KINO MÜNCHEN FILM AKTUELL ARCHIV FORUM LINKS SITEMAP
12.09.1996
 
 
   
 

Zum 49. Mal Locarno
viele Filme, ein paar Preise und die moderne Zeit

 
Die Piazza in Locarno
     
 
 
 
 

Für elf Tage im August nimmt der Film sein Hauptquartier im Verwaltungsgebäude eines Elektrizitätswerkes. Das paßt nicht schlecht im einhundertundersten Jahr nach der Präsentation des Kinematographen der Gebrüder Lumière, den "Licht-Brüdern". Ohne Strom wäre Kino wahrscheinlich nie über die Laterna Magica hinausgewachsen. Die "Società Elettrica Sopracenerina", Betreiberin einiger Wasserkraftwerke im nördlichen Tessin, besitzt einen stilvollen Palazzo aus dem 19. Jahrhundert, der dem zentralen Platz Lorcarnos, der "Piazza Grande", die beherrschende Fassade beisteuert. Die "Piazza Grande" ist auch das Freilichtkino des Festivals, ein Oval, abgeschlossen gegen Nordosten durch die Leinwand, die 26 m x 14 m groß ist. Ich kenne kein schöneres Kino auf der Welt, vorausgesetzt, der Abend ist mild und man wird nicht vom Regen überrascht.

Es gab Veränderungen in den letzten Jahren: das Format der Leinwand wechselte vom Cinemascope zum Verhältnis 1:1,85, die Mode oder der technische Fortschritt der sechziger Jahre hat sich überlebt, ist bedeutungslos geworden wie eine Mondlandung. Dafür wurde, wie es heißt, der Ton verbessert. Mich allerdings irritiert es eher, wenn Stimmen und Geräuschen sich meinem Ohr von der Seite nähern, aus einem Bankgebäude kommen, anstatt aus der Leinwand zu treten. Es ä ndert sich auch die Atmosphäre des nächtlichen Platzes: Privatwohnungen weichen Büros, es sitzen keine Menschen mehr auf den Balkons, um den Filmvorführungen als Zaungäste beizuwohnen, sich dafür entschädigend, fast zwei Wochen lang keine ruhige Nacht zu haben. Seltsam stumm und mit geschlossenen Augen umstehen die Gebäude den Platz (nur das Quäken der Lautsprecheranlage von ihrer Fassade läßt sie als Medium erscheinen, das nicht verantwortlich ist f& uuml;r das, was aus seinem Munde verkündet wird).

In den alten, aber schweizerisch akkurat renovierten Palazzi verknüpfen sich die Netzwerke der Gegenwart: Stromleitungen und Glasfaserkabel verbinden zu Videokonferenzen, Doppelklicks auf Benutzeroberflächen verschieben Geldwerte über die ganze Welt: es sind Banken und Versicherungen, seltener noch Handelshäuser, die auf "Piazza Grande" ihre Dependancen unterhalten, die im Gewand der Moderne stecken: ein dünnes Hemd idyllischer Fassaden. Die Fenster sind abgeschottet durch län gsseitige Kunststofflamellen, oben und unten von einem Plastikkettchen geführt, verstellbar, damit es möglich ist, nach außen zu sehen, aber nicht eingesehen zu werden, oder dicht geschlossen, ein grauer Raum, ein neutralisierter Arbeitsplatz in dem sich Halogenlicht in schattenloser Gleichmäßigkeit ausbreiten kann. Um Welt in das Büro zu leiten, ist es notwendig, das Büro aus der Welt zu entfernen, und so erfüllt die Leinwand draußen auf dem Platz wenigstens für wenige Tage im Jahr die Aufgabe, Welt, die sich auf computerlesbare Daten verengte, in größerem Maßstab und als bewegte Bilder nach Locarno zu holen. Aber sind sie noch gesättigt von Welt, die Filme, die dort zu sehen waren?

Matthias Mersch

Weitere Artikel zu Locarno:

Veränderungen des Wettbewerbsmodus

"Lost Book Found"

"Obsessive Becoming"

Die Verleihung des Publikums-Leoparden an "Microcosmos"

  top
   
 
 
[KINO MÜNCHEN] [FILM AKTUELL] [ARCHIV] [FORUM] [LINKS] [SITEMAP] [HOME]