Das 14. Münchner Dokumentarfilmfestival, das am 9.5. endete,
hatte trotz ausgiebiger und wohlwollender Berichterstattung der
Medien, wie üblich eine eher verhaltene Aufmerksamkeit - zumindest
im Vergleich zum Filmfest München - erregt. Kein Wunder,
könnte man meinen, da auch im restlichen Jahr von der Vielzahl der
gedrehten Dokumentarfilme nur ein gutes Dutzend (wovon wiederum die
Hälfte Musikdokus wie BLUE NOTE, A TICKLE IN THE HEART oder zuletzt
LAGRIMAS NEGRAS sind) den Weg in die einschlägigen Programmkinos
schafft.
Es gilt offensichtlich die Ansicht, daß Dokumentarfilme nur von
einer winzigen, wenig lukrativen Randgruppe geschätzt werden,
weshalb es Verleihfirmen im Zweifelsfall vorziehen, einen
unbekannten amerikanischen Independentfilm ins Rennen zu schicken
und auf ein kleines Wunder zu hoffen, als sich mit dem Verleih
einer Dokumentation in den scheinbar sicheren Verlust zu stürzen.
Betrachtet man die tatsächlichen Einspielergebnisse der
wenigen im Kino laufenden Dokus, so wird das Verhalten der
Verleiher irgendwie verständlicher, während die Verantwortung für
diese Misere immer mehr in Richtung der Zuschauer rückt; doch
gerade das verwundert.
Eine alte Hollywoodweisheit besagt, daß Frau X, nach ihrer Arbeit
in der Fabrik, im Kino keine Frau X bei der Arbeit in einer Fabrik
sehen will. Hundertprozentig hat diese Aussage noch nie gestimmt,
doch mittlerweile wird sie von der Realität täglich widerlegt.
Denn gerade das krankhafte Bedürfnis der Zuschauer nach echten
Gefühlen und wahren Geschichten, produziert eine voyeuristische
Medienwelt, die seinerseits zum Lieblingsthema des Kinos avanciert
(siehe u.a. DIE TRUMAN SHOW, LATE SHOW, SITCOM). Warum, so
frage ich mich deshalb, sitzen die Menschen vor dem Fernseher, um
darin die Realität, in der sie täglich leben, zu beobachten,
während sie im Kino nur das Künstliche und Erfundene sehen wollen ?
Warum erzeugt bei den Zuschauern ein Satz wie "Dieser Film beruht
auf einer wahren Geschichte" einen wohligen Schauer, während die
Darstellung der echten Umstände in einem Dokumentarfilm die Leute
abschreckt ?
Noch unverständlicher wird die Ablehnung des Dokumentarfilms,
wenn man ihm sein literarisches Pendant, das Sachbuch,
gegenüberstellt. Der Markt der Sachbücher wächst unvermindert an,
selbst Bücher zu schwierigen Wissenschaften wie Quantenmechanik
oder Astrophysik erreichen erstaunliche Auflagen und gefällig
gemachte Abhandlungen zu Themen wie Verschwörungen, Wissen- und
Wirtschaftsskandalen oder Geschichtsirrtümer verkaufen sich ähnlich
gut wie die Romane von Grisham und Co. Im Gegensatz zu jedem
anderen Bestseller kommt im Fall von erfolgreichen Sachbüchern
jedoch kaum jemand auf die Idee, sie zu verfilmen, weshalb der Film
zu Stephen Hawkings EINE KURZE GESCHICHTE DER ZEIT von Errol Morris
eine der seltenen Ausnahmen bleibt.
Ich kann mir deshalb die Erfolglosigkeit der Dokumentarfilme nur
noch durch eine Traumatisierung der Kinogänger während ihrer
Schulzeit erklären. Wer jemals im Biologieunterricht einen Lehrfilm
über das nicht besonders schillernden Leben der Eulen ertragen
mußte, oder in Geschichte die Trilogie FRANZÖSISCHER MERKANTILISMUS
I - III sah, weiß, wovon ich rede.
Michael Haberlander
P.S.: Und dennoch kommen wieder Dokus, die auf dem Festival
liefen, auch in die Kinos. Dazu zählt neben Kopfleuchten, der im
Maxim zu sehen ist, auch Kurt Gerrons Karussel, der im Rottmann und Isabella gezeigt
wird!
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