31.05.2012
65. Filmfestspiele Cannes 2012

Aaaah die Priester...

Amour
Michael Hanekes Amour: die Gesichter erzählen alles, was hier geschieht
(Foto: X Verleih AG / Warner Bros. Entertainment GmbH)

Der Ernst des Lebens, postapokalyptische Partys und existentielles Kino von Haneke, Trapero, Franco – Cannes-Tagebuch, 2. Folge: Samstag, Sonntag, Montag

Von Rüdiger Suchsland

»Keine Ahnung, wer das in die Welt gesetzt hat, viel­leicht warst es ja Du«, sagte Nick James zu mir auf dem netten Empfang des Film­fes­ti­vals von Locarno am Sonn­tag­nach­mittag, »aber in letzter Zeit ist viel von einer gewissen Tendenz zur Arthouse-Exploita­tion die Rede. Ich finde, da ist einiges dran.« Nick ist leitender Redakteur der ganz tollen briti­schen Film­zeit­schrift »Sight & Sound«, und wir kennen uns, seit wir vor Jahren einmal in Istanbul zusammen auf einem Podium saßen. Immer wieder läuft man sich über den Weg, nicht nur in Cannes, aber selten gibt es wie jetzt, während wir darauf warten, dass sich der heftige Gewit­ter­sturm draußen wieder legt, Gele­gen­heit, einmal länger mitein­ander zu reden, und sich über mehr auszu­tau­schen, als über den Film, aus dem man gerade gemeinsam hinaus­geht. Zuerst ging’s um Fußball, am Vorabend hatte Bayern München das »Finale dahoam« gegen Chelsea vergeigt, und Nick, der sich erzählte von seinem eigenen Schicksal: Als Manchester-United-Anhänger musste er erleben, wie die schon sicher verloren geglaubte Meis­ter­schaft am Samstag vor einer Woche plötzlich wieder greifbar nah war, weil Rivale Manchester City zuhause völlig uner­wartet zurücklag – um den Rückstand in der Nach­spiel­zeit dann doch noch zu drehen: »Meine Frau hatte mich extra gerufen – ›Du solltest den Fernseher anschalten‹, weil ManU auf dem ersten Platz stand. Und dann das!«

Dann geht es über den Wettbwerb von Cannes. Nick ist mit etwa 50 der zweit­jüngste unter denje­nigen, die im »Festival-Daily« der Branchen-Zeit­schrift »Screen« alle Wett­be­werbs­filme bewerten. Ich teile seinen Geschmack nur sehr einge­schränkt, aber er hat immer sehr gute Argumente und seine Texte gehören zu den besten in ganz England.

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»Did you like the Haneke?« Ob man etwas »mochte« ist natürlich eigent­lich ziemlich wurscht. Und doch ist dieses like/dislike loved/hated das zentrale Kriterium der Vers­tän­di­gung zwischen Film­kri­ti­kern. Über Haneke sind wir uns schon mal einig. Auch über Andersons Moonrise Kingdom – »the perfect opener« sagt Nick. Über Christi Mungius Beyond the Hill weniger. Aber auch Nick findet, dass man den rumä­ni­schen Wett­be­werbs­bei­trag gut als Exploita­tion-Film bezeichnen kann. Und Ulrich Seidls Paradies: Liebe sei natürlich »pure Exploita­tion«.

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»This Day is a complete disaster« meint Olivier Père, der Direktor von Locarno. Gerade eben ist der Empfang seines Festivals zuende gegangen, von dem er sich schon – »to crowded« – vor einer halben Stunde verdrückt hat. Aber den Empfang kann er nicht gemeint haben, genau­so­wenig wie die Filme. Die waren heute alle toll. Trotzdem hat er recht: Es regnet wie aus Eimern da draußen, schon seit zwei Stunden, und das so, wie ich es in Cannes in zehn Jahren noch nie erlebt habe. Mit Giulia, seiner Assis­tentin, hatte man eben noch Witze gemacht über »our post­a­po­ca­lyptic party«, »it’s like on the piazza – oh no! Don’t say it«. Gerade während ich diesen Text schreibe, steht der Direktor Thierry Fremaux mit Regen­schirm auf dem Roten Teppich, und empfängt Isabelle Huppert und Michael Haneke, die auch mit Regen­schirmen hochwaten. Die Foto­grafen werden sich freuen.

Das alles hat auch logis­ti­sche Folgen: Das eine große Kino, das in einem provi­so­ri­schen Zelt errichtet ist, wurde geschlossen, entweder wegen Über­schwem­mung oder Wasser­ein­bruch oder, weil man im pras­selnden Regen den Ton nicht mehr gut verstehen kann. So bleiben jetzt alle, die sonst dort wären oder auf irgend­einem Empfang oder essen gehen würden, im Palais in den anderen Kinos. Olivier ist daher eben nicht mehr in den Haneke rein­ge­kommen. Und vieles Weitere wird vermut­lich »ins Wasser fallen.« Das wiegt umso schwerer, weil Cannes an diesem ersten Wochen­ende so voll ist, wie nie.

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Schon heute Morgen hatte man das merken können: Ich kam um 8.15 vor dem Kino an, eine Vier­tel­stunde vor Vorstel­lungs­be­ginn, was norma­ler­weise völlig ausreicht. Aber diesmal, vor der Pres­se­vor­füh­rung von Michael Hanekes neuem Film, gab es regel­rechte Kämpfe in den Jour­na­lis­ten­schlangen, Gedrängel und Geschiebe. Ich komme noch gerade rein, 20 Leute später machten sie das Tor zu. Aber im Saal waren dann Plätze frei, und ich sehr gut, relativ mittig in einer vorderen Reihe.
Der Himmel draußen war grau und noch trocken. Beides passte, trotz allem, auch zu dem Film.

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Wir sind alle des Todes. Wir wissen das, aber wir machen uns das auch jenseits eines Film­fes­ti­vals nicht klar. Und es ist ja auch nicht wirklich ange­messen, nicht richtig, wenn der Tod seinen Schatten schon auf unser Leben wirft. Er ist der absolute Feind, er wird siegen, wir werden trotzdem gegen ihn kämpfen mit all unserer Macht, wissend um die Aussichts­lo­sig­keit dieses Kampfes, aber voller Stolz, denn in ihm liegt unsere Würde. Genau darum müssen wir ihn, den Tod nicht verehren und würdigen, müssen ihm kein Recht und keinen Platz geben in unserem Leben. Im Gegenteil.

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Haneke erzählt von einer Abwärts­spi­rale. Von einem Weg zum Tode. Er stellt zwei Menschen vor und beschreibt diesen letzten Weg und den Umgang mit ihm. Er handelt nicht von Ster­be­hilfe, nicht vom Freitod. Viel­leicht handelt er nicht einmal vom Tod. Sondern vom Sterben.

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Das erste Bild zeigt eine Haustür, Altbau, von innen. »Fire Depart­ment!« Ein paar kräftige Schläge, die Tür ist aufge­bro­chen. Draußen wird geredet, über »sie«, die man lang schon nicht mehr gesehen habe, genau wie die Pflegerin. Mit einem Beamten treten wir ein, werfen ein Blick in ein Wohn­zimmer, Fenster werden geöffnet, eine mit Klebeband versie­gelte Tür aufge­bro­chen. Darin, auf dem Bett, festlich angezogen und mit Blumen geschmückt die Leiche einer alten Frau, deren Tod offen­kundig schon eine Weile her ist – ihr Gesicht ist einge­fallen. Wir glauben also zu wissen, worauf der Film zuläuft. Aber eigent­lich wissen wir nichts.

Schnitt. Blick auf einen Konzert­saal von der Bühne aus, aufs Publikum. Ein Wimmel­bild, viele Leute, alles bewegt sich. Ein bisschen wie das Ende von Caché. Langsam wird es ruhig, und mit unglaub­lich sicherer Hand gelingt es Haneke, unseren Blick trotzdem auf ein altes Paar zu lenken, das eini­ger­maßen zentral sitzt. Womöglich erkennen wir Jean-Louis Trin­tignant und Emma­nu­elle Riva. Sie spielen das Paar, um das es hier geht, Georges und Anne. Ganz leicht blickt er sie an, von der Seite. Man spürt Vertraut­heit; Liebe. Dann beginnt das Konzert, eine Schubert-Sonate.

Mit der Straßen­bahn fahren sie nach Haus, in die Wohnung des ersten Bildes. Am (vermut­lich) nächsten Morgen sitzen sie in der Küche beim Frühstück, reden über Beiläu­figes. Plötzlich stimmt etwas nicht. Anne antwortet nicht, starrt reglos. Ein paar Minuten später scheint alles wieder normal, sie kann sich an ihr Schweigen gar nicht erinnern, dann gießt sie sich noch einen Tee ein – Zenti­meter neben die Tasse.

Es geht schnell. Aus einem Gespräch mit der von Isabelle Huppert gespielten Tochter, der einzigen weiteren Person in diesem Film, die eini­ger­maßen wichtig ist, erfahren wir von einem Schlag­an­fall, einer Operation. Dann kommt Anne nach Hause, im Rollstuhl sitzend. Jetzt erst lernt man beide näher kennen: Musik spielt in beider Leben eine große Rolle. Sie war Klavier­leh­rerin auf höchstem Niveau, viel­leicht einst selbst Pianistin. Er war Autor, womöglich Schrift­steller, oder Musik­wis­sen­schaftler. Er spielt auch Klavier. Man liest ein Buch über Harnon­court, die Le Monde. Lebt in einer tollen Riesen­woh­nung, die hoch­an­ge­nehm und entspannt wirkt. Es gibt einen Flügel, viele Bücher, eine alte Schreib­ma­schine, keinen Fernseher, aber eine CD-Anlage, keinen PC, aber ein Mobil­te­lefon, und auch wenn das Dekors zeitlos ist und ein bisschen altmo­disch, das Leben der beiden eher durch die 50er-Jahre, als von später dominiert scheint, ist absolut klar, dass dies alles heute geschieht.
Als sie nach Hause kommen, will sie nur eines von ihm: »Versprich mir: nie wieder zurück ins Hospital.« Der Ernst des Lebens hat brutal zuge­schlagen, nichts wird wieder wirklich so zufrieden sein, wie am ersten Abend des Films.

Die Gesichter erzählen alles, was hier geschieht, Haneke beob­achtet. Voller Anteil­nahme, sehr neugierig, ruhig und genau, nicht zu schnell oder zu langsam.
Wir sehen Intimität: Georges hilft beim Aufstehen, bei der Toilette, bei der Gymnastik. Wenn sie ins Bett gemacht hat. Noch haben sie schöne Momente, noch kann sie reden. Einmal sagt sie ihm »You are a monster. But very gentle.« Und wie genau das zutrifft, wird man noch besser verstehen. Einmal sagt sie »Je ne veut plus. Je suis fatiguée« (»Ich kann nicht mehr. Ich bin müde«). Einmal blättert sie in einem Fotoalbum, passiert Stationen ihres Lebens: »C'est bon la vie. Si longue.«

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Es wird häss­li­cher. Wobei dies schöne Menschen sind. Beide sind in aller Vertraut­heit unglaub­lich freund­lich und achtsam zuein­ander, voller Respekt. Und beiden geht es noch vergleichs­weise gut: Ihre Verhält­nisse sind bürger­lich, sie finden Trost in der Kunst, sie kennen keine Lange­weile, hatten ein offen­kundig erfülltes Leben. Und Geld ist nicht das Problem. Auch zwei Pfle­ge­rinnen kann man zahlen. Trotzdem wird alles immer häss­li­cher.
Haneke stellt nichts aus. Aber die Krankheit stellt aus und bloss; sie beutet aus.
Man möchte nicht so hinfällig werden. Man möchte sich mit alldem ganz und gar nicht konfron­tieren, ist aber doch froh, dass und wie Haneke es tut. Immer wieder ist dies ein erschüt­ternder Film, mit schönen Momenten. Dazu gehört auch eine lange Einstel­lung, in der Georges eine Geschichte aus seiner Jugend erzählt, von seiner Dyphterie. Und dann, plötzlich, erstickt er Anne mit dem Kopf­kissen. Der Todes­kampf ist lang und hart – trotzdem: eine Liebes­hand­lung. Der Film heißt Amour.

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Haneke stellt sich der Angst vor dem Alter, vor der Krankheit. Die wir alle kennen. Keinen treffe ich später, der nicht während des Films an sich selbst gedacht hat, an die mit denen er zusammen lebt, an die eigenen Eltern. Dies ist Kino mit einer exis­ten­ti­ellen Dimension, packend, ungemein präzis erzählt, ganz und gar Haneke, dabei unauf­dring­lich. Haneke ist vor allem neugierig. Auf die Menschen, auf die Zustände, die er zeigt.

Das ist ja immer ein Punkt im Kino: Man muss die Neugier eines Filme­ma­chers spüren. Dann ist man als Zuschauer auch selbst neugierig. Und das unter­scheidet Haneke von seinem Landsmann Ulrich Seidl, auf den wir hier später noch eingehen müssen: Er hat Fragen, will wissen. Seidl weiß schon alles vorher, und breitet das dann im Film nur noch vor uns aus.

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Wenn ich schreibe »ganz und gar Haneke«, dann meine ich, dass gele­gent­lich pädago­gi­sche Sätze fallen, wie einmal: »Imagi­na­tion und Realität stimmen nicht immer überein.« Dass es gegen Ende zu einer Szene kommt, in der Georges die eine Schwester entlässt, und beschimpft. Und sie dann zurück: »Old prick!« Dieser stille kalte zwischen­mensch­liche Hass mit Klas­sen­kampf­di­men­sion…, das kann so nur Haneke.

Typisch Haneke ist auch jene Szene, in der Georges einen Tagtraum hat: Ann spielt Klavier, sitzt am Flügel. Schnitt. Georges hört ihr zu. Macht den CD-Player aus, die Musik verstummt – alles nur Täuschung, liebe Zuschauer, glaubt’s net, was ihr seht!
Schließ­lich eine Reihung von Gemälden. Schön. Aber wie kommt er da jetzt wieder raus? fragt man sich, dann, über dem fünften Bild, hört man eine Türk­lingel, und es folgt ein Schnitt.

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Aber um es unmiss­ver­s­tänd­lich zu sagen: Amour ist hervor­ra­gend. Ein Meis­ter­werk. Das bisher Beste im Wett­be­werb. So ein trauriger Film! Aber auch ein so schöner Film!
Auch die letzten Szenen. Georges, der seine Frau erstickt hat, ist allein in der Wohnung. Er fängt eine Taube ein, die sich in den Flur verirrt hat. Minu­ten­lang. Super. Und natürlich kann man die Taube auch symbo­lisch inter­pre­tieren…
Dann Huppert, die Tochter im leeren Appar­te­ment. Es bleibt offen, wie sie vom Geschehen erfahren hat. Georges hat Briefe geschrieben. Er erzählt von der Taube. Aber wem? Seiner Frau? Eine letzte Hallu­zi­na­tion: Sie steht an der Spüle. Er soll seine Schuhe anziehen. Die Sehnsucht nach Alltag, nach Ritual. Was Georges dann genau tut, bleibt auch im Offenen.
Aber wie Huppert da herum­läuft, wie der Raum plötzlich ohne Leben ist, und sie wie eine Fremde, das ist auch noch einmal großartig.

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Und ich denke, ich weiß nicht warum, an 1981. Als Mitterand gewählt wurde, im Mai vor 31 Jahren. Seitdem tritt die Geschichte auf der Stelle. wir werden älter, aber nicht (mehr) besser.
Damals waren ihre Film-Eltern so alt wie Huppert heute. Sie hatten noch Zeit. Was wird in 30 Jahren sein?

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»15 Tage im Mai« nennt die Le Monde eine Serie zum Amts­an­tritt des neuen fran­zö­si­schen Präsi­denten, und kommen­tiert Francois Hollande als »Reformist der Linken«. »Das Ende des Lächelns« heißt es dagegen auf dem Titel von »Le Point«.

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»It is not the violence, that makes the diffe­rence between people. It is the distance, that someone is prepared to go. We are survivors. We control the fear. And without fear, we are all as good as dead.« – das absolute Gegenteil von Amour, aber kein schlechter Film, und genau das Richtige nach dem schweren Haneke ist Lawless von John Hillcoat, ebenfalls im Wett­be­werb. Ein 08/15-Genrefilm, er funk­tio­niert, ist kurz­weilig, aber nicht wirklich inspi­riert. Durchaus roman­tisch, aber etwas seicht, mit modernen Songs unterlegt. Aber immer ist hier alles möglich, und der durch­gän­gige Anar­chismus ist moralisch sehr gesund.

»Based on a true story« in roter Farbe ist dies die Verfil­mung einer Buch­vor­lage: »The wettest country in the world.« heißt die Geschichte der drei Bondurant-Brüder, die in den 20er und 30er Jahren zur Prohi­bi­ti­ons­zeit in Indiana ein lukra­tives Schwarz­brenner-Geschäft aufzogen, und es mit einem fana­ti­schen Deputy zu tun bekamen.

Es wird viel geballert, die Schau­spieler sehen gut aus, die Message ist wahr­schein­lich reak­ti­onär. Es macht also Spaß. Die Szenerie erinnert an eine alte Werbung für Jack Daniels. Gary Oldman spielt einen sympa­thi­schen Chicago-Gangster, der seine Feinde mit einer MP zur Strecke bringt, die auf Fran­zö­sisch den viel hübscheren Namen Mitraillette hat. Über ihn wird gesagt: »he had vision and direction«. Guy Pierce spielt einen Schurken, dem kein Klischee fehlt: Ein verkappt schwuler Dandy, der mit Frauen gewalt­tä­tigen Sado-Sex hat, seine Haare färbt und gelt, Leder­hand­schuhe und einen goldenen Colt trägt, foltert. Shia LaBoef ist der good guy, der einen blauen Ford fährt, was sich vor grüner Land­schaft sehr anspre­chend macht. Es gibt viel coolen, schnellen Hardtalk, dann werden zwei Poli­zisten, die es aller­dings verdient haben, irgend­wann die Eier abge­schnitten. Der Staat ist das Böse, das die Freiheit, aber eben nicht zuletzt den freien Schnaps­handel behindert, und den Jungs den Spaß verdirbt. Nun denn.

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Wie bekommt man einen Gelben Punkt? Das sind die wahren Fragen, die die Menschen in Cannes umtreiben. Zum Beispiel der Schwede Jan Lundholm, die sie mir heute gestellt hat. Wir haben beide »Rose«, also die zwei­ein­h­alb­beste Akkre­di­tie­rung. Die beste ist »Weiß.« Die Zweit­beste ist »Rose Pastille«, also Rosa mit Gelbem Punkt. Damit kommt man noch schneller oder später rein und sitzt noch etwas besser. Jeder hat in der Sechs­klas­sen­ge­sell­schaft der Akkre­di­tie­rungen entspre­chend seine eigene Perspek­tive auf die Dinge. Violeta zum Beispiel freut sich über ihre rosa Akkre­di­tie­rung, weil sie bisher immer nur »Blau« hatte. Daniel dagegen leidet – »oh, sie haben mir den gelben Punkt wegge­nommen.« Ich tröste ihn: Ich habe noch nie einen Gelben Punkt gehabt.

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»Es gibt ein Kino jenseits der Narration« sagt Guiseppe Rapidio direkt nach der Vorfüh­rung von Da-reun na-ra-e-suh dem neuesten Film vom Koreaner Hong Sang-soo. In dem wird wie immer viel geredet und gesoffen – Soju, der korea­ni­sche Reiswein. Vor allem aber spielt auch hier Isabelle Huppert mit! Sie ist eine Französin, die es mit korea­ni­schen Männern zu tun hat. Vor allem aber wieder­holen sich die Szenen dauernd mit leichten Diffe­renzen, denn Hupperts »Anne« und alles, was ihr wieder­fährt ist nur ein Einfall im Drehbuch einer Korea­nerin. Das Ganze ist also reichlich versponnen, eher sinnlos, aber lustig, weil absurd. Es geht irgendwie auch um das Eigene und das Fremde, um Koreas Blick auf Frank­reich. Und der Film wirkt wie eine Kreuzung aus Iosse­liani und Chaplin. Das ist ja nichts Schlechtes, oder? Einen Preis gewinnen sollte dieser Film aller­dings nicht.

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Zwischen den Vorstel­lungen gibt es mal Zeit, auf die Wände zu gucken. Sie sind hier immer mit riesigen Photos gepflas­tert, wunder­baren, ikonische, aus der »großen« Zeit des Kinos: Marlene Dietrich mit Zylinder, Louise Brooks, Veronica Lake.

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Die ersten Minuten führen ziemlich in die Irre: Ein älterer Mann unter einem Compu­ter­to­mo­gra­phen. Schnitt: Dschungel, Nacht, Lärm, offen­sicht­lich eine Verfol­gungs­jagd. »Kill the european!« ist zu hören, Schüsse fallen, der Mann, der sich im Unterholz versteckt hat, überlebt als einziger. Wir sehen seine Angst, wir sehen ihn am nächsten Morgen und dann leicht verwundet im Kran­ken­haus. Ein brutaler Auftakt, der auch aus einem ameri­ka­ni­schen Vietnam-Film stammen könnte, und unser aller Angst vorm wilden Latein­ame­rika in Bilder fasst. Dann sieht man ein Boot durch den Dschungel tuckern, die perua­ni­sche Flagge signa­li­siert den Ort, Ricardo Darin, der den anderen Mann vom Anfang spielt, fährt hin, holt den Verwun­deten aus dem Kran­ken­haus, nach Buenos Aires. Musik baut sich dabei auf, von Michael Nyman, diese Dschun­gel­fahrt und Stadt­an­kunft ist eine lange, sehr gute, schöne Szene; man glaubt noch eine Weile an einen Trau­ma­be­wäl­ti­gungs­film, aber das ist dies ganz und gar nicht. Wie sich heraus­stellen wird, holt Julian, den Darin spielt den anderen, Nicholas, gespielt von Dardenne-Schau­spieler Jeremie Renier, nur von einem Dschungel in den anderen, den bei uns.

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Dann die Titel-Credits zu einem schönen Rap: »las cosas que no se tocan« heißt der Song, und darin heißt es: »Me gusta la calle, me gusta Madonna, me gusta los perros, me gusta el trafic, me gusta arroz, me gusta ombra...«
Der Argen­ti­nier Pablo Trapero bietet in Elefante Blanco ein facet­ten­rei­ches, emotional inten­sives Szenario rund um den titel­ge­benden »Weißen Elefanten«. So heißt im Volksmund ein riesiger Wohnblock am Rand der Slums von Buenos Aires, der der zentrale Schau­platz von Traperos Film ist. Vom seiner­zei­tigen Minister Alfredo Lorenzo Palacios (1880-1965) im Jahr 1937 als ein sozi­al­de­mo­kra­ti­sches Vorzei­ge­pro­jekt errichtet, mehrfach gestoppt, und wieder begonnen, nie fertig­ge­stellt, inzwi­schen verfallen und vermüllt, aber zugleich großartig: Eine Welt für sich, faszi­nie­rend wie ekel­er­re­gend, wo auf dem Dach schwer drogen­süch­tige Jugend­liche vor sich hin vege­tieren, im Erdge­schoss ein Kran­ken­haus betrieben wird und diverse Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen daran arbeiten, die Lage der Menschen in den Slums zu verbes­sern. Das Leben dort ist geprägt von Armut, Drogen, dem Desin­ter­esse des Staates und von gnaden­losen Banden­kriegen. Wenn man sich für Buenos Aires inter­es­siert: Gedreht wurde zum einen in den harten Slums der »Villa 31«, ansonsten in der »Villa Lugano« oder auch »Villa 15«, wo auch der Weiße Elefant steht. Trapero doku­men­tiert hautnah, voller Neugier und mit mensch­li­cher Anteil­nahme diese mittel­al­ter­li­chen Verhält­nisse.

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Im Zentrum seines Films stehen zwei katho­li­sche Priester: Julian der Ältere ist seit Jahren vor Ort. Nicholas ist neu, mit seinen Augen lernen wir den Weißen Elefanten kennen. Er soll in die Rolle von Julians Nach­folger hinein­wachsen, denn dieser ist, was nur wir Zuschauer wissen, todkrank. So ist dies zunächst einmal ein Film über selbst­loses Enga­ge­ment, über das, was die Priester motiviert, hier­her­zu­kommen. »So you both can afford to be poor.« sagt Luciana, die Sozi­al­ar­bei­terin, die von Martina Gusman, Traperos Ehefrau, gespielt wird. Das hier bourgoise Leute Armen helfen, wird zum Thema gemacht, zugleich ist der Film selbst im besten Sinne old school: Wie Ken Loach nimmt er unver­hohlen Partei.

Er zeigt Dreck und Häßlich­keit jeder Art, er zeigt die Realität der Armut, aber er zeigt all das in einem weit besseren Stil, als viele Kollegen: Virtuos, dynamisch, »dicht dran«. Trapero zeigt uns etwas, er zeigt uns alles. Sein Film ist voller Leben. In einer Szene geht Nicholas rein in einen Rück­zugsort der Gangster, um dort eine Leiche zu holen, einen Toten von einer anderen Gang. Er weiß, dass er Angst hat, und dass er diese Angst über­winden muss. Dieser Weg ist eine Art Höllen­fahrt: Mit verbun­denen Augen, geführt von täto­wierten Muskel­pa­keten. Die Gang hat ein eigenes Drogen-Labor, ein eigenes OP. Brutal und böse sind diese Zustände, »wie im Mittel­alter«. Trapero zeigt uns alles.

Einziger kleiner Minus­punkt: Wenn hier Figuren etabliert werden, machen sie immer »Sinn«, sprich, sie sind nie für sich da, nie einfach da, sondern immer Teil der großen Geschichte.

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Es ist dies auch ein Film über Idea­lismus und Glau­bens­stärke. Die bleibt im Fall von Julian und Nicholas nicht ohne Anfech­tungen, denn diese Priester sind überaus mensch­lich, sie machen Fehler, sind auch vor Todsünden wie Zorn und Eitelkeit nicht gefeit, und zu allem Überfluss verliebt sich Nicholas auch in die hübsche Sozi­al­ar­bei­terin Luciana und fängt etwas mit ihr an, und während die Kamera den schönen Busen der Haupt­dar­stel­lerin streift, sieht man in Nicholas Augen und muss an den herr­li­chen Moment in Slavoj Zizeks The Pervert’s Guide to Cinema denken: »What am I doing here?«

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Aaahh die Priester… In letzter Zeit werden sie verstärkt zu Kino­fi­guren. Oft positiv besetzt, so wie hier. Wer erinnerte sich nicht an Des hommes et des dieux vor ein paar Jahren. Aber auch als Böse­wichter wie im rumä­ni­schen Exor­zis­ten­film von Mungiu. Warum werden sie zu Projek­ti­ons­fi­guren? Weil sie »besser« sind, als wir, »reiner«. Mir scheint, weil an Figuren wie ihnen es Filmen noch erlaubt ist, positive Über­zeu­gungs­täter und sympa­thi­sche Fanatiker und Idea­listen zu zeigen. Poli­ti­scher Idea­lismus hat ausge­dient, gilt als bäh bäh.

Natürlich ist die Wieder­kehr der Priester reak­ti­onär, auch wenn sie hier eindeutig Linke sind. Man feiert an ihnen Religion ab. Nicholas war auch noch in einem Schwei­ge­kloster. Oh je. Aber in diesem konkreten Fall spielt die Religion immerhin eine vergleichs­weise unwich­tige Rolle. Und man sollte auch den Ideen­strang des christ­li­chen Sozia­lismus nicht unter­schätzen, auf den sich dieser Film konkret bezieht. Ein paar Szenen drehen sich um den linken Padre Carlos Mugica (1930-1974), der einst ermordet wurde, weil er für Reformen kämpfte. Sein Satz wird zitiert: »Senor, quiero vivir desde ahora y por adelante como un hombre libre.« Viele Wege führen zur Freiheit, das wissen wir spätes­tens seit Gauck.

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Weil an diesem Ort Gewalt aber an der Tages­ord­nung ist, ist dies auch ein Film über noch Exis­ten­ti­el­leres: Angst, und wie man sie über­windet, den Umgang mit Tod und Gefahr, und über Martyrium: Für was und unter welchen Umständen ist man bereit, sein Leben zu opfern? »Es ist leicht, ein Märtyrer zu sein, ein Held zu sein.« sagt Julian einmal zu Nicholas, und man denkt: Naja, so leicht ja nun auch wieder nicht... So ist dieser Film immer mal wieder für Augen­blicke ein Katholo-Schlocker, in dem Menschen Sätze zitieren, wie »Herr ich will sterben für die Armen. Hilf mir für sie zu leben.«

Dann wieder eine Razzia, Verrat, Aufstand, alles zur Musik von Nyman – der Film hat viel, über­treibt manchmal, ist auch ästhe­tisch eindeutig katho­lisch, was fast immer etwas Gutes ist.
Am Ende hat ein Priester eine Pistole in der Hand und die neutrale, biedere Linie der Insti­tu­tion Kirche verlassen – so stellen wir uns kämp­fe­ri­sches Chris­tentum vor. Im klamm­heim­li­chen Wunsch, Märtyrer zu werden, im Gedan­ken­spiel mit dem ewigen Leben in der Erin­ne­rung, ist auch Eitelkeit des Priesters erkennbar. Aber das ist dann doch auch einfach ein Stück Wahrheit.

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Ein weiteres Highlight aus Latein­ame­rika ist der mexi­ka­ni­sche Film Después de Lucia, das Debüt von Michel Franco, ebenfalls in »Un Certain Regard«. Stilis­tisch handelt es sich um hoch­äs­the­ti­sches sehr stili­siertes Arthouse-Kino, in dem mit langen Einstel­lung gear­beitet wird, mit wenigen Worten, und viel Ausspa­rungen. Manie­riert. Die erste Szene ist typisch: Eine Einstel­lung, ein Mann im Auto, lange Autofahrt von hinten über die Schulter des Fahrers gefilmt. Jedem Zuschauer ist klar: Es kommt jetzt was. Und dann lässt der Fahrer das Auto in der Mitte der Ampel einfach stehen und geht zu Fuß.

Die Story dreht sich um ein junges Mädchen, Ales­sandra, die mit ihrem Vater in eine andere Stadt zieht, und auf eine neue Schule kommt. Die Mutter ist gerade gestorben.
In dieser ange­spannten, latent verzwei­felten Situation hat der Vater mit eigenen Problemen zu kämpfen, die Tochter bleibt sie selbst über­lassen. In der neuen Schule wird sie bald gemobbt, weil sie Sex mit einem Mitschüler hatte, der das ganze filmte und ins Netz stellt: Sie bekommt smse mit »Hola puta!«

Regisseur Franco insze­niert dies geduldig, er scheut sich nicht, auch Unan­ge­nehmes und Teenager-Demü­ti­gungen zu zeigen, und erinnert daran an den Natu­ra­lismus des US-Ameri­ka­ners Larry Clark dessen Film »Kids« vor 15 Jahren einen Kino­skandal provo­zierte. Nur fragt man sich halt schon, warum sie das alles mit sich machen lässt, und ob es nicht doch irgendwo irgend­einen Lehrer gibt, der mal was mitbe­kommt.

Zugleich ist Después de Lucia das triftige soziale Panorama einer amora­li­schen reichen korrupten deka­denten Ober­klasse in einem Staat, der manche Zustän­dig­keiten schon aufge­geben hat: Wer sich gute Anwälte leisten kann, dessen Kinder können auch Verbre­chen begehen. Als Ales­sandra – nur wir Zuschauer wissen, dass sie in Sicher­heit ist – rächt sich ihr Vater an einem der Täter im Schü­ler­alter. Er knebelt ihn und schmeißt den Jungen einfach ins Meer. Ohne Worte, wie Müll. Und fährt zurück, ohne sich umzusehen. Eine starke Szene. Moral: Der mexi­ka­ni­sche Mann ist halt so. Alle Papas waren auch mal kleine Jungs. Und irgendwie sind sie alle gleich in einer Welt des Fressens gefressen werdens…

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Viel Spaß hatte offen­kundig Ken Loach – doch ist The Angels' Share relaxte Unter­hal­tung mit etwas Tiefgang. Ange­sie­delt im Loach-typischen briti­schen Prole­ta­rier­mi­lieu geht es um einen jungen Klein­gangster in Glasgow, der eigent­lich keine Chance mehr hat, sie aber denn doch nutzt, um ein neues Leben zu beginnen. Fast wie ein Märchen erscheint diese Geschichte die aus der Gewalt­spi­rale der Vorstädte in eine witzige, leicht­hän­dige Räuber­story a la Rififi in den schot­ti­schen Highlands mündet, bei der ein wert­voller Whiskey zum Schlüssel ins Glück wird, und Loch offenbar vor allem Whiskey-Revier drehen wollte. Die »market fucking forces« werden ausge­trickst, die Moral ist bieder und schlicht: »Do something!«