgserlebnisse beim harten Tanztraining
bedeuten. Drei Jugendliche im Fokus der Dokumentation sind
auf unterschiedliche Weise gefordert, ihre Grenzen in Frage
zu stellen. Strawinskys Musik, die den Tänzern zunächst fremd
und sperrig scheint, wird zunehmend von Kraft und Emotion
erfüllt. Wenn Simon Rattle, der Initiator, und Choreograph
Maldoom schließlich über ihre eigene Jugend und den Stellenwert
der Musik darin sprechen, scheint das ein Tor zu neuen Zukunftsperspektiven
zu öffnen. Musik kann ein Weg zum Leben sein.
Im Grunde behauptet auch LES CHORISTES nichts anderes, nur
gründlich weniger überzeugend. Nichts gegen die Schauspielleistung
des hervorragenden Gérard Jugnot oder das sängerische Talent
der Jungen. Aber dem Regisseur Barratier, der sich zuvor als
Produzent der Naturdokumentationen MIKROKOSMOS und NOMADEN
DER LÜFTE hervorgetan hat, fällt jenseits des ausgewalzten
Hoffnungsschimmers, den ein verständnisvoller Aufseher in
ein Heim schwer erziehbarer Jungen bringt, nicht viel interessantes
zu erzählen ein. In diesem Remake des Films DER NACHTIGALLENKÄFIG
/ LA CAGE AUX ROSSIGNOLS von 1945 füllt er die 95 Minuten
nur mit Platitüden. Aus dieser Leere stechen kleine humorvolle
Szenen von den Rektor verspottenden Kindern und ähnlichem
hervor, die genauso klischeehaft schnell abgehandelt werden
wie das Melodram unglücklicher Verliebtheit - schwupp, ist
es vorbei. Die malerischen Bilder sind da fast verschenkt.
Aber den meisten Leuten gefällte der Film ja, in Frankreich
erreichte er Besucherrekorde. Offenbar sind die Zuschauer
nur durch garantierte Anspruchslosigkeit für das Kino zu interessieren
- und schön ist ja, dass sie überhaupt den Weg in die Filmtheater
finden. Denn die können es sich dann auch leisten, Juwelen
wie RHYTHM IS IT! zu zeigen. Meine Damen und Herren, bitte,
gehen Sie in DIE KINDER DES MONSIEUR MATHIEU ...
Svenja Alsmann
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