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23.12.1999
 
 
   
 

Transformationen der Wirklichkeit

 
Wer behauptet hier, wir wären nicht real?
     
 
 
 
 

Filmische Körperdiskurse am Fin de Siècle

Identitätsverluste, Auflösungen des menschlichen Körpers und das Spiel mit Wirklichkeitsebenen sind offensichtlich beliebte Filmstoffe des ausgehenden Jahrtausends. So überflutet die Kinos momentan eine ganze Welle von Filmen, die sich mit Transformationen des menschlichen Körpers und der menschlichen Realität – oder dessen, was als solche wahrgenommen wird – befassen und diese zum Teil philosophisch reflektieren.

Der Beobachter und die Wirklichkeit

Virtualität und die Vorsilbe "Cyber-" sind die medienphilosophischen Lieblingsmetaphern unserer Zeit und so verwundert es kaum, daß der Diskurs um reale versus virtuelle Wirklichkeit auch in aktuellen Filmproduktionen aufgegriffen wird. Die Bearbeitung dieses Themenkomplexes fällt freilich recht unterschiedlich aus: "Dark City" (1998) von Alex Proyas illustriert in kafkaesken Bildwelten die systematische Auslöschung der menschlichen Erinnerungen durch eine außerirdische Kolonialmacht. Peter Weirs "Truman Show", ebenfalls 1998 in die Kinos gekommen, inszeniert die Radikalisierung des Reality-TVs und führt die Faszination des Voyeuristischen vor, das irgendwo tief in uns allen schlummert. Die Produktionen im Jahr 1999 befassen sich hingegen unmittelbarer mit computergenerierten Cyberwelten. Den Anfang machte hier "Matrix", der inzwischen schon in philosophischen Kreisen (Sloterdijk und Co) diskutiert und auf diese Weise vom Blockbuster zum interpretationswürdigen Kunstwerk geadelt wurde. Hier ist es, vergleichbar mit "Dark City", nicht mehr nur ein einzelner Mensch, wie z.B. der bemitleidenswerte Truman Burbank, dem eine heile Welt vorgespiegelt wird, sondern gleich die gesamte Menschheit, die – von ihren eigenen technischen Errungenschaften versklavt – in einer künstlichen Welt ihr vermeintlich glückliches Dasein fristet. Auch David Cronenberg jongliert in "eXistenZ" mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen zwischen künstlicher Computerspielwelt und Realität, er integriert den Zuschauer in die Erörterung der Frage: "Sind wir immer noch im Spiel?". Schließlich folgt mit "The 13th Floor" ein High-Tech-Produkt, das mit enormen Aufwand an Special Effects eher an oberflächlichen Reizen als an philosophischer Tiefe interessiert ist.

Gemeinsames Handlungselement in allen aufgeführten Filmen ist eine Befreiungs- bzw. Erlösungsgeschichte, wobei der Kampf für die "Wahrheit" und für die Freiheit ganz im Zeichen europäischer Denktraditionen steht. Anstatt konstruktivistisch zu argumentieren und von der Vorstellung abzurücken, daß der Mensch über sein Wahrnehmungssystem in unmittelbarem Kontakt zu der Außenwelt stehen würde, suchen die Filmemacher vorsichtshalber den Ausweg im Erlösermythos, teilweise unübersehbar mit religiöser Symbolik angereichert, welche z.B. in "Matrix" inzwischen zur Genüge nachgewiesen worden ist. Truman muß sich selbst aus seiner "Show", seiner – allerdings nicht selbstverschuldeten – Unmündigkeit befreien und als er endlich zum ersten Mal die "wirkliche" Welt betritt, da jubeln ihm die Massen vor den Fernsehgeräten zu und sind zu Tränen gerührt. Weltumspannende Sklaverei kann hingegen – so zeigen es "Dark City" und "Matrix" – nur durch besonders Auserwählte überwunden werden, denen der Blick über den eigenen beschränkten Horizont vergönnt ist und die sich sogleich zur Befreiung der Menschheit berufen fühlen.

Die verweltlichten Messias-Geschichten sind ebensowenig wirklich neu wie die Auseinandersetzung mit Traum und Erinnerung versus Realität, die einen weiteren inhaltlichen Kern der Filme ausmacht. Marcel Proust schreibt am Anfang von "In Swanns Welt" (1913): "Vielleicht beziehen die Dinge um uns ihre Unbeweglichkeit nur aus unserer Gewißheit, daß sie es sind und keine anderen, aus der Starrheit des Denkens, mit der wir ihnen begegnen." Diese Starrheit des Denkens ist es, mit der die genannten Filme spielen und die uns immer wieder in geschickt versteckte Wahrnehmungsfallen tappen läßt. Denn letztlich ist Realität nichts anderes als die Auswahl eines bestimmten Beobachterstandpunktes. Die Bindung des Geistes an den schwerfälligen menschlichen Körper – der, wenn es nach den Cyberpunks ginge, längst durch eine hochintelligente Maschine ersetzt wäre – erschwert zweifellos die freie Auswahl eines solchen Standpunktes. Die Vision des Verschwindens des Körpers wird in "Matrix" zum Alptraum gewendet, die "wirklichen" menschlichen Körper sind zu Stromlieferanten für die herrschende Klasse der Maschinen degeneriert. Hier stellt sich am Ende doch die Frage, ob die vorgegaukelte, heile Als-ob-Welt der Matrix nicht der sogenannten Freiheit in der "Realität" einer total zerstörten, postapokalyptischen Welt vorzuziehen wäre. Unterdrückung ist ja, konstruktivistisch betrachtet, gar nicht existent, so lange sie nicht wahrgenommen wird. Die angesprochenen Filme stellen sich dezidiert gegen einen solchen Gedanken, sie sind geprägt von einem modernen, der Aufklärung verpflichteten Subjektbegriff, der die Mündigkeit und die "wahre" Freiheit des Individuums in das Zentrum aller Überlegungen stellt. Bei aller technischen Perfektion und vorgespielter Coolness bringen diese Filme – "eXistenZ" einmal ausgenommen – keine neuen Ideen in das Gedankenspiel um die Frage, was Wirklichkeit ist und was sie sein könnte. Vielmehr scheint die William-Gibson-Rezeption einen neuen Höhepunkt erreicht zu haben, wobei dessen Ideen in postmodernem Crossover mit Hongkong-Killerfilm-Samples und anderen medialen Versatzstücken gepaart werden.

Wer sich selbst finden will, muß sich zuerst selbst verlieren

David Cronenberg wählt für "eXistenZ" kein typisches Apokalypse-Szenario einer dunklen, dauerverregneten Großstadt. Sein Interesse gilt einmal mehr der Transformation des menschlichen Körpers, einem Thema, das er ausgehend von seinen frühen Horrorfilmen bis zuletzt in "Crash" konsequent verfolgt hat. Hiermit steht er freilich in gedanklicher Nähe zur Cyberpunk-Philosophie, nur, daß er nicht lediglich den Mensch der Maschine annähert, indem am Körper eine neue Schnittstelle geschaffen wird, hier erhält plötzlich die Technologie selbst eine organische Ebene. Cronenbergs Spielkonsole ist aus ampibischem Gewebe erschaffen und wird statt Kabel mit einer Nabelschnur an den sogenannten Bioport des menschlichen Körpers angeschlossen. Eine solche Weiterentwicklung des Mensch-Maschine-Diskurses ist nur folgerichtig, wenn man Wirklichkeit immer als von der Wahrnehmung konstruiert annimmt, also sinnlich-körperlich. Die Verbindung der Reflexion von Wirklichkeit mit der Reflexion des Körpers macht insofern Sinn.

Die Postmoderne ist verbunden mit einer Rückeroberung der in der Moderne verlorengegangenen Körperlichkeit durch eine sinnliche Ästhetik. Elementarer Bestandteil der Jugendkultur ist beispielsweise die "body manipulation" in Form von Tatoos, Piercing, Branding usw., die mit Grenzüberschreitungen hin zu einer Ästhetik des Häßlichen spielt und auf Körperkulte sowie rituelle Praktiken von Naturvölkern verweist. Der Schmerz scheint bei der Vergewisserung der Existenz eines eigenen Körpers eine wichtige Rolle zu spielen, was auch in "Fight Club" zu einer zentralen Botschaft verdichtet wird. David Fincher liefert hier eine brillant inszenierte Infragestellung des Konsumuniversums, das von vielen Menschen mittlerweile unreflektiert für die einzig richtige Realität gehalten wird. Bemerkenswerterweise führt der Weg zurück zum Ich über den Körper, dem im nächtlichen Fight Club nach allen Regeln der Kunst Verwundungen zugefügt werden. Das Verbot, über die Existenz eines solchen Clubs in der Öffentlichkeit zu sprechen, verleiht den nächtlichen Kämpfen eine zusätzliche Faszination und schafft so etwas wie eine eigene Wirklichkeitsebene. Leider wird die Geschichte am Ende durch die Auflösung des Spannungsverhältnisses der Protagonisten in Form der rationalen Erklärung der Schizophrenie etwas verwässert. Trotzdem ist "Fight Club" einer der interessantesten Filme dieses Jahres.

So wünscht man sich nach diesem von Spielen mit der Wirklichkeit geprägten Kinojahr noch mehr Kreativität und Mut auf Seiten der Filmemacher und Studios. Immerhin, ein Anfang ist gemacht.

Michael Staiger

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