02.03.2023

Vestra et nostra maxima culpa – Die Berlinale-Beichte

Beichtstühle
Beichtstuhl Berliner Art
(Foto: T. Willmann)

Edelmann & Willmann taten sich auf der Berlinale 2023 der Sünden fürchten

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

Nach zwei Fasten-Jahren war es nun wieder eine Berlinale, wo an manchen Abenden ganz ungeplant und zwanglos ein Bier das andere ergab. An einem dieser Abende wankten wir auf dem Heimweg an einer Jugend­her­berge vorbei, die in einem einstigen Kloster unter­ge­bracht war. Wir suchten dort im Innenhof kurz Rast und Schutz vor der Berliner Febru­ar­wit­te­rung – und fanden uns wieder in einem ausran­gierten Beicht­stuhl.
Es mag unsere Herkunft aus dem katho­li­schen Bayern sein – aber als wir da so saßen, erfasste uns doch ein Moment der inneren Einkehr. Und wir besannen uns all der Sünden unse­rer­selbst wie der Berlinale…

I. Superbia
Warum sind wir eigent­lich hier? Wozu braucht’s Kino (noch)? Ist es wirklich ein essen­ti­eller Teil der Kultur, des Mensch­seins, und gehört bedin­gungslos vertei­digt gegen die Anfech­tungen des Markts, der anderen Medien? Weil Kino die Welt zum besseren verändert? Oder bangen die Filme­ma­chenden viel­leicht nur eitel um das Publikum, das ihnen zuschauen soll bei Selbst­fin­dung, Selbst­the­rapie auf großer Leinwand?

Die Frage nach der Zukunft des Kinos war sehr präsent auf dieser Berlinale, wurde grade in den ersten Tagen auf jeder Pres­se­kon­fe­renz gestellt und debat­tiert. Mitten in die üblichen, in diesem Rahmen 100% konsens­fähigen Phrasen von dem ach so wichtigen Kino und der unver­zicht­baren Kunst platzte dann Geraldine Chaplin rein, auf dem Podium zu Seneca, und mit der Autorität reich­li­cher Lebens­er­fah­rung: »Movies don’t change anything.« Das habe schon ihr Vater gemerkt, damals beim Great Dictator. Geholfen habe der gar nichts, außer dass er Menschen zum Lachen brachte.

Es gibt kaum etwas Heil­sa­meres, als dem Auftrieb um den Roten Teppich am Potsdamer Platz den Rücken zu kehren, und eine Runde durch den European Film Market im Gropi­usbau zu drehen. Dort bekommt man das wahre Film­ge­schäft (und den wahren Exis­tenz­grund des ganzen Glamour-Überbaus) zu Gesicht. Hier sieht es aus, wie es auf jeder Branchen-Messe aussieht, gleich ob Film­ge­schäft, Verlags­wesen, Sani­tär­ge­werbe oder Dübel­her­steller. Und es ist depri­mie­rend genug, an den genormten Messes­tänden hinter den Theken mit den genormten Hand­zet­teln und Süßig­kei­ten­schalen die Poster über Poster all der Filme hängen zu sehen, die hier auf inter­na­tio­nale Verkäufe hoffen und zu ahnen, wie wenige von ihnen dabei ernst­hafte Chancen haben, je profi­tabel zu werden – bis einem klar wird, wie sehr das alles schon jene Filme sind, die das enorme Glück hatten, überhaupt produ­ziert zu werden, statt das üblichere Schicksal all der geschei­terten Projekte zu teilen, die nie das Licht auch nur einer Leinwand erblicken.

Freilich ist die Frage nicht neu, ob man Kino braucht – ob es zu mehr dient als bloßer Unter­hal­tung, und es uner­setz­lich durch andere Medien, Darrei­chungs­formen ist. Doch mit solch einem Unterton wirk­li­cher Verun­si­che­rung wie auf dieser Berlinale hat man sie lange nicht mehr gehört.
Das hat gewiss zuvor­derst rein wirt­schaft­liche Gründe. Aber es schien auch, dass nach den Jahren der Lockdown-Erfahrung nun eine seltsame Mischung herrscht aus Sehnsucht nach Gemein­schafts­er­lebnis – und Gewöhnung an die Verein­ze­lung. Da ist Mittei­lungs­be­dürfnis. Die Suche nach Vers­tändnis. Nachdem man so lange nur sich selbst im Bade­zim­mer­spiegel gesehen hat und nun wieder mit echten, anderen Menschen redet. Aber oft auch das Gefühl, dass man verlernt hat, von anderem zu sprechen als sich selbst.
So dass es auf dieser Berlinale fast schon ein eigenes Sub-Genre gab der Filme, die – mal mit mehr, mal mit weniger Selbst­ironie – davon handeln, wie Menschen auto­bio­gra­phi­sche Kunst machen: She Came To Me, The Fabelmans, Arturo A Los 30.
Das Eine, was uns eint, ist der Wunsch, von uns selbst zu erzählen. Und zu hoffen, dass uns jemand zuhört.

II. Ira
Die Berlinale ist sehr bedacht um ihren Ruf als das poli­tischste der europäi­schen A-Festivals und lässt sich nicht zweimal fragen, ob sie die gerechte Sache unter­s­tützen kann. Nun hat ein staatlich geför­dertes Film­fes­tival freilich einen begrenzten Rahmen, in dem es helfen kann. Doch sie kann denen eine Plattform bieten, denen Gehör zu schenken ist.

Wenn auf anderen Festivals nur gegen die High Heel Pflicht protes­tiert wird, gibt die Berlinale ihren legen­dären Läufer für allgemein rele­van­tere Themen frei.
Am 18. Februar wurde auf dem Roten Teppich Soli­da­rität mit der Protest­be­we­gung im Iran verkündet, am 24. Februar wurde gegen den Angriffs­krieg in der Ukraine protes­tiert. Aber bitte schießen Sie ihre medi­en­wirk­samen Erin­ne­rungs­fotos recht­zeitig, schließ­lich wird der Berlinale Palast vor und nach den Protesten wieder für glamouröse Film­vor­stel­lungen benötigt! Außerdem hat Disney­land Paris für das regel­mäßige Abspielen seines Werbe­clips auf der LED-Leinwand im Hinter­grund bezahlt! Selbige LED-Leinwand, auf der eben noch ein Statement in einer Pres­se­kon­fe­renz bezüglich der prekären Lage der Künste in Grie­chen­land verlesen wurde.

»Die Berlinale, das poli­tischste A-Festival« – das wird so oft betont, bis es fast selbst wie ein Werbe­jingle wirkt. Was davon wirklich hängen bleibt, ist abzu­warten. Es bekommt das Geschmäckle einer Perfor­mance. Wie auch, wenn am Kaffee­stand im Pres­se­zen­trum nicht einfach nur auf Kuhmilch verzichtet wird, sondern einen Theke, Wand, Servi­etten gar mit hipster-witzigen Parolen gegen Milch­konsum anraunzen. Es gibt nichts Gutes, außer man tutet es in die Welt hinaus.

Verstehen Sie uns nicht falsch: Bitte kämpfen und schreien und protes­tieren Sie mit aller Kraft und allem Elan weiter gegen die Unge­rech­tig­keiten, die Zumu­tungen und die Auto­kraten dieser Zeit!
Aber es ist schon ein bisserl lustig und befremd­lich, wenn dem Wider­stand ein festes Zeit­fenster mit Absegnung der Security und Photo Op auf dem Roten Teppich eines Film­fes­ti­vals zugeteilt wird.

III. Gula
All das hat uns freilich nicht daran gehindert, der filmi­schen Völlerei zu frönen. Es mögen die Tage etwas seltener gewesen sein als gewohnt, an denen wir das Festival-Wunsch­ziel von vier, fünf Filmen geschafft haben. Aber meist gelang es doch, eine cine­as­ti­sche Spei­se­folge zusam­men­zu­stellen, ohne sie mit zuviel Sätti­gungs­bei­lagen voll­zu­stopfen. Und es waren durchaus ein paar Lecker­bissen dabei.

Vitaly Mansky & Yevhen Titarenkos Shidny Front (Eastern Front) war – im heilsamen Kontrast zu Sean Penns Agitprop Super­power – ein Blick zwar auch auf die Schrecken des Kriegs. Doch jenseits von Adrenalin und Schlachten-Reportage kam man hier auch der anderen Realität des Kriegs näher: Dem Warten, dem Alltäg­li­chen, Absurden, den Momenten vermeint­li­cher Norma­lität. Wo im Sanitäter-Quartier über die beste Brat­pfanne für Burritos debat­tiert wird, während draußen Bomben fallen. Oder man einfach nur am Badesee hockt. Nein, all diesen Menschen war nie die Rolle »Kriegs­opfer« zuge­schrieben, in die sie medial einge­kas­telt werden – das sind Leute wie Du und ich, in deren Leben grad das Unfass­bare rein­kracht.

In Hello Dankness bastelt das Künst­lerduo Soda Jerk ein Mosaik der Jahre 2016-2022 aus Film-, Serien-, Popkultur-Samples, (oft alt-rechten) Memes. Letzt­end­lich mehr ein Stim­mungs­por­trait als ein reflek­tiertes Statement mit großem Erkennt­nis­ge­winn – aber ein sehr virtuoses.

Matt Johnsons Black­berry war ein hoch­ver­gnüg­li­ches kana­di­sches Pendant zu The Social Network, und in all seiner Komik doch ein cleveres Portrait der Melange aus tech-autis­ti­schen Kinds­män­nern und testo­ste­ron­t­run­kenen Risi­ko­ka­pital-Bros, die dabei sind, unsere Welt nach ihrem Bilde neu zu erfinden.

Ein gelun­gener Genre-Film auf der Berlinale – das hat Selten­heits­wert! Ein solches Exemplar fand sich in Talk To Me: Der Maga­zin­text dazu war dermaßen dämlich, dass er tatsäch­lich unsere Neugier geweckt hat. Und siehe da: Es entpuppte sich als solider Horror von Leuten (das »Rack­aRacka«-Duo Danny & Michael Philippou), die merklich eine Affinität für das Genre haben und auch bereits Erfah­rungen auf dem Gebiet gesammelt haben als Hilfs­kräfte am Set von Babadook. Zwar waren die Vorbilder deutlich genug zu erkennen. Aber die Beses­sen­heit durch Geister als Party­spiel, als Metapher für Drogen war tatsäch­lich ein origi­neller Einfall.

Ein Bauar­beiter, der vor dem Sommer-Heimat­ur­laub in Rumänien noch aus seinem Kühl­schrank­in­halt Restl-Suppe kocht und unter befreun­deten Leuten verteilt. Wobei er eine junge Frau kennen­lernt, die im Wald Moose erforscht: Bas Devos’ HERE (verdienter Sieger in der Encoun­ters-Reihe) mag in der Kurz­be­schrei­bung fast klingen wie die Parodie eines Arthouse-Films – und ja, wir waren auch skeptisch. Aber innerhalb weniger Minuten hat er uns erobert, uns in seine Welt gezogen, auf seinen Groove gebracht. Das Herz schlägt lauter, aber der Puls wird ruhiger. Es kehrt Ruhe ein, man fängt an, sich auf das Wesent­liche zu konzen­trieren. Und wenn das Moos im Wald ist, dann ist es eben Moos im Wald. Aber so, wie das Moos, wenn man sehr genau hinschaut, eine Art Minia­tur­wald für sich ist, so ist HERE ein Mikro­kosmos der Mensch­lich­keit. Und dann möchte man Suppe.

IV. Invidia
Aus den alten Zwängen ausbre­chen, das ist der Berlinale unter der neuen Leitung doch nicht ganz gelungen. In der Lockdown-Berlinale 2021 hatten wir alle das Hoch­ge­fühl, es täte sich etwas. Als hätten die Berlinale und damit auch wir endlich die Koss­lick­schen Themen­filme, Altmeister-Neben­werke, kleinen Fern­seh­spiele hinter uns gelassen.
Doch nun die Ernüch­te­rung: Chatrians unbe­streitbar treff­si­cherer Geschmack kann sich bisher nur (und immerhin) in der Vermei­dung wirk­li­cher Unsäg­lich­keiten durch­setzen. Aber noch gelingt es nicht, wirkliche cine­as­ti­sche High­lights in den Wett­be­werb zu ködern. Berlin ist und bleibt unter den europäi­schen A-Festivals einfach nicht jenes, wo es Filme hinzieht, die es sich aussuchen können. Die Reali­täten des Markts und der Festi­val­po­litik geben nicht mehr her.
So blicken wir (und vermut­lich auch das Berlinale Team) weiterhin neidisch gen Cannes und Venedig. (Oder auch nur Richtung Sommer, wenn man ein ähnliches Programm-Niveau wenigs­tens an der Isar statt an der winter­lich-ungast­li­chen Spree geboten bekommt.)
Während in Berlin die wahrhaft großen Nummern wie The Fabelmans und Tár nur auf Werbetour für den unmit­telbar bevor­ste­henden deutschen Kinostart und auf ein paar letzte glamouröse Promo­bilder vor der Oscar­ver­lei­hung vorbei­schauen und sich nicht einmal zu einer Pres­se­kon­fe­renz bequemen.
War in den Pest­jahren oft die Rede davon, dass wir uns durch die Zwangs­pause wenigs­tens noch einmal neu besinnen können und müssen, was wir wahrhaft das Wesent­liche finden, wir uns Gedanken machen, ob denn alles, was wir gewohnt waren, auch wieder­kehren muss, und man eine Chance auf Reset und (besseren) Neuanfang witterte – so fühlte sich diese erste echte Post-Pandemie-Berlinale doch sehr weit­ge­hend schlicht nach der Rückkehr an des vorhe­rigen Betriebs.

V. Acedia
Warum denn in die Ferne schweifen – sieh, das Gute liegt so nah! Also, besonders »liegt«.
Die akkre­di­tierte Presse hatte nur wenig Grund, sich vom CinemaxX am Potsdamer Platz fort­zu­be­wegen. Das Multiplex befindet sich eigent­lich grad im Umbau (siehe auch: Avaritia). Man rechnet mit einer Zukunft, in der weniger Publikum kommt – das dann aber bereit sein soll, für ein Gefühl von »Luxus« die Differenz beim Eintritts­preis wett­zu­ma­chen. Spätes­tens seit man während der Pandemie Netflix auf dem Sofa fläzend einmal komplett durch­ge­schaut hat, will niemand mehr Filme aufrecht sitzend ansehen. Und so durften wir in der komplett für Pres­se­vor­füh­rungen reser­vierten Baustelle schonmal die neue Recliner-Bestuh­lung warm­sitzen.
Abge­son­dert vom regulären Publikum (und dessen naiver Begeis­te­rungs­fähig­keit) schlurften wir auf- und abge­klärten Profi-Film­gu­ckenden den weiten, beschwer­li­chen Gang in ein Kino eine Treppe runter oder rauf. In dem man sich dann erschöpft in die moto­ri­sierten Lazy Boys fallen ließ, die einem gar nicht schnell genug in Liege­po­si­tion ausfahren konnten. Um dann gemütlich auf der Leinwand Krieg, Seuchen, Gewalt, Elend und die allge­meine Schlech­tig­keit der Welt zu betrachten.
Man konnte nicht eindeutig sagen, ob die Anlie­genden wegen selbiger Welt­schlech­tig­keit seufzten – oder weil sie doch grad so schön am Einnicken waren und sie der Gedanke ans baldige Aufstehen schau­derte. Man wusste es aber von sich selbst auch nicht recht.
So dass selbst wir, die gerne zetern wider die derzei­tige Lauf­zeit­in­fla­tion, oft wünschten: Ach, nur noch ein Vier­telstünd­chen, bitte..!

VI. Avaritia
Baptiste Deloire und Moana da Pozzi don’t live here anymore. So hießen (wenn wir’s exakt erinnern) einst zwei der Fanta­sie­ge­stalten, mit denen um die Jahr­tau­send­wende auf Plakaten im U-Bahnhof Potsdamer Platz für das neuerbaute Sony Center geworben wurde. Sie sollten Bewohner reprä­sen­tieren, wie sich die Inves­toren das vorstellten für die Zukunft der Archi­tektur gewor­denen Vergan­gen­heits­ver­drän­gungs­ma­schine, die man als Ensemble städ­te­bau­li­chen Barba­rismus’ über die Wunde der Stadt geklatscht hatte.
Baptiste war (wenn wir’s exakt erinnern) ein schwarzer »Unter­neh­mens­be­rater und Jazz-Saxo­pho­nist«, Moana eine jetset­tende Opern­sän­gerin und Phil­an­thropin. Nun ja. Nach nur rund 20 Jahren bröckelt es am Potsdamer Platz schon allü­berall. Wo einst das Cinestar im Sony Center war, knurpsen die Abriss­bagger am Gemäuer. Was aus dem Musical-Theater, das sich im Februar in den »Berlinale Palast« verwan­delt, dauerhaft werden soll, weiß wohl immer noch niemand so recht. Und die »Arkaden« sind nunmehr ersetzt durch »The Playce« (was wir beschlossen haben, »Plähsie« auszu­spre­chen, wobei wir um fleißige Nach­ah­mung bitten) – im Grunde das gleiche grattlige Einkaufs­zen­trum, nun aber teurer und im Pseudo-Hipster-Gewand, mit Kunst-am-Bau Feigen­blätt­chen. Wo der Foodcourt sich »Manifesto« nennt, und tatsäch­lich als program­ma­ti­sches Statement für die radi­kalste, absur­deste Form des Spät­ka­pi­ta­lismus gelesen werden kann. Baptiste und Moana hätten sich da wohl­ge­fühlt. Als realer, normaler Mensch kommt man sich gelinde gesagt deplat­ziert vor in dieser Geld­men­schen­vi­sion von Welt.
Sprich: Was das Kapital da hinge­klotzt hat, hat sich in nur zwei Jahr­zehnten als durchaus untaug­lich und nicht tragfähig erwiesen. Woraufhin man die Schraube eine Umdrehung weiter dreht und das Gleiche in nochmal hyste­ri­scher probiert.

Die Berlinale hat sich diesen Un-Platz aber nunmal zum Hauptsitz erkoren, und bleibt dabei. Keine Satire hätte sich sinn­fäl­liger die drei aktuellen Haupt­spon­soren ausdenken können: Uber, Armani, ZDF. Eine Verbin­dung aus Tech-Gig-Economy, Hochpreis-Glamour und öffent­lich-recht­li­chem Bildungs­auf­trag.

Berlins Ruf als ach so kreative, junge, avant­gar­dis­ti­sche Stadt beruhte immer darauf, dass es zumindest Viertel gab, in denen man recht sorglos vor sich hindödeln konnte, ohne viel Zeit und Energie zu verschwenden auf den Zwang des Lebens­un­ter­halts­ver­die­nens. Alles war billig, man kam schon über die Runden, und konnte aus Spaß an der Freud an künst­le­ri­schen Dingen rumbas­teln, ohne als ersten Gedanken deren Mone­ta­ri­sier­bar­keit zu haben. Das ändert sich gerade rasant – wenn es nicht eh schon ins Gegenteil gekippt ist.
Man spürt diesen Druck in der Stadt. Spürt ihn auch auf der Berlinale. Und uns beschlich der Verdacht, dass dies nicht ohne Zusam­men­hang ist zu der immer offen­siver performten »poli­ti­schen Haltung« des Festivals.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Inklusion, Nach­hal­tig­keit, Diver­sität sind allesamt äußerst ehren­werte Ziele. Aber man kann sich zugleich des Gefühls nicht ganz erwehren, dass je mehr Aufhebens gemacht wird um Ökologie und Iden­ti­täten, je stärker parallel still­schwei­gend die ökono­mi­sche und tech­no­lo­gi­sche Ausgren­zung wird.
Reguläre Publikums-Tickets kosteten dieses Jahr 15 € (für den Berlinale-Palast gar 18 €), und der Vorver­kauf fand ausschließ­lich online statt, wo viele Vorstel­lungen innerhalb von Sekunden ausver­kauft waren. Das sind für ärmere und technisch schlechter ausge­stat­tete, weniger versierte Menschen nicht uner­heb­liche Barrieren. Und mit einem »Let them eat seitan« ist da nicht geholfen.

VII. Luxuria
Es muss ein Festival-Programm in den letzten Tagen schon sehr zum Rinnsal ausplät­schern, dass selbst Frau Edelmann dem Pflicht­ge­fühl eine Absage erteilt und sie sich von den schaulüs­ternen Lockungen der Retro­spek­tive verführen lässt, anstatt noch einen, irgend­einen aktuellen Film unter­zu­bringen.
Es half der Genuss­sucht da freilich mit zum Sieg, dass es dieses Jahr eine Retro »ohne Zusam­men­hang« gab, in die man wie auf ein Karussell quasi laufend noch aufspringen konnte. Und dass es die einzige Möglich­keit war, noch den winzigen Rest an echten 35mm-Projek­tionen mitzu­er­leben (zual­ler­meist in der Akademie der Künste, die noch nicht mal ein wirk­li­ches Kino ist).

Es kann nicht bloße Nostalgie gewesen sein, dass bei dieser Berlinale E.T., JAWS oder The Last Picture Show zu den mit Abstand eindrück­lichsten Film­erleb­nissen zählten – denn das galt auch für spät Nach­ge­holtes wie Splendor In The Grass und Jakob, der Lügner und am aller­meisten für die Retro-Über­ra­schung Little Fugitive.
Es hatten diese Filme eine größere Dring­lich­keit und Reich­hal­tig­keit, als sie die aller­meisten Beiträge aus dem aktuellen Programm aufbrachten. Wo sehr viel Gutes lief – aber in positiver wie negativer Richtung wenig, das wirklich etwas mit einem ange­stellt hat.

Das zum Retro-Thema ausge­ru­fene »Coming of age« war in anderen Reihen sozusagen live mitzu­er­leben: Das Gefühl dabei zu sein, wenn neue Menschen ihre ersten, wirklich prägenden Kino- und Film­erfah­rungen haben. Mit Kindern im Publikum Filme wie Cinde­r­ella (Gene­ra­tion Kplus) oder E.T. – Der Außer­ir­di­sche (Hommage) ansehen, die immer noch funk­tio­nieren. Nichts Abge­brühtes in den Reak­tionen. Kinder­la­chen, Kinder­tränen, Kinder­schreie im Dunkeln, was gibt es Schöneres? Dieses »Oh shit« vom Kind, weil es Angst hat, wenn bei E.T. – Der Außer­ir­di­sche zur schwarzen Leinwand die ersten, über­ra­schend ominösen Töne von John Williams Score erklingen – und das »Oh shit« der Eltern, weil denen plötzlich jenseits der verklärten Erin­ne­rung bewusst wird, dass sie ihr Kind viel­leicht nicht ganz adäquat vorbe­reitet haben, wie trau­ma­ti­sie­rend dieser Film sein kann.
Das erinnert einen nicht zuletzt daran, was einen selbst einst dem Kino verfallen ließ, und warum man immer und immer wieder zurück­kehrt dorthin, in der Hoffnung, etwas zu finden, das einen ähnlich tief berührt und umkrem­pelt.
Und man spürt durchaus auch aus heutiger Warte noch, dass diese Filme etwas haben, das an Funda­men­talem rührt. Ihre Allge­mein­ver­bind­lich­keit ihrem direkten Draht ins Unter­be­wusste geschuldet ist – und sie »Main­stream« nicht im Sinne des kleinsten gemein­samen Nenners sind, sondern der stärksten persön­li­chen Anknüp­fungs­punkte für viele Menschen.

Es ist zu viel verlangt von Filmen, dass sie die Welt verändern. Nein: Movies don’t change anything. Aber sie können Menschen für ein paar Stunden zu einem gemein­samen Erlebnis, einer gemein­samen Erfahrung zusam­men­bringen. Können sich einschreiben ins kollek­tive Gedächtnis, das kollek­tive Gefühl.
Und das ist so wenig nicht.