24.05.2018
71. Filmfestspiele Cannes 2018

Ausbruch aus der digital verwal­teten Welt

Der Leopard
Russische Nouvelle Vague: Leto

Schwarze Palmen, Carolistas, Kritikerspiegel, andere alternative Bewertungen aus Cannes und Christopher Nolan – Cannes-Notizen, 12. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wie trifft man nun die richtige Entschei­dung? Aus dem Bauch? Aus dem Kopf? Durch Analyse der Fakten? Das sind durchaus berech­tigte Fragen, die leider alle auf falschen Prämissen aufbauen.«
Michael Haber­lander

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Am Morgen vor der Preis­ver­lei­hung hat mich die Kollegin vom ukrai­ni­schen Fernsehen inter­viewt – zu (natürlich komplett falschen) Preis­spe­ku­la­tionen meiner­seits, zur Jury und zur gene­rellen Einschät­zung des Cannes-Jahrgangs. Für den Fall, dass es irgendwer noch nicht gesehen hat, kann man es hier nachholen.

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Am Nach­mittag durfte ich dann wieder beim inzwi­schen tradi­tio­nellen Podcast von critic.de teil­nehmen. Es ergab die Dynamik des Gesprächs, dass wir zu wenig über die guten und viel zu viel über jene Filme sprachen, an denen zumindest ein Teil der Runde etwas auszu­setzen hatte. Wer Lust hat, kann das knapp zweis­tün­dige Gespräch mit dem Leitmotiv »gute Propa­ganda, schlechte Propa­ganda« hier nachhören,

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Die Freunde von critic.de vergaben am Morgen auch erstmals ihre eigenen Palmen.
Die Goldene Palme bekommt Lazzaro felice von Alice Rohr­wa­cher, den ich leider, leider auch am Nach­holtag nicht sehen konnte. Ich glaube, dass mir der Film sehr gut gefällt, aber wenn ich bei critic.de lese, »Alice Rohr­wa­cher … weiß, dass die Musik nicht denen gehört, die sie spielen, sondern nur denen, die ihrer würdig sind«, dann bekomme ich vor lauter Pathos schon wieder einen kleinen Schreck.
Der Großer Preis der critic.de-Jury geht an Sorry Angel von Christoph Honoré – ein Fehlgriff. Der Film war gut, aber im Wett­be­werb gegenüber anderen Werken keines­wegs heraus­ra­gend.
Und auch im Film, der von critic.de den »Preis der Jury« bekommt, BlacKkKlansman von Spike Lee, kann ich keines­wegs wirklich besonders tolles Kino oder ästhe­tisch Heraus­ra­gendes entdecken. Ein Satz wie »BlacKkKlansman trägt seine poli­ti­sche Relevanz vor sich her, aber bewegt sich dabei niemals gegen das Kino, sondern immer mit ihm« klingt gut, aber verrät doch, dass es hier eben um Politik geht, nicht um Kunst.
Und auch die »Beste Regie: The Wild Pear Tree von Nuri Bilge Ceylan« scheint mir zu dogma­tisch an Äußer­lich­keiten orien­tiert. Der Film ist einfach noch nicht mal der zweit­beste dieses Regis­seurs, und im Verhältnis nicht unter den Top Five des Wett­be­werbs. Warum diesem Mann den fünften Preis in Cannes geben?
Dass die besten Filme des Wett­be­werbs, Leto, Burning und Ash is the purest White mit Neben­preisen abge­speist werden, oder komplett leer ausgehen, scheint mir da fast schon syste­misch.

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Bemer­kens­wert vor allem, dass der meiner beschei­denen Ansicht nach beste Film – Leto – bei den Kollegen überhaupt nicht vorkommt. Warum? Viel­leicht spielt da doch – bewusst? unbewusst? – die Über­le­gung mit hinein, dass Leto der einzige Film unter den richtig guten ist, der nicht von einem etablierten, in Cannes schon aner­kannten Auteur stammt? Viel­leicht ist das auch eine blöde Unter­stel­lung meiner­seits.
Man muss nicht meiner Ansicht sein, dass wir es hier mit etwas wirklich Neuem zu tun haben, mit einem Ereignis, das man – jetzt komme ich mit Pathos – »Nouvelle Vague aus Russland« nennen kann, nennen muss; mit einem Film, der mit nichts Gerin­gerem als mit Truffauts Jules und Jim vergleichbar ist – für unsere Zeit natürlich, also anders, so wie Truffauts Film ein Film für das Jahr 1962 war.
Aber es fällt (nur mir?) auf, dass man nicht bereit ist, Leto etwas Credit zu geben, wert­zu­schätzen, dass einer hier etwas Neues versucht, auch wenn es viel­leicht nicht zu hundert Prozent gelingen mag. Aber sind die anderen, »preis­wür­digen« Filme fehlerlos? Fehler­lo­sig­keit ist doch das Lang­wei­ligste überhaupt.
Davon abgesehen ist Leto natürlich im Main­stream­sinn unter­halt­samer als viele andere Wett­be­werbs­filme. Spricht viel­leicht das gegen ihn?

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Bei den Franzosen zumindest nicht. Gemeinsam mit En guerre führte Leto den fran­zö­si­schen Kriti­ker­spiegel am Schlusstag an. Geholfen hat es beiden nicht.

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Im Vergleich zu den Wünsch-Dir-was-Palmen ist der Kriti­ker­spiegel der critic.de-Kollegen ergie­biger, weil viel diverser. Noch span­nender aber ist, glaube ich, der Kriti­ker­spiegel »Todas las Criticas« vom Argen­ti­nier Diego Lerer – schon weil hier viel mehr Diffe­ren­zie­rung möglich ist, aber auch wegen der Inter­na­tio­na­lität der Besetzung. Und weil ein Algo­rithmus schon unschlagbar ist, mit dem in Echtzeit immer der Durch­schnitts­wert für einen Film und für die jeweilige Sektion, aber auch die Durch­schnitts­note des jewei­ligen Bewerters, also quasi sein Wertungs-Tempe­ra­ment, ausge­rechnet und abge­bildet wird.

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Die zwei Abende vor der Preis­ver­lei­hung waren für mich von den Spaniern geprägt. Am Donnerstag lief ich nach Nadine Labakis Film Violeta aus Barcelona über den Weg, die mit Jose Luis und einigen anderen unterwegs war. »Oh, gut dich zu sehen, komm doch mit zur ›Carolista-Feier‹.« – »'Carolista-Feier'?« fragte ich. Das einzige, an das mich der Begriff spontan erinnerte, sind die Carlisten, ille­gi­time Monar­chisten des 19. Jahr­hun­derts, deren Enga­ge­ment in zwei Carlisten-Kriege mündete.
»Nein, nein, Caro­listen – das ist etwas ganz anderes. Wir haben damit ange­fangen, als Todd Haynes Film Carol 2015 in Cannes lief – und überhaupt keinen Preis gewonnen hat. Wir fanden den Film so toll!! Und darum treffen wir uns jetzt jedes Mal in Cannes für einen Abend und trinken zusammen auf Carol!«
So fand ich mich dann gemeinsam mit sieben Spaniern in einem Appart­ment wieder, in dem drei von ihnen wohnen, und das direkt über dem »Le Crillon« noch viel besser gelegen ist als unseres. Und wir tranken Crémant, prosteten auf »Carol« – und natürlich ist dieser lose Zusam­men­schluß auch motiviert von viel Sympathie für das Queer-Cinema und die liberale, tolerante Botschaft des Film.
Seit 2015 haben die Caro­listen aber noch viel Ernst­haf­teres unter­nommen. Am 12. und 13. gab es an der Univer­sität des kata­la­ni­schen Girona und im dortigen »Cinema Truffaut« die von den Caro­listen geplante und veran­stal­tete erste film­wis­sen­schaft­liche Konferenz zu »Carol«: »Einen Film denken«.
Im Programm, das ich natürlich schnell in die Hand gedrückt bekam, steht José Luis mit einer Film­ana­lyse, Violeta hielt einen Vortrag über »Den Blick von Todd Haynes«, ein anderer Vortrag hieß »Von Patricia Highsmith zu Todd Haynes«, Eulalia Iglesias, mit der ich im Januar in Genf zusammen in der Jury war, sprach über »das Erbe des Frauen-Films in Carol« und so weiter. Hoffent­lich gibt es die Vorträge irgend­wann in Buchform.
Man sieht: Cannes hat Folgen!
Einen Tag später ging es dann mit den Spaniern weiter.
Nach dem dreis­tün­digen türki­schen Wett­be­werbs­film von Nuri Bilge Ceylan (The Wild Pear Tree) hatte ich mich eigent­lich mit den Türken treffen wollen. Aber die mussten entweder gleich eine Meldung schreiben, oder ihr Interview mit dem Regisseur vorbe­reiten – da kam das nächste Angebot, mit den Spaniern mitzu­gehen – zum gemein­samen Cannes-Abschluss­abend­essen und -trinken. Dabei waren auch Alejandra aus Uruguay und Javier Porta Fouz, seit zwei Jahren Direktor des Buenos Aires Film­fe­sival »Bafici«, eines der besten Film­fes­ti­vals der Welt – nicht nur, weil dort auch meine beiden Filme gelaufen sind.

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Es war lustig mit den Spaniern vor der Preis­ver­lei­hung über die Preise zu speku­lieren. Vergeben wurden bei Pizza, Bier und Rotwein die »Schwarzen Palmen« – also das Worst-Case-Szenario aus unserer Sicht, aber eines, das nicht voll­kommen aus der Luft gegriffen war, sondern noch eini­ger­maßen realis­tisch.
Was kam dabei heraus?
Goldene Palme für Capernaüm von Nadine Labaki; »Großer Preis der Jury: En guerre von Stephane Brizé; Beste Regie: Sergej Dwort­sewoi (für Ayka); Preis der Jury: Three Faces von Jafar Panahi.
Hier im Caiman kann man die Besten-Listen der Spanier nachlesen.«

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»Kinofilm ist eine Analogie dessen, was unsere Augen sehen«, erklärte Chris­to­pher Nolan (Dunkirk, Inter­stellar), »er blinzelt, denn zwischen den Bildern kommt ein kleines bisschen Schwarz.« Oscar-Preis­träger Chris­to­pher Nolan war noch nie in Cannes. Jetzt hatte man Nolan einge­laden, um eine »Leçon du Cinéma«, also eine Master­class zu halten, und um die restau­rierte Version von Stanley Kubricks Klassiker 2001 vorzu­stellen. »Wir müssen das Kino im Taumel der Algo­rithmen bewahren – zumindest alte Filme sollten so vorge­führt werden, wie sie gedreht wurden.«
Die »Netflix-Debatte« der letzten Wochen war bestimmt mit ein Grund, Nolan einzu­laden. Der Regisseur hatte wieder­holt Kritik am Streaming-Dienst geübt. Netflix habe eine »bizarre Abneigung dagegen, Kinofilme zu unter­s­tützen«, sagte Nolan bei einem Interview. In Cannes blies er dann ins gleiche Horn: Für Strea­ming­platt­formen wolle er nicht arbeiten. Kino sei das ulti­ma­tive Film­erlebnis, einschließ­lich des Film­ma­te­rials: »Für mich ist Film das umfas­sendste und emotional invol­vie­rendste Werkzeug, um die Zuschauer in die Geschichte hinein­zu­ziehen.«
»Man kann von Stanley Kubrick vieles lernen«, beschrieb Nolan dann in Cannes sein großes Vorbild: »Das wich­tigste: Er weigerte sich, sich an Regeln zu halten.« Ein Plädoyer für Anarchie und Ausbruch aus der digital verwal­teten Welt. Und ein bisschen Selbst­be­schrei­bung: »Ich bin nie zur Film­hoch­schule gegangen – um es klar zu sagen: Ich bin da nicht rein­ge­kommen.« Heute aber: »Ich mache immer meine eigenen Filme.« Er habe sich das tech­ni­sche Handwerk selber beigebracht: »Ich weiß genug über jeden einzelnen Job am Set, um für jeden eine richtige Nerven­säge zu sein.«

(to be continued)