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Die neue Mitte: Notizen von der Berlinale

  11.02.1999
 
 
 
 

1.Folge: 10.2.99

Nebel liegt über Berlin, dahinter ist eine dunstige Sonne mehr zu erahnen, als zu sehen. Gestern hat es geschneit. Der rote Teppich vor dem Zoo-Palast ist ausgerollt, und alles scheint wie immer: Heute Abend geht's los mit der Berlinale, pardon, den "Internationalen Berliner Filmfestspielen". Aber es ist das letzte Mal, daß die alles hier in den 50er-Jahre-Kinos rund um den Bahnhof Zoo stattfindet. Nächstes Jahr liegt der rote Teppich vor einem Multiplex irgendwo auf dem Potsdamer Platz, und es wird Jahre dauern, bis dort eine ähnliche Atmosphäre entsteht, wie sie hier herrscht. Aber nein, bitte kein Abgesang schon zu Beginn, jetzt heißt es erst einmal 12 Tage lang Kino total. Und ab!
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Zur Eröffnung des Wettbewerbs zeigt man nach langer Zeit wieder einen deutschen Film: "Aimée & Jaguar", die Geschichte einer lesbischen Liebe im III.Reich. Verfilmt hat sie Max Färberböck, den man bisher nur als Regisseur der zwei ersten "Bella Block"-Krimis kennt, die immerhin zum Besten gehörten, was an deutschen Fernsehkrimis in den letzten Jahren zu sehen war. Maria Schrader, Juliane Köhler und Heike Makatsch spielen die Hauptrollen. Mal abwarten, was der Film bietet, aber ein peinlicher Reinfall wie im letzten Jahr mit Michael Gwiesdecks "Mambospiel" ist nicht zu befürchten.
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Einer der ersten Eindrücke bei der Ankunft in Berlin: Polizei, die am Bahnhof Zoo ein paar Skinheads filzt, daneben brave Jugendliche, die offenbar von den Skins belästigt wurden. Nicht nur deswegen scheint wieder einmal alles wilder, als anderswo in der Hauptstadt. Ausgerechnet heute steht eine Umfrage in der taz: "Wie gefährlich ist Berlin?" Die Polit-Prominenz diskutiert derweil lieber übers Stadtschloß. Lang genug hat die westberliner Preußen-Lobby am Wiederaufbau gearbeitet, jetzt mit neuer Regierung scheint der Deal a la "Ihr kriegt das Schloß und wir das Holocaust-Mahnmal" schnell eingefädelt zu werden.
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Der Kritiker einer Berliner Tageszeitung, der die vergangene Berlinale mit der Schlagzeile "Filmfestspiele - die große Illusion" eröffnete, trotzdem jeden Tag seine 200 Zeilen schrieb, und zum Abschluß nicht über die großartigen Filme sondern über die "Erosion des Festivals hinter den Kulissen" schrieb, meint heute, die Berlinale gehöre "in die neue Berliner Mitte". Warum eigentlich ? Die Frage sollte doch sein, wie man das Festival verbessert. Und ob es dem guttut, wenn sich alle an sterilem Ort versammeln, wo es ein einzige Café gibt, in dem schon ein Wasser 5.50 kostet, bleibt anzuwarten. Die "neue Berliner Mitte" ist genauso steril und virtuell wie Schröders "neue Mitte", ein Propagandakonstrukt, gut um es auf Plakate zu kleben, aber schlecht, um Inhalte zu beschreiben.
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Schröder kommt natürlich auch. Heute Abend eröffnet er den Eröffungsfilm, begleitet von seinem Kulturstaatsminister Naumann. Bisher kam immer der Innenminister. Aber auch wenn Kanther fast wie ein Filmstar aussah, mit innerer Sicherheit haben Filme doch eher wenig zu tun. Immerhin also ein kleiner Fortschritt, und mit der Präsenz des Kanzlers eine Geste.
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Die Retrospektiven gelten Shirley MacLaine und Otto Preminger. Wieder, wie in den letzten Jahren, sind die Geschlechterollen eindeutig verteilt: Männer machen Filme, und Frauen machen sie schön. Trotzdem eine gute Wahl: Man kann all' die ausgezeichneten 50er Jahre-Filme sehen, in der Shirley MacLaine jung und intensiv ist, nicht so latent überspannt wie seit Mitte der 70er. Wie viele gute Rollen sie hatte, und mit welcher schauspielerischen Spannbreite sie auftritt, das merkt man erst an der geballten Menge der Filme, die hier gezeigt werden. Und mit Preminger setzt die Berlinale ihre Tradition fort, dem Kino der Emigranten nachzuspüren. Wieder einer, der aus Europa vertrieben wurde, und in Hollywood dem US-Kino eine ganz persönliche, in diesem Fall im Wien der Jahrhundertwende wurzelnde, Note gab.
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"Hierarchie respektieren, Pyramide" sagte Moritz de Hadeln, der unvergleichliche Festivalchef, unvermittelt im Vorbeigehen zum Wartenden, und formte dazu mit den Händen ein Dreick, dessen obere Spitze wohl ihn selbst zeigen sollte. Ab heute wird de Hadeln wieder von den Berliner Presse für alle tatsächlichen oder vermeintlichen Fehler verantwortlich gemacht werden. Anders als mit Dickfälligkeit ließe sich die oft unfaire Dauerkritik der 6 Tageszeitungen gar nicht überstehen. Trotzdem hat de Hadeln seinen ganz eigenen Schalk.
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Maria Schrader bestand auf einer Suite im Kempinski. Zu hören ist auch, daß der gesamte Zeitplan des Eröffnungsabends danach gestaltet wurde, daß die Dame Gelegenheit erhält, regelmäßig ihr Baby zu stillen. Auch Senator-Film, der Verleih von "Aimée & Jaguar" hat offenbar seine Allüren: 157 Karten wollte man ursprünglich für die Eröffnungsvorstellung, normal ist es, dem Verleih ca. 20 Karten zur Verfügung zu stellen. Weil Schröder da ist muß auch ein gewisses Gefolge bedient werden. Jetzt sind es für den Verleih rund 50 Karten geworden, Glück für Nick Nolte, der auch noch eine bekam, und somit die seltene Gelegenheit erhält, einmal einen deutschen Film anzugucken. Ob er das wohl zu schätzen weiß ?
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Es gibt sehr verschiedene Arten, seinen Presseausweis zu tragen. Die einen clipsen ihn vorschriftsmäßig mit einer kleinen Plastikhalterung -wie sie auch Tagungsredner auf Konferenzen für ihre Namensschilder erhalten- an ihre Hemdtasche oder die Außenseite ihres Jackets. Ein bißchen sehen sie jetzt aus, wie Sicherheitsbeamte in Hollywoodfilmen, es fehlt nur die Minokopfhörer im rechten Ohr. Aber die meisten sind dann doch zu filmkritikerlike, um wirklich als Gorillas durchzugehen. Den Ausweis so offen zu tragen, hat den Nebeneffekt, daß man sofort als Akkreditierter erkannt wird. Diejenigen, die gern als Mr. Wichtig auftreten, bevorzugen diese Tragweise. Eine andere Form ist der "Straßen von San Francisco-Stil": Man hat den Ausweis (ohne Plastikhalterung) in der Brieftasche, und zwar hinter dem kleinen Sichtfenster. Entscheidend ist nun die Handbewegung hinter der man jedesmal, wenn der Ausweis vorgezeigt werden muß -also mindestens 10 Mal am Tag-, in die Jackentasche greift, und im Herausziehen schon die Brieftasche schnittig per Handgelenksschwung aufklappt: "Guten Tag, Inspektor Steve Heller, Mordkommission" ist jetzt allerdings nicht zu hören, sondern stumm, und geschäftig starr geradeaus blickend, eilt der Kritiker an den Kontrolleuren vorbei. Die dritte Variante ist eher der Columbo-Stil: Der Kritiker hat den chequekartenartigen Presseausweis irgendwo in Mantel, Jacke, Hemd oder Hose verstaut und sucht ihn unter dem strengen Blick des Kontrolleurs zunächst vergeblich. Irgendwann taucht er dann auf, zusammen mit einer Zigarettenschachtel, aus der die Zigaretten zu Boden fallen, oder mit Kaugummipapier oder mit benutzten Papieraschentüchern. KritikerInnen haben aus irgendeinem Grund den speziellen Stil entwickelt, ihre Akkreditierung (mit angebrachter, aber nicht angeknüpfter Halterung) in der -nein, nicht Handtasche, sondern- äußeren Jackentasche aufzubewahren, und dann bereits zweihundert Meter vor dem Kino in der Hand zu halten.
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Eine Beobachtung gestern Nachmittag: In dem großen Konferenzsaal des "Hotel Intercontinental", indem in den folgenden zwei Wochen die Haupt-Pressekonferenzen stattfinden, findet eine Licht- und Tonprobe statt. Am Tisch vor dem Mikrophon sitzen zwei junge Mitarbeiterinnen und sprechen hinein:"Ich will in der Öffentlichkeit immer nur die Wahrheit sagen." Die Umstehenden lachen. Was wird nicht alles gelogen werden in den nächsten Tagen...
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Neben Wettbewerb und Retrospektive liegt der eigentliche Reiz des Festivals in jenen unzähligen Filmen, die man in den Panorama-Reihen und im Forum zu sehen bekommt, und die meisten von ihnen dann nie wieder. Ein Klassiker ist der Spätfilm, der im alten delphi-Filmpalast um Mitternacht gezeigt wird, und meistens modern geschnittene Action bietet, damit keiner einschläft. Waren da im vergangenen Jahr viele Japaner zu sehen, finden sich im Programm diesmal drei Chinesen und ein koreanischer Film. Der erste morgen Abend heißt vielversprechend: "The Hitman". Man darf gespannt sein.
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Heute ziemlich früh -also vor 9- mit der U-Bahn unterwegs in den Osten, wo Berlins Mitte liegt. Beim Einsteigen am Wittenbergplatz typischer Berufsverkehr, alles ist viel voler, als tagsüber, andere Gesichter als man sie auf dem Festival sehen wird. Die meisten dieser Menschen sehen die Berlinale nur von Außen, kaum einer wird einen Festivalfilm besuchen. Die Berlinale, es hilft nichts, ist eine elitäre Veranstaltung und in erster Linie für die Filmbranche gedacht, zu der irgendwie, auf merwürdige Art auch wir Kritiker gehören. Und für ein paar Studenten und jene "Cineasten", die 5 Stunden, 40 Minuten anstehen, um "Aimée & Jaguar" in der zweiten Vorstellung auf der Berlinale zu sehen. Aber die sind dann auch nicht sympathischer, als jene Wagnerianer, die die gleiche Zeit in Bayreuth auf eine Stehplatz für die "Götterdämmerung" warten. Und dies kann man sogar noch besser verstehen, den die "Götterdämmerung" startet nicht zwei Wochen später deutschlandweit. Auf meine Frage, ob solche Fans spinnen, oder ob von ihrem Enthusiasmus vielleicht das Kino erst zu leben beginnt, meinte eine Freundin: "Weder noch, die sind einfach arbeitslos".
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Am Nachmittag lief "Aimée & Jaguar" in der Pressevorführung. Der Film überrascht positiv. Ein wenig kleines Fernsehspiel zwar, aber alles in allem in Ordnung. Gute Schauspieler, eine interessante Geschichte, ohne Peinlichkeiten - das ist schon eine Menge. Eigentlich sonderbar, daß der Film bisher noch nicht ans Fernsehen verkauft wurde. Im Vorfeld hatten das einige als Indiz für mangelnde Qualität angeführt. Irrtum. Das Resultat macht jene oben erwähnten Geschichten vergessen, die man aus dem Umfeld über die angeblich so zickigen Maria Schrader und Juliane Köhler hören konnte. "Nie wieder ein deutscher Eröffnungsfilm" hatte es aus Berlinale-Kreisen unter der Hand geheißen. Vielleicht überlegt man es sich ja nochmal.
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Den Wettbewerb gewinnen dürften trotzdem andere. "The thin red line" wird von einem Luxenburger Kollegen als Favorit gehandelt. Wer ihn schon vor dem Festival sehen konnte, versteht warum: Ein Antipode zu Spielbergs "Saving Private Ryan", der ebenfalls US-Soldaten im 2.Weltkrieg schildert, und den Krieg mit Härte, aber nicht ohne versteckte Verklärung zeigt. Trotzdem ist der Unterschied riesig, und Regisseur Terrence Malick gelingen großartige Athmosphären und Bilder, die an den frühen Nicholas Roeg erinnern. "Shakespeare in Love" läuft auch, ein Film ohne echte Schwächen. Warum er kürzlich mit mehreren "Golden Globes" überhäuft wurde, läßt sich trotzdem nur mit dem Charme von Gwynneth Paltrow erklären. Aber die Erfahrung zeigt, daß die ganz großen Favoriten und das US-Kino besonders, hier meist leer ausgehen. Also vielleicht Ann Hui mit "Alltägliche Helden", der, wie bei chinesischen Filmen hier leider die Regel, ganz früh, in der ersten Vorstellung um 9.00 läuft. Das Programm jedenfalls scheint zwar geringfügig schwächer als imVorjahr, aber gleichwohl verlockend. Und in den letzten beiden Jahren bot die Berlinale alles in allem bereits ziemlich genau das, was dann das gesammte Filmjahr prägen sollte. Hoffen wir also, und rechnen wie in jedem Jahr mit Überraschungen.

(Fortsetzung folgt)

RüdigerSuchsland
 

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