Filmische Körperdiskurse am Fin de Siècle
Identitätsverluste, Auflösungen des menschlichen Körpers und das
Spiel mit Wirklichkeitsebenen sind offensichtlich beliebte
Filmstoffe des ausgehenden Jahrtausends. So überflutet die Kinos
momentan eine ganze Welle von Filmen, die sich mit Transformationen
des menschlichen Körpers und der menschlichen Realität – oder
dessen, was als solche wahrgenommen wird – befassen und diese zum
Teil philosophisch reflektieren.
Der Beobachter und die Wirklichkeit
Virtualität und die Vorsilbe "Cyber-" sind die
medienphilosophischen Lieblingsmetaphern unserer Zeit und so
verwundert es kaum, daß der Diskurs um reale versus virtuelle
Wirklichkeit auch in aktuellen Filmproduktionen aufgegriffen wird.
Die Bearbeitung dieses Themenkomplexes fällt freilich recht
unterschiedlich aus: "Dark City" (1998) von Alex Proyas illustriert
in kafkaesken Bildwelten die systematische Auslöschung der
menschlichen Erinnerungen durch eine außerirdische Kolonialmacht.
Peter Weirs "Truman Show", ebenfalls 1998 in die Kinos gekommen,
inszeniert die Radikalisierung des Reality-TVs und führt die
Faszination des Voyeuristischen vor, das irgendwo tief in uns allen
schlummert. Die Produktionen im Jahr 1999 befassen sich hingegen
unmittelbarer mit computergenerierten Cyberwelten. Den Anfang
machte hier "Matrix", der inzwischen schon in philosophischen
Kreisen (Sloterdijk und Co) diskutiert und auf diese Weise vom
Blockbuster zum interpretationswürdigen Kunstwerk geadelt wurde.
Hier ist es, vergleichbar mit "Dark City", nicht mehr nur ein
einzelner Mensch, wie z.B. der bemitleidenswerte Truman Burbank,
dem eine heile Welt vorgespiegelt wird, sondern gleich die gesamte
Menschheit, die – von ihren eigenen technischen Errungenschaften
versklavt – in einer künstlichen Welt ihr vermeintlich glückliches
Dasein fristet. Auch David Cronenberg jongliert in "eXistenZ" mit
verschiedenen Wirklichkeitsebenen zwischen künstlicher
Computerspielwelt und Realität, er integriert den Zuschauer in die
Erörterung der Frage: "Sind wir immer noch im Spiel?". Schließlich
folgt mit "The 13th Floor" ein High-Tech-Produkt, das mit enormen
Aufwand an Special Effects eher an oberflächlichen Reizen als an
philosophischer Tiefe interessiert ist.
Gemeinsames Handlungselement in allen aufgeführten Filmen ist
eine Befreiungs- bzw. Erlösungsgeschichte, wobei der Kampf für die
"Wahrheit" und für die Freiheit ganz im Zeichen europäischer
Denktraditionen steht. Anstatt konstruktivistisch zu argumentieren
und von der Vorstellung abzurücken, daß der Mensch über sein
Wahrnehmungssystem in unmittelbarem Kontakt zu der Außenwelt stehen
würde, suchen die Filmemacher vorsichtshalber den Ausweg im
Erlösermythos, teilweise unübersehbar mit religiöser Symbolik
angereichert, welche z.B. in "Matrix" inzwischen zur Genüge
nachgewiesen worden ist. Truman muß sich selbst aus seiner "Show",
seiner – allerdings nicht selbstverschuldeten – Unmündigkeit
befreien und als er endlich zum ersten Mal die "wirkliche" Welt
betritt, da jubeln ihm die Massen vor den Fernsehgeräten zu und
sind zu Tränen gerührt. Weltumspannende Sklaverei kann hingegen –
so zeigen es "Dark City" und "Matrix" – nur durch besonders
Auserwählte überwunden werden, denen der Blick über den eigenen
beschränkten Horizont vergönnt ist und die sich sogleich zur
Befreiung der Menschheit berufen fühlen.
Die verweltlichten Messias-Geschichten sind ebensowenig wirklich
neu wie die Auseinandersetzung mit Traum und Erinnerung versus
Realität, die einen weiteren inhaltlichen Kern der Filme ausmacht.
Marcel Proust schreibt am Anfang von "In Swanns Welt" (1913):
"Vielleicht beziehen die Dinge um uns ihre Unbeweglichkeit nur aus
unserer Gewißheit, daß sie es sind und keine anderen, aus der
Starrheit des Denkens, mit der wir ihnen begegnen." Diese Starrheit
des Denkens ist es, mit der die genannten Filme spielen und die uns
immer wieder in geschickt versteckte Wahrnehmungsfallen tappen
läßt. Denn letztlich ist Realität nichts anderes als die Auswahl
eines bestimmten Beobachterstandpunktes. Die Bindung des Geistes an
den schwerfälligen menschlichen Körper – der, wenn es nach den
Cyberpunks ginge, längst durch eine hochintelligente Maschine
ersetzt wäre – erschwert zweifellos die freie Auswahl eines solchen
Standpunktes. Die Vision des Verschwindens des Körpers wird in
"Matrix" zum Alptraum gewendet, die "wirklichen" menschlichen
Körper sind zu Stromlieferanten für die herrschende Klasse der
Maschinen degeneriert. Hier stellt sich am Ende doch die Frage, ob
die vorgegaukelte, heile Als-ob-Welt der Matrix nicht der
sogenannten Freiheit in der "Realität" einer total zerstörten,
postapokalyptischen Welt vorzuziehen wäre. Unterdrückung ist ja,
konstruktivistisch betrachtet, gar nicht existent, so lange sie
nicht wahrgenommen wird. Die angesprochenen Filme stellen sich
dezidiert gegen einen solchen Gedanken, sie sind geprägt von einem
modernen, der Aufklärung verpflichteten Subjektbegriff, der die
Mündigkeit und die "wahre" Freiheit des Individuums in das Zentrum
aller Überlegungen stellt. Bei aller technischen Perfektion und
vorgespielter Coolness bringen diese Filme – "eXistenZ" einmal
ausgenommen – keine neuen Ideen in das Gedankenspiel um die Frage,
was Wirklichkeit ist und was sie sein könnte. Vielmehr scheint die
William-Gibson-Rezeption einen neuen Höhepunkt erreicht zu haben,
wobei dessen Ideen in postmodernem Crossover mit
Hongkong-Killerfilm-Samples und anderen medialen Versatzstücken
gepaart werden.
Wer sich selbst finden will, muß sich zuerst selbst
verlieren
David Cronenberg wählt für "eXistenZ" kein typisches
Apokalypse-Szenario einer dunklen, dauerverregneten Großstadt. Sein
Interesse gilt einmal mehr der Transformation des menschlichen
Körpers, einem Thema, das er ausgehend von seinen frühen
Horrorfilmen bis zuletzt in "Crash" konsequent verfolgt hat.
Hiermit steht er freilich in gedanklicher Nähe zur
Cyberpunk-Philosophie, nur, daß er nicht lediglich den Mensch der
Maschine annähert, indem am Körper eine neue Schnittstelle
geschaffen wird, hier erhält plötzlich die Technologie selbst eine
organische Ebene. Cronenbergs Spielkonsole ist aus ampibischem
Gewebe erschaffen und wird statt Kabel mit einer Nabelschnur an den
sogenannten Bioport des menschlichen Körpers angeschlossen. Eine
solche Weiterentwicklung des Mensch-Maschine-Diskurses ist nur
folgerichtig, wenn man Wirklichkeit immer als von der Wahrnehmung
konstruiert annimmt, also sinnlich-körperlich. Die Verbindung der
Reflexion von Wirklichkeit mit der Reflexion des Körpers macht
insofern Sinn.
Die Postmoderne ist verbunden mit einer Rückeroberung der in der
Moderne verlorengegangenen Körperlichkeit durch eine sinnliche
Ästhetik. Elementarer Bestandteil der Jugendkultur ist
beispielsweise die "body manipulation" in Form von Tatoos,
Piercing, Branding usw., die mit Grenzüberschreitungen hin zu einer
Ästhetik des Häßlichen spielt und auf Körperkulte sowie rituelle
Praktiken von Naturvölkern verweist. Der Schmerz scheint bei der
Vergewisserung der Existenz eines eigenen Körpers eine wichtige
Rolle zu spielen, was auch in "Fight Club" zu einer zentralen
Botschaft verdichtet wird. David Fincher liefert hier eine brillant
inszenierte Infragestellung des Konsumuniversums, das von vielen
Menschen mittlerweile unreflektiert für die einzig richtige
Realität gehalten wird. Bemerkenswerterweise führt der Weg zurück
zum Ich über den Körper, dem im nächtlichen Fight Club nach allen
Regeln der Kunst Verwundungen zugefügt werden. Das Verbot, über die
Existenz eines solchen Clubs in der Öffentlichkeit zu sprechen,
verleiht den nächtlichen Kämpfen eine zusätzliche Faszination und
schafft so etwas wie eine eigene Wirklichkeitsebene. Leider wird
die Geschichte am Ende durch die Auflösung des
Spannungsverhältnisses der Protagonisten in Form der rationalen
Erklärung der Schizophrenie etwas verwässert. Trotzdem ist "Fight
Club" einer der interessantesten Filme dieses Jahres.
So wünscht man sich nach diesem von Spielen mit der Wirklichkeit
geprägten Kinojahr noch mehr Kreativität und Mut auf Seiten der
Filmemacher und Studios. Immerhin, ein Anfang ist gemacht.
Michael
Staiger
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