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12.08.2004
 
 
       

Letzte Horrorfilme
Zum 18. Fantasy Filmfest

 
 
Belgische Passion: CALVAIRE
   
 
 
 
 

Wären Filmtitel wahr, dann hätte das Fantasy Filmfest ein massives Problem gehabt: Der letzte Horrorfilm, THE LAST HORROR MOVIE, wäre dann schon in der Mitte des Festivals gelaufen. Freilich war dieser Titel nur Teil (und nicht unbedingt der gelungenste) des selbstreflexiven Spiels, das Julian Richards' neuester Streifen spielte. In Wahrheit will der Film das, was wir in Horrorfilmen mit solchem insgeheimen Genuss sehen - das Sterben von Menschen - befreien von der ästhetischen Einkleidung, ihm eine Realität zurückgeben.
Der Film ist das Homemovie eines Serienkillers, der nebenbei sein Geld als Filmer von Hochzeits-Videos verdient. Oder, nein, genauer: Es ist das Schulungsvideo, dass dieser Psychopath (aus seiner Sicht) zum Fromm der übrigen Menschheit gedreht hat.

Das Programm des Fantasy Filmfests bemühte den Vergleich zu MANN BEISST HUND (C'EST ARRIVÉE PRÈS DE CHEZ VOUS), aber dieser Vergleich trägt bestenfalls oberflächlich, denn mit der Medienkritik jenes Films hat THE LAST HORROR MOVIE wenig am Hut. Viel engere Verwandschaft hat er zu MUXMÄUSCHENSTILL -
er ist so etwas wie der (noch) heftigere, bösere Cousin des deutschen Streifens. Was zugleich ein Beweis dafür ist, wie sehr die technischen Gegebenheiten des Mediums den Inhalt prägen: Dass beide Filme (gewiss ohne voneinander zu wissen) eine ganz ähnliche Dynamik entwickeln zwischen einem "Volkserzieher" und einem verdrucksten Langszeitarbeitslosen, der von diesem angestellt ist, ihn mit der Kamera zu begleiten, ist schlicht eine naheliegende Konsequenz aus dem Einsatz eines Camcorders als Aufzeichnungsgeräts (das auch IN der fiktionalen Welt der Filme als solches existiert). Anders als MANN BEISST HUND geht es bei Julian Richards' Film nicht nur um Gewalt - es geht um ein ganzes Weltbild. Der Psychopath Max (die Namensgleichheit zum Protagonisten von MUXMÄUSCHENSTILL ist garantiert Zufall - aber auch Beweis, dass der Weltgeist gewisse Ideen eben doch gern doppelt verteilt) hat nicht nur was übers Sterben zu erzählen, sondern auch übers Leben. Und das ist fast noch trostloser und erschreckender als seine Ausführungen zum Mord. Die Szenen bei Familie und Freunden, bei den Hochzeiten, dienen nicht einfach als beschaulicher Kontrast zum mörderischen Treiben - sie sind ein Blick auf den Horror der sogenannten Normalität.

Das Ganze funktioniert und trägt nicht zuletzt deshalb, weil Kevin Howarth in der Hauptrolle genau die richtige Mischung aus Charmeur und Arschloch ist, er den gewinnenden Verführer und den egomanischen Loser angsteinflößend echt rüberbringt. Auf tiefere Weise verstörend, erschreckend (weil in Teilen viel leichter bei sich selbst wiedererkennbar) als seine Gewalttätigkeit ist Max' Gewissheit, mit der er seine zynische Weltsicht, seine vermeintliche Überlegenheit herausposaunt; mit der er sich zum Herrn über Leben und Tod ernennt und damit einem größeren Guten zu dienen meint.
Zumindest einmal ringt sich THE LAST HORROR MOVIE dagegen zur Selbsterkenntnis durch, dass der Tod, nimmt man ihn ernst, letztlich nicht semantisierbar ist: In der wohl heftigsten Szene des Films versucht Max verzweifelt, aber von sich selbst völlig überzeugt, einem sterbenden Opfer klarzumachen, dass es Teil einer GROSSEN Sache ist, dass sein Sterben einen Sinn hat - und Max ist furchtbar sauer, dass dem Opfer dafür offenbar jegliches Verständnis abgeht.

Das, was THE LAST HORROR MOVIE zur Komplizenschaft der Zuschauer zu sagen hat, ist im Vergleich fast konventionell, wenngleich doch immer wieder so überzeugend und herb gebracht, dass es einen schlucken lässt. Leider aber ist der Film auch clever genug zu wissen, dass seine Zuschauer eine unschlagbare Antwort haben auf seine immer wiederkehrende Frage: Why do you keep watching? Ganz einfach: Weil wir wissen, dass das alles nur inszeniert, gespielt, nur ein Film ist. Der Film will diese Antwort aber nicht akzeptieren, er will auch diese letzte Verteidigung durchbrechen. Ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen, bei dem er schließlich die Meta-Fiktions-Schraube eine mühsame Drehung zu weit anzieht.
Kann aber auch sein, dass dieser finale Dreh deswegen nicht richtig gewirkt hat, weil das Kino eigentlich der falsche Ort ist, dieses Werk zu gucken. Das zentrale conceit des Films ist, dass er so tut, als sei er auf einer Verleih-Videocassette über einen billigen US-Horrorstreifen aufgenommen worden. Diesem Spielchen kann man sich, sieht man THE LAST HORROR MOVIE auf Leinwand, natürlich bestens entziehen. Drum ist das wohl der erste Film, der mir gefällt, bei dem ich raten würde: Watch it on video.

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Man hat ja schon länger geahnt, dass die Belgier irgendwie seltsam drauf sind. Also nicht nur wegen der Sache mit den Kindern. (Von der offenbar THE ALZHEIMER CASE handelte, den ich aber nicht gesehen habe.) Sondern überhaupt. Weswegen man MADAME EDOUARD & INSPECTOR LÉON auch durchaus als Dokumentarfilm gucken konnte - da war so ziemlich jedes Klischee, das es über das frankophone Ländchen gibt, drin verwurstet. Vom eigenwilligen Essen über das eigenwillige Bier (das - keine Erfindung des Films - "La mort subite" heißt) bis hin zu Renée Magrittes Melonenhut-Mann, der immer mal wieder durchs Bild marschierte. Leider lief sich all das skurill-verschrobene Treiben mit all den bizarren Typen (ein stämmiger Transvestit im Putzfrauen-Kittel, eine Sekretärin mit einem Tick für extrem exzentrische Ohrringe, etc.) mit der Zeit ziemlich tot. Vor allem, weil Regisseurin Nadine Monfils, die sich ausdrücklich auf LE FABULEUX DESTIN D'AMÉLIE POULAIN beruft, im Gegensatz zu Jeunet wenig mit den Möglichkeiten des Mediums Film und seiner Apparatur am Hut hat und ihr Panoptikum der Eigenwilligkeiten einfach nur vor die Kamera postiert. Zudem nimmt sich das Ganze am Ende dann doch ziemlich ernst als Reflexion über die Kunst, das Leben und solch Dinge mehr, und an solcher Gewichtigkeit verhob sich der poetisierende Klamauk dann doch.

War hier noch alles eher harmlos und possierlich, bestätigte zwar auch THE ORDEAL (CALVAIRE) das Vorurteil, dass die Belgier anders ticken - aber auf eine Weise, die man in keinem Tim&Struppi-Heftchen (auch Hergé kommt selbstverständlich in MADAME EDOUARD vor) findet. Was ein FIESER Film! Der beweist, dass sich zwei Trends des französischen Kinos nahtlos aufs Nachbarland übertragen lassen: Nirgends sonst haben Jungregisseure und deren Kameraleute solch ein Händchen für unheimlich schöne, elegante Bilder. Und nirgends sonst gehen sie mit der Darstellung von Grausamkeiten derart hart an die Grenze echter Menschenverachtung. CALVAIRE kann einem den Atem nehmen mit seinem wunderbaren Licht, mit den Aufnahmen, die die Atmosphäre der herbstlich-winterlichen Landschaft tief in der Provinz einfangen, dass man sie meint greifen, riechen zu können. Und er kann einem den Atem verschlagen mit seiner ungebremsten Perversität.

Ein Film aus dem altehrwürdigen Genre des "backwoods horrors", der aber so konsequent zu Werke geht, wie es sich selbst DELIVERANCE nie getraut hätte. Ein Film über eine Landschaft, in der den Männern die Frauen fehlen; ein Film über die Suche nach Ersatz. Aber die Typen, die sich von Kälbchen einen blasen lassen, sind hier noch die gesündesten.
Das alles ist um so schlimmer, als CALVAIRE mit so einem kauzigen, finster-absurden Humor beginnt, als er permanent einen beängstigend lakonischen Blick behält, als er sich weigert, viel Antworten und Auflösungen zu bieten, als er über weiteste Strecken nicht mal Filmmusik als emotionale Ausflucht zulässt. Dafür gibt es die großartige Nummer, in der im örtlichen Wirtshaus einer der degenerierten Typen ans Klavier schreitet, darauf sehr rhythmisch, aber arg dissonant herumdrischt, woraufhin all die anderen degenerierten Typen aufstehen und miteinander stolpernd zu tanzen beginnen. Genau so haben wir uns belgische Dorfdisco-Abende immer vorgestellt.

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Letzte (Horror-)Filme haben auf Festivals einen grundsätzlichen Wettbewerbs-Nachteil: Der fleißige Besucher (und womöglich auch noch Berichterstatter) leidet auf Filmfesten traditionell unter Schlafmangel, und die letzte Vorführung des Tages läuft deshalb gerne Gefahr, früher oder später nahtlos in die vorgezogenen Nachtruhe hinüberzudriften.

Nun sollte das Fantasy Filmfest in dieser Hinsicht weniger anfällig sein als, sagen wir, die Hinterbirnbacher Tage des meditativen Gebärdensprachenfilms - verspricht doch die "Midnight Madness"- Reihe immer besonders derbe Kost, schockierende Spektakel. Und im Prinzip hält ein Film wie MUCHA SANGRE ja auch stellenweise, was der Titel verspricht. Will auch gar nicht behaupten, dass mich dieser spanische Leinwand-Kindergeburtstag nicht immer wieder amüsiert hätte: Aliens im Baskenland (mit dem in Ehren ergrauten Paul Naschy als Oberalien!), getürmte Serienkiller, fliegende Scheiße - was will man mehr?
Tja, Rhythmus zum Beispiel. Das Problem mit fast all solchen wüst gemeinten, munter handgezimmerten Filmen, die absichtlich mit der Niveaulatte Limbo spielen (How low can you go?) ist, dass es verdammt viel Handwerk braucht, um über anderthalb Stunden "einfach nur" auf rüdeste Weise unterhaltsam zu sein. Außer Peter Jacksons programmatisch betitelten BAD TASTE und BRAIN DEAD wüßte ich spontan keine Filme, die das je wirklich überzeugend geschafft hätten. Solche Streifen können gewöhnlich nie das Tempo hoch genug, die Ideen- und Gagdichte auf dem nötigen Level halten. Und verfügen meist auch von filmsprachlicher Syntax und Grammatik nicht über das nötige Repertoire, hinreichende Finesse. Da ist meist eine Sammlung an "Wäre es nicht cool, wenn..."-Ideen vorhanden, und die wird dann - ähnlich MADAME EDOUARD & INSPECTEUR LÉON - einfach brav vor einer Kamera ausagiert. In der Kunst ist aber nunmal der "Inhalt" (fast) nichts und die Ästhetik (fast) alles: Es gibt Regisseure, die können das Schmieren eines Marmaladenbrots aufregender inszenieren als andere das motorisierte Zersägen von 17 Zombies.

Und so lustig beispielsweise in MUCHA SANGRE die Szene ist, in der die drei "Helden" von Kopf bis Fuß mit literweise Blut besudelt sind, die eine von ihnen dann jedem ein Tempotaschentuch zum Saubermachen austeilt und nach einem kurzen Umschnitt alle wieder propperer, blitzblanker dastehen als der Weiße Riese: Zwischen solchen Bringern ist zuviel zäher Leerlauf. Und so glitt ich auch da nach ungefähr einer Stunde sanft in den Schlaf, tat ab und an ein prüfendes Äuglein auf, um dann z.B. einen abgetrennten Alien-Penis über die Leinwand wüten zu sehen, dachte mir: Auch gut. Und hatte nicht wirklich das Gefühl, dass da was war, was mich wach hätte halten sollen.

Der Kinoschlaf (über den, am Rande bemerkt, ein eigener Essay einmal Not täte) bedroht aber interessanterweise zu Festivalzeiten bevorzugt nicht nur den letzten, sondern auch den ersten Film des Tages - und das keineswegs nur bei den 9 Uhr-Vorstellungen der Berlinale. Irgendwie will sich da das Hirn anscheinend noch nicht an den Gedanken gewöhnen, dass es einen weiteren Tag seine angestammte Mütze voll Schlaf nicht bekommen soll und dafür extern mit (Leinwand-)Träumen versorgt wird. Das ist tendenziell noch nerviger als das Wegnicken bei den Spätvorstellungen, wo man ja wenigstens eh von vornherein damit rechnet und auch, nach getanem Kino-Tagwerk, eine gewisse Berechtigung dazu verspürt.
Aber dieser Dämmerzustand kann in seltenen Fällen auch produktive Wirkung zeigen, als da auf dem Fantasy Filmfest gewesen wäre Sogo Ishiis DEAD END RUN. Und der ist nun überhaupt ein tripartiges Cine-Poem, welches das Bewusstsein ohnehin in andere Sphären beamt. Ich habe selten im Kino erlebt, dass ein Film so nah an einem Äquivalent dran war zu dem, was für sprachliche Medien die Lyrik darstellt. Der "Gegenstand", das "Erzählte" (drei Episoden über fliehende Menschen) sind nur vages Rohmaterial für die ästhetische Beobachtung, welche keine Zwänge des gewöhnlichen Zeitflusses oder der "vernünftigen" narrativen Relevanz akzeptiert - Bild und Ton verselbständigen sich quasi, auf eine Weise, die noch viel radikaler ist als das "anything goes", das sich der Film auf inhaltlicher Ebene gönnt, wo z.B. plötzlich das Musical ausbricht, die Toten zu tanzen und singen anfangen; oder jegliche Identitäten porös werden, zerfließen, sich auflösen.
Der Film frisst sich vielmehr, mit einem wilden Freestyle-Mix der Filmformate, -qualitäten, -farben etc., mitunter in Bewegungen, Rhythmen, Texturen fest, kann beispielsweise Minuten damit verbringen, zwei mit gezückter Waffe gegenüberstehende Männer zu zeigen - wobei eben "zeigen" eigentlich das falsche Wort ist; wie einem Gedicht geht es ihm darum, an dieser Vorgabe, dieser Konstellation, alles mögliche zu entdecken; wie eine Jazz-Improvisation nimmt er dieses visuelle Thema als Sprungbrett für schwindelerregende Ausflüge.

Und dass mich bei diesem Film dann trotz standhafter Versuchen der Gegenwehr stellenweise ein übermüdungsbedingter Halbschlaf angefallen hat, der sekundenweise auch noch eigene Traumbilder in das delirierende Leinwandgeschehen interpoliert hat - das hat das Erlebnis nur noch gesteigert.

Thomas Willmann

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