Für elf Tage im August nimmt der Film sein Hauptquartier im
Verwaltungsgebäude eines Elektrizitätswerkes. Das paßt nicht
schlecht im einhundertundersten Jahr nach der Präsentation des
Kinematographen der Gebrüder Lumière, den "Licht-Brüdern". Ohne
Strom wäre Kino wahrscheinlich nie über die Laterna Magica
hinausgewachsen. Die "Società Elettrica Sopracenerina", Betreiberin
einiger Wasserkraftwerke im nördlichen Tessin, besitzt einen
stilvollen Palazzo aus dem 19. Jahrhundert, der dem zentralen Platz
Lorcarnos, der "Piazza Grande", die beherrschende Fassade
beisteuert. Die "Piazza Grande" ist auch das Freilichtkino des
Festivals, ein Oval, abgeschlossen gegen Nordosten durch die
Leinwand, die 26 m x 14 m groß ist. Ich kenne kein schöneres Kino
auf der Welt, vorausgesetzt, der Abend ist mild und man wird nicht
vom Regen überrascht.
Es gab Veränderungen in den letzten Jahren: das Format der
Leinwand wechselte vom Cinemascope zum Verhältnis 1:1,85, die Mode
oder der technische Fortschritt der sechziger Jahre hat sich
überlebt, ist bedeutungslos geworden wie eine Mondlandung. Dafür
wurde, wie es heißt, der Ton verbessert. Mich allerdings irritiert
es eher, wenn Stimmen und Geräuschen sich meinem Ohr von der Seite
nähern, aus einem Bankgebäude kommen, anstatt aus der Leinwand zu
treten. Es ä ndert sich auch die Atmosphäre des nächtlichen
Platzes: Privatwohnungen weichen Büros, es sitzen keine Menschen
mehr auf den Balkons, um den Filmvorführungen als Zaungäste
beizuwohnen, sich dafür entschädigend, fast zwei Wochen lang keine
ruhige Nacht zu haben. Seltsam stumm und mit geschlossenen Augen
umstehen die Gebäude den Platz (nur das Quäken der
Lautsprecheranlage von ihrer Fassade läßt sie als Medium
erscheinen, das nicht verantwortlich ist f& uuml;r das, was aus
seinem Munde verkündet wird).
In den alten, aber schweizerisch akkurat renovierten Palazzi
verknüpfen sich die Netzwerke der Gegenwart: Stromleitungen und
Glasfaserkabel verbinden zu Videokonferenzen, Doppelklicks auf
Benutzeroberflächen verschieben Geldwerte über die ganze Welt: es
sind Banken und Versicherungen, seltener noch Handelshäuser, die
auf "Piazza Grande" ihre Dependancen unterhalten, die im Gewand der
Moderne stecken: ein dünnes Hemd idyllischer Fassaden. Die Fenster
sind abgeschottet durch län gsseitige Kunststofflamellen, oben und
unten von einem Plastikkettchen geführt, verstellbar, damit es
möglich ist, nach außen zu sehen, aber nicht eingesehen zu werden,
oder dicht geschlossen, ein grauer Raum, ein neutralisierter
Arbeitsplatz in dem sich Halogenlicht in schattenloser
Gleichmäßigkeit ausbreiten kann. Um Welt in das Büro zu leiten, ist
es notwendig, das Büro aus der Welt zu entfernen, und so erfüllt
die Leinwand draußen auf dem Platz wenigstens für wenige Tage im
Jahr die Aufgabe, Welt, die sich auf computerlesbare Daten
verengte, in größerem Maßstab und als bewegte Bilder nach Locarno
zu holen. Aber sind sie noch gesättigt von Welt, die Filme, die
dort zu sehen waren?
Matthias Mersch
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