31.05.2012
65. Filmfestspiele Cannes 2012

»Welcome to socialist France ... quit the fucking past!«

Paradies: Liebe
Ulrich Seidls Paradies: Liebe: haarscharf vorbei an diversen Abgründen
(Foto: Neue Visionen Filmverleih GmbH)

Ohne Schleier, aber mit Flausen im Kopf: Strümpfe, Stümpfe, andere Frauenfragen und Menschenfeinde an der Croisette – Cannes-Tagebuch, 1. Folge: Mittwoch, Donnerstag, Freitag

Von Rüdiger Suchsland

Der aller­erste Blick geht aufs Meer. Sehr oft werden wir da nicht mehr hinschauen, an den nächsten zwei Wochen. Irgendwie zu friedlich sieht es aus, das Mittel­meer im gleißenden Sonnen­licht: unschuldig, erwar­tungs­voll. Aber auch vertraut. »Es ist ja ein bisschen, wie nach Hause kommen, hier in Cannes« hat eine Kollegin am Vorabend des Beginns der Film­fest­spiele beim Essen gesagt. Nun ja, mein Zuhause und ihres sowieso, sieht glück­li­cher­weise ein bisschen anders aus, als das schattige Zimmer, das kaum größer ist, als das fran­zö­si­sche Bett, das drin steht, und in dem ich die nächsten 14 Tage wohnen werde. Aber ich weiß schon, was sie meint, klar: Man kennt die Bars und über­teu­erten Restau­rants, in denen wir essen werden, man kennt den Super­markt und den Zeitungs­stand, man weiß, wo man sich eine fran­zö­si­sche Sim-Card besorgt und die Wege im Palais du Cinema, die kennt man sowieso. Zum zehnten Mal Cannes, das heißt, ich habe schon fast ein halbes Lebens­jahr in dem Trubel verbracht.

Jeder hat da so seine Rituale. Zu meinen gehört, dass ich die Freunde und Kollegen, die ich treffe, frage, worauf sie sich am meisten freuen: Da ergibt sich ein buntes Bild. Jacques Audiard wird genannt, »auf die Ameri­kaner bin ich gespannt«, sagt eine deutsche Redak­teurin, die Neben­reihen nennt dagegen keiner. Etwas schade, dass sie so links liegen gelassen werden. Ugo aus Verona nennt Rivette. Dana vom »Filmkrant« aus Holland sagt Haneke, und dann kommen wir beide lachend auf die Frage, ob das am Ende was mit ihrem Unter­be­wussten zu tun hat: Schließ­lich soll es in Hanekes neuem Film um das selbst­be­stimmte Sterben eines alten Paares gehen – und in Holland sind die Gesetze zu Ster­be­hilfe und beglei­tetem Freitod so frei­heit­lich wie nirgends sonst.
Meine eigene Antwort ist entweder allgemein – die Filme außer Konkur­renz von Miike, Dario Argento, die »Cannes Classics« von Sergio Leone und David Lean – oder sehr konkret: Ohne genau zu wissen, warum, freue ich mich sehr auf David Cronen­bergs Cosmo­polis.

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Am Morgen geht es los mit dem Eröff­nungs­film: Wes Andersons Moonrise Kingdom. Vertrautes Gelände. Meine Erwar­tungen sind gering, denn Andersons ist alles andere als mein Lieb­lings­re­gis­seur. Gespannt bin ich höchstens darauf, wie Bruce Willis, weiterhin der amtie­rende Action­könig des ameri­ka­ni­schen Kinos, die Heraus­for­de­rung eines überaus gekün­s­telten, verkitschten Inde­pen­dent-Films meistert. Mal sehen. Immerhin läuft Moonrise Kingdom im Gegensatz zu den meisten Eröff­nungs­filmen auch im Wett­be­werb.

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Dann aber echte Wow-Momente! Wer hätte das gedacht? Es gibt kaum eine bessere Erfahrung, als meine sehr persön­liche mit diesem Eröff­nungs­film: Da mag man einen Regisseur eigent­lich überhaupt nicht, sitzt entspre­chen kühl abwartend im Kino, und plötzlich findet man etwas von ihm total super. Toll, schön, dass einem das weiterhin passiert.
Und zugleich kurz der Gedanke: Das kann ja heiter werden, wenn jetzt jeder Film die Erwar­tungen derart unter­läuft, wie Anderson.

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Woody Allen ist übli­cher­weise ein Stammgast im Wett­be­werb von Cannes. Merk­wür­di­ger­weise lief sein neuester Film, To Rome with Love, bei dem es sich um eine moderne Version von Bocaccios klas­si­schem Renais­sance-Liebes­reigen »Deca­me­rone« handeln soll, aber bereits vor zwei Wochen in Italien an, wo der Film auch produ­ziert wurde – damit ist er trotz Stars wie Penelope Cruz, Roberto Benigni und Alec Baldwin für Cannes verbrannt. Trotzdem fehlt der witzigste Regisseur des ameri­ka­ni­schen Kinos nicht an der Croisette: Woody Allen: A Docu­men­tary heißt Robert B. Weides Doku­men­tar­film über Persön­lich­keit und Schaffen des Kult­re­gis­seurs, die im Rahmen der Spezi­al­reihe »Cannes Classics« präsen­tiert wird. »Was Sie schon immer über Woody Allen wissen wollten« trompetet das Marketing – doch da der Filme­ma­cher mit diesem Projekt koope­riert hat und an der Cote d’Azur sogar für Inter­views zur Verfügung steht, darf man keine großen Enthül­lungen oder Tabu­ver­let­zungen erwarten, vermut­lich auch keinen »alle­nesken« schwarz­bösen Humor bei der Betrach­tung seiner Haupt­figur. Der Film, für den der Regisseur den als überaus scheu geltenden Allen zwei Jahre lang beglei­tete, ist ein kurz­wei­liges Kino­er­lebnis, gesäumt von viel Archiv­ma­te­rial und Ausschnitte aus Allens Komödien.

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Kurz darauf ging der Wett­be­werb gleich weiter mit einem Film, der in jeder, wirklich jeder Hinsicht das Gegenteil von Moonrise Kingdom war. After the Battle von Yousry Nasrallah ist sozusagen Cannes' verspä­tete Verbeu­gung vor dem Arabi­schen Frühling, der inzwi­schen zu einem Winter des Miss­ver­gnü­gens geworden ist. Nasrallah beschwört noch einmal das brodelnde Klima vom Kairoer Tahrir-Platz im Januar/Februar 2011. Das ist dort sehens­wert, wo er in seine völlig fiktio­nale Insze­nie­rung doku­men­ta­ri­sche Bilder eingebaut hat. Man spürt die Inten­sität und Energie des Aufbruchs. Inter­es­sant sind auch bestimmte Beob­ach­tungen: Etwa die mediale Präsenz des Aufstands. Ob im Fernsehen, im Radio, ob über Mobil­te­le­fone und Internet-Netzwerke, ob in den Gesprächen der Leute, ob beim Blick aus dem Fenster – keiner der seiner­zeit in Kairo lebte, und sich nicht ohne Medi­en­ver­bin­dung in sein Zimmer einschloss, konnte den Ereig­nissen entkommen.

Der Rest des Films ist aller­dings völlig wertloser, naiver Natu­ra­lismus. Mit mise­ra­blen Schau­spie­lern erzählt After the Battle von der Liebe einer reichen Frau zum Prole­ta­riat: Zunächst verguckt sich die frisch geschie­dene moderne Rheem in einen verhei­ra­teten Arbeits­losen. Als die aufkei­mende Romantik zu stocken beginnt, denn Prole­ta­rier sind konser­vativ, beginnt sie sich um seine Familie zu kümmern, und wird zu einer Art guter Fee der Ernied­rigten und Belei­digten im Armen­viertel Nazlet, unweit der Pyramiden. Das kann nicht gutgehen, zumal Rheem, auch noch mit der Revolte sympa­thi­siert und moderne Gedanken verbreitet, bald aber merken muss, dass man die als »ameri­ka­ni­sche und zionis­ti­sche Ideen« diffa­miert, und dass das so reak­ti­onäre wie dumme Volk gar nicht befreit werden möchte, erst recht nicht von höheren Töch­ter­chen ohne Schleier, aber mit Flausen im Kopf. Denn deren böse Väter zahlen besser, wenn sie Schlä­ger­trupps brauchen, um die Demons­tranten zu verprü­geln. Die Welt ist also auch in Ägypten so schlecht wie immer, darum kehrt Rheem in ihr Appar­te­ment zu ihrem apple-iBook und ihrem Mulhol­land Drive-Poster zurück.
Am besten gefiel mir noch der böse dicke Reiche, der auf dem Laufband schwit­zend abspeckt, während er Dialog-Sprüche aufsagt wie »The country will exactly be what it was, but without Hosni Mubarak.« Oder »Dont shit where you eat.« Und der ansonsten für den Ernstfall im Pfer­de­stall ein beein­dru­ckendes Waffen­lager hortet, mit Hand­gra­naten und Uzis.
Das ist natürlich nur im Kino lustig.

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»Da muss man gar net drüber schreiben«, meinen unsere öster­rei­chi­schen Freunde am nächsten Morgen, »der kann’s eh nicht besser. Der Audiard aber, der kann’s besser, darum muss ma den verreißen.«

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Stimmt..., ja..., leider. Doch... Der hier hoch gehan­delte fran­zö­si­sche Autoren­filmer (Un prophète) machte den ersten Film im Wett­be­werb, der die Gemüter spaltete, und enttäuschte gerade die Hälfte all derje­nigen, die von ihm besonders viel erwar­teten. Die andere Hälfte mochte den Film genau deshalb, weil er wieder lieferte, was ihnen gefällt.

Ich selbst mochte Jacques Audiards Filme, war aber nie so enthu­si­as­tisch, dass ich nun mit irgend­wel­chen Offen­ba­rungen rechnete. Insofern ist De rouille et d’osRust and Bone«) für mich nur eine leichte Enttäu­schung, weil ich Un besser fand. Zugleich aber bestätigt der Film auch Stärken wie Schwächen dieses Filme­ma­chers. Gerade die Haupt-Schwäche, die schon immer sichtbar war, das Konstru­ierte der Story und ein schwerer, tragi­scher Symbo­lismus von allem und jedem, kommen diesmal deut­li­cher heraus.

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Die ersten Worte heißen »J'ai faim«/»Ich hab Hunger«, die letzten gut zwei Stunden später »Je t'aime«/»Ich liebe Dich«, und diese zwei Eckpfeiler markieren den Bogen und den Gang der Dinge. Die ersten Bilder zeigen Wasser, Blut darin, ein Baby, man glaubt zu wissen, aber weiß doch nix, wie man erst später begreift. Dann Schnitt, ein junger Vater mit seinem kleinen Sohn, sie sind ein bisschen schmutzig und machen Autostop. »Oh je, Elend« notierte ich, noch bevor der Junge dann jammert: »Ich hab Hunger«. Der Vater hat kein Geld, er sammelt im Zug zurück­ge­las­senes Essen, ein kleiner mora­li­scher Seiten­hieb auf die böse Wohl­stands­ge­sell­schaft und Essens­weg­schmeißer, es wird nicht der letzte bleiben. Dazu Kitsch-Musik; klimper, klimper. Der Vater, inzwi­schen sind sie an der Cote, stiehlt auch noch einen Foto­ap­parat, nur um dem Bub wieder ein Spielzeug zu kaufen. Er liebt seinen Sohn, das wird voraus­bli­ckend deutlich etabliert.

Es fängt also ganz blöd an, wird aber dann besser. Der Typ heißt Ali, und zieht mit dem Sohn, den er von einer unsicht­baren bösen Mutter geholt hat, zu seiner Schwester. Die arbeitet in Antibes in einem Super­markt an der Kasse, im Kühl­schrank gibt es viel Joghurts und andere abge­lau­fene Ware, auch das wird deutlich etabliert, auch das wird wichtig.

Ali kann kickboxen, sonst nicht viel, also wird er Sicher­heitstyp, steht an einer Discotür. Dort lernt er eine junge Frau kennen, als die verprü­gelt wird. Er bringt sie nach Haus, sagt ihr, sie sähe aus »comme une pute«, sie findet ihn auch sonst ganz nett.

Jetzt sind wir und die Kamera eine Weile bei ihr. Stephanie arbeitet in der Wal-Show von Mari­ne­land, und diese Minuten, in denen Audiard die erste Show zeigt, sind mit die besten des ganzen Films: Man guckt einfach zu bei den Übungen, sieht die riesigen Tiere und ihre Kunst­stücke, und spürt Stepha­nies geradezu zärt­li­ches Verhältnis zu ihnen, spürt auch die Gefahr, die dabei immer in den »Killer­walen« liegt. Das ist wirklich toll gemacht, wie hier diese Gefahr ange­deutet wird, wie bei Audiard immer, etwas zu deutlich, quasi mit Ansage, trotzdem in diesem Fall gut, denn es über­rascht dann doch, wenn plötzlich einer der Wale aus dem Bassin schießt, die Plattform auf der die Dresseure stehen, zerschmet­tert, und Stephanie plötzlich im Wasser ist, und Blut darin. Remember? Erstes Bild!

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Als sie aufwacht, hat sie keine Beine mehr, auch das dauert einen Moment, bis man es als Zuschauer merkt, zumal Stephanie von Marion Cotillard gespielt wird, die, das muss auch mal gesagt sein, hier super ist. Gar nicht so zuckersüß und aller­welts­hübsch wie sonst, natürlich gut aussehend, aber mit einem harten, prole­ta­ri­schen Zug. Und wie gesagt: Ohne Beine. Wirklich ohne Beine, nur mit zwei hässlich vernarbten Stümpfen am Knie! Es dürfte mit einigem Abstand viel­leicht das größte Problem dieses Films sein, dass man sich dauernd, bei jeder neuen Szene, die die nackten Bein­s­tümpfe der Cotillard ausstellt, fragt: Wie ham sie das jetzt gemacht? Zumal vieles draußen spielt, man Haut sieht, das Wasser, den Körper von Sam, der sie ins Wasser trägt. Natürlich: CGI, Cotillard hatte grüne Strümpfe an, am Computer ist heute alles möglich. Aber es lenkt eben ab, so wie 3D. Und das subtile Ausstellen dieses Effekts, der spürbare Macher­stolz, tun ein Übriges.

Audiard hatte schon in Un prophète eine Schwäche für Körper-Diskurse, für Varianten von Muskeln und Fleisch, und ein bisschen erscheint dies hier alles als Selbst­zweck.
Sam rückt wieder ins Zentrum, er wird gespielt vom Belgier Mathias Schoenaerts, dem Star von Bullhead und in mancher Hinsicht ist De rouille et d’os eine Art Bullhead II. Auch Ali ist ein Schweiger, auch er wird etwas zu schnell wütend, auch er kann vor allem zuschlagen, auch er ist innen ganz zart, kann aber nicht über Gefühle reden.

Und so nimmt alles seine Lauf: Die beiden werden ganz lange kein Paar, sind nur »gute Freunde« nicht ohne Gele­gen­heitssex mit Bein­s­tümpfen. Dafür verdient Ali Geld als Boxer – da zeigt uns Audiard mal einen blutigen Zahn. Allein im Bild. Ach nee, warum nur? – sie wird seine Managerin. Irgend­wann aber müssen die losen Neben-Erzähl­fäden wieder aufge­nommen werden, darum wird Alis Schwester vorher­sehbar entlassen, sie macht vorher­sehbar zu Unrecht Ali dafür verant­wort­lich, Ali haut vorher­sehbar schwei­gend ab.

Es folgen zwei Epiloge, die diesen durch­wach­senen Film auf hohem Niveau endgültig kaputt machen: Zuerst bekommt Ali Besuch von Sohn Sam. Ein Winter­spa­zier­gang im Schnee, doch als er mal kurz beim Pinkeln wegguckt, ist der Sohn prompt ins Eis einge­bro­chen. Doch dann hilft diesem Nichts­nutz­papa seine dumme, saublöde Kraft am Ende doch noch, indem er den Bub wieder heraus­holt, indem er das feste Eis einfach per Hand aufprü­gelt. Nochmal Wasser und Blut, remember again? Erstes Bild!

Und dann dient das Unglück in der Kälte auch noch dem emotio­nalen Auftauen: »Je t'aime« sagt er am Telefon zu Stephanie. Und Bilder unter Musik­ge­klimper zeigt uns, wie Gott ihn belohnt: Ali wird Welt­meister in wasauch­immer und wohnt mit Klein­fa­milie plötzlich im Sheraton...

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Hm. Wieviel Kolpor­tage da drin steckt, merkt man erst später, wenn man zum Nach­denken kommt: Zwei Ungleiche, die trotz vieler Hinder­nisse zusam­men­finden. Die gute Leistung der beiden Haupt­dar­steller wird ein bisschen durch die allzu absehbare Handlung über­la­gert. Die Moral des Films reduziert sich darauf, dass man auch als Krüppel glücklich sein kann, und dass Frauen es generell toll finden, wenn Männer nett zu Kindern sind. Aber das wussten wir schon vor diesem Film.
Ansonsten nutzt es auch nichts, dass der Regisseur im Pres­se­heft an die Roman­vor­lage von Craig Davidson erinnert, an die »Ästhetik der Großen Depres­sion«. Und wenn man sowas mal mit Antonioni vergleicht, oder anderen, die früher im Cannes-Wett­be­werb liefen, ist es endgültig Müll.

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Kuriose Folge am Rand: Den ganzen Tag über sehe ich jetzt plötzlich überall Menschen ohne Beine. Der eine sitzt aber nur im Schnei­der­sitz beim Schreiben, im andern Fall hat einfach ein Möbels­tück den Blick auf die Unter­schenkel verdeckt.

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Noch in paar weitere Stimmen zu unserer Privat­um­frage, auf welchen Film sich die Kollegen hier am meisten freuen: Janet Baris aus Istanbul, die zum ersten Mal in Cannes ist, nennt Haneke an erster Stelle, dann Matteo Garrone, und Abbas Kiaros­tami, obwohl der ja in Japan gedreht hat. Hoffen wir, dass Janet recht hat. Josef Lederle aus Köln sagt dagegen : Im Sang-soo.

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Dann 'rüber, zur Eröffnung der Sektion »Un Certain Regard«. Es läuft zunächst einmal ein schreck­li­cher pro-Haiti-clip. »Artists for peace and justice«. Ach was. Warum nicht »for war and injustice«, das wär' wenigs­tens was. Bitte bitte, Herr, gebe uns Zeiten, in denen Künstler wieder Verei­ni­gungen gründen, die geschei­tere Titel haben.
Sean Pean macht mit und Paul Haggis – und genau so allge­mein­ver­bind­lich deppert sind auch deren Filme.
Dann bitte der »Künst­le­ri­sche Direktor« von Cannes die Jury nach vorne, stellt vor, die hübsche gucke ich mir ganz genau an, und dann bekommt Jury­prä­si­dent Tim Roth das Wort: Er sagt die üblichen Plati­tüden, aber dazwi­schen: »By the way: Welcome to socialist France ... quit the fucking past!«
Genau!

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Der Eröff­nungs­film dieser zweiten offi­zi­ellen Sektion ist dann der neue Film von Lou Ye, dem sehr eigen­wil­ligen Chinesen, der hier schon zweimal im Wett­be­werb vertreten war, mit Summer Palace (2006) und Spring Fever (2009). Einer meiner persön­li­chen Lieb­lings­re­gis­seure, ein Vertreter der Sechsten Gene­ra­tion, poli­ti­scher, als viele Kollegen. Er hat gerade ein fünf­jäh­rigres Berufs­verbot hinter sich. In dieser Zeit hat er aller­dings zwei Filme gemacht – »das war« wie er sagt, »meine art zu zeigen, dass ihr Bann undurch­setzbar war.«

Mystery ist eine komplexe Bezie­hungs­ge­schichte über eine Frau, die dahinter kommt, dass ihr Mann ein Doppel­leben führt, und mit einer anderen noch ein Kind hat.
Im Prinzip ein Portrait chine­si­scher bour­goiser Thir­ty­so­me­things. Ein melan­cho­li­scher Film, erfüllt von ganz viel Leben.

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Gleich muss ich in den nächsten Film, aber im Pres­se­raum kommt es zu einer lustigen, sehr spre­chenden Verwech­se­lung: Ich treffe eine Kollegin, die ich ein paar Stunden zuvor in Fatih Akins sehr ernst gemeintem Ökodrama Müll im Garten Eden gesehen hatte: Ich will wissen, wie sie den Film fand, fange aber, statt zuzuhören gleich selber an zu reden: »In dem Film steckt ja auch 'ne Provinz­komödie drin.« sage ich, »Und wie dann der Damm bricht am Ende, und die Flut kommt, das ist ja absurd. Wie in einer Klamotte. Aber der Film ist viel zu lang, und kommt nicht richtig auf den Punkt. Da stecken eigent­lich drei Filme drin.« Sie nickt immer mit dem Kopf und ist ganz meiner Ansicht, bevor wir nach etwa drei Minuten doch darauf kommen, dass sie die ganze Zeit über glaubt, ich spräche vom neuen Ulrich-Seidl-Film, Paradies: Liebe, den sie selbst gerade gesehen hat. Ich gehe aber erst später rein. Aber man könne das alles, versi­chert sie, tatsäch­lich auch über den neuen Seidl sagen. Ich würde schon sehen...

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Wir wollen unseren Seidl natürlich nicht missen. Ich gucke mir jeden Seidl an, aber inzwi­schen hat das auch etwas Maso­chis­ti­sches. Man weiß: Man wird jetzt etwas sehen, was man nicht sehen will.

Ulrich Seidl ist dennoch auch der Kulmi­na­ti­ons­punkt eines gewissen Kinos, das zwar unbedingt sehens­wert ist, dass fast alle von uns aber auch ein bisschen fürchten: Die Elends­filme, deren Regis­seure unserer Ansicht nach insgeheim Mensch­heits­feinde sind, die auch ihr Publikum leiden sehen wollen.

Sie stehen absolut unter Misan­thropie-Verdacht. Im Wett­be­werb von Cannes finden sich in diesem Jahr gleich mehrere solche Menschen­feind-Regis­seure, die mit diesem Typ Film ihre Karriere gemacht haben: Seidl ist nur der erste in der Reihe: Es folgen noch Christi Mungiu, Carlos Reygadas, und Sergej Loznitza.

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Glaube, Liebe, Hoffnung – diese Drei­ei­nig­keit des Katho­li­zismus unter­sucht Ulrich Seidl in seinem neuen Projekt, das uns im ganzen folgenden Jahr noch weiter beschäf­tigen wird. Es sind gleich drei Filme, die er gerne alle drei in Cannes gezeigt hätte, aber Thierry Fremaux wollte offenbar nicht, und tatsäch­lich denkt man: Einer ist erstmal wirklich genug. Wobei die Idee eines Tryp­ti­chon über Religion, bzw. religiöse Motive natürlich ihren Reiz hat. Paradies: Glaube soll von einer katho­li­schen Missio­narin erzählen, Paradies: Hoffnung von einem Teenager-Mädchen in einem Diätcamp. Nur dass dies alles wenn man halbwegs bei Sinnen ist, nicht anders, denn als Ironi­sie­rung reli­giöser Motivik verstanden werden kann. In Paradies: Liebe erzählt Seidl nahe an einem Doku­men­tar­film von einer Gruppe von älteren Frauen, die in Kenia Urlaub machen – als Sextou­ris­tinnen.

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Dies ist nicht der erste Film zum Thema – denken wir an Vers le sud – aber der prole­ta­rischste: Die Schwarzen heißen hier Neger, und gleich nach dem Film notiere ich mir: Wenn die Neger auch noch singen würden, könnte dieser Film immer wieder eine faschis­ti­sche Revue sein. Das ist natürlich ein hartes Urteil, aber wie soll man es denn sonst nennen, wenn drei Afrikaner in einem Schwimmbad – schön Schwarz auf Blau – bei gleißendem Sonnen­schein auf exakt gleicher Höhe im gleichen Tempo nach vorn schreiten. Wenn sie am Ende rhyth­misch das Rad schlagen. Wenn sie dazwi­schen schwei­gend und bewe­gungslos auf einer Linie stehen und in die gleiche Richtung gucken. Es gibt noch mehr von solchen Ballett­mo­menten, wo alles, vor allem Schwarz­afri­kaner und Möbel so hübsch ordent­lich aufge­stellt sind.

Und wenn auch noch die schönen nackten Männer­körper und ihre langen Schwänze ausge­stellt, pardon: ins Bild gesetzt werden, denkt man spätes­tens auch an Leni Riefen­stahl und die Nuba. Wohl­ge­merkt: Damit möchte ich Seidl keinen Faschismus-Vorwurf machen, das liegt mir fern. Aber man muss fest­stellen dürfen dass es ästhe­ti­sche Anklänge gibt, und dass Seidl an manchen Abgründen nur ganz haar­scharf vorbei schrammt.

Ähnlich, von der anderen Seite kommend, scheint es auch der Kritiker von »Variety« empfunden zu haben: »Salo mit Sonnen­brand« schrieb er – das können nur puri­ta­nisch verschreckte Ameri­kaner schreiben. Schön wär’s, denke ich.

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Der arme Ed Lahman hab ich gedacht, weil der doch mehr anar­chis­tisch veranlagt ist, und wo haben wir hier noch irgend­einen Anar­chismus? Paradies: Liebe ist zual­ler­erst einmal über­ra­schend lang­weilig. So ging’s mir noch nie mit Seidl. Der Film zieht sich ungemein.
Es geht zwar los mit einer tollen Szene und dem ersten echten Seidl-Bild: Eine Gruppe von Mongo­lo­iden fährt Auto­scooter. Dann sieht man deren Betreuerin, sie schleppt Tüten. Verab­schiedet sich von Tochter und Schwester – das werden dann die Haupt­fi­guren der nächsten Filme. Dann Afrika. Typische Seidl-Bilder: Wohl­ge­stylte Halb­to­talen. Die Haupt­figur Theresa reinigt ihr Zimmer mit Desin­fi­zier­spray. Sie lernt andere allein­rei­sende Frauen ähnlichen Alters kennen.

Gespräche über den eigenen, zunehmend unat­trak­tiven Körper: »Ich scheiß mi nix mehr. Jetzt nehms' mi so, wie i bin.« Der Zynismus den diese Frauen sich selbst, ihrem eigenen Körper gegenüber haben, gefällt mir ganz gut. Da mag Seidl später noch zehnmal sagen, dass er diese Leute alle wahn­sinnig liebt und schön findet, aber er muss doch konsta­tieren, dass sie es selber nicht tun. Inter­es­sant wäre es, den Film vor lauter Frauen zu zeigen, die genau so drauf sind. Deren Reaktion sähe ich gern.
Gespräche über den Reiz des Fremden. Was die Afrikaner für die Frauen attraktiv macht, ist dass sich die Frauen wieder begeh­rens­wert fühlen dürfen.

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Für Seidls Verhält­nisse ist alles recht straight­for­ward erzählt. Main­stream fast. Es geht um Einsam­keit, ja klar. Sagt Seidl dann auf der Pres­se­kon­fe­renz selber. Aber bitte­schön um was denn auch sonst? In Seidls Filmen (und in gefühlt 70% der übrigen Autoren­filme) geht’s immer um Einsam­keit. Das ist banal, und es ist enttäu­schend banal, was der Regisseur zum Thema zu sagen hat.
Nämlich, dass die Frauen auch als Sextou­ris­tinnen immer einsamer werden. Dass sich Afrika entzieht, wie die Affen auf dem Balkon – die Erfahrung wird Theresa machen, und zur richtigen »Suger Mama« werden, die sich ihre »Beach Boys«kauft. Und dass die Ökonomie am Ende am mäch­tigsten ist.
Der Film könnte also auch einfach heißen: »Theresa oder: Die Inter­essen einer blonden Weißen können nicht die Inter­essen der Afrikaner sein.«

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Natürlich muss man hier auch die Klas­sen­frage stellen. Die Frauen sind Klein­bürger- bis Unter­schicht. Zu Hause. In Afrika werden sie plötzlich zur Ober­schicht, weil es hier Menschen gibt, die sozial noch weit drunter stehen. Die Opfer werden zu Ausbeu­tern. Das sagt Seidl sehr deutlich, und damit auch: Der Mensch ist schlecht, entspre­chende Abgründe schlum­mern in uns allen. Das finde ich banal, weil tausendmal gehört. Wichtiger noch: Mich inter­es­siert’s nicht, und zwar, weil mich der Regisseur zu sehr auf Distanz hält.

Die Leute reden hier, wie sie eben reden. Die Öster­rei­che­rinnen sagen Worte wie »Blun­zen­gröstl«, die Afrikaner rade­bre­chen wie in Onkel Toms Hütte: »Keine mehr Liebe.«

Der, der das macht, redet so aber nicht. Er ist ein Groß­bürger und Intel­lek­tu­eller, der Filme für seines­glei­chen dreht. Was er natürlich darf und andere auch tun. Aber ein Haneke oder Resnais oder Desplechin oder viele andere machen dann auch Filme über ihres­glei­chen, und wenn sie, wie Woody Allen oder Ken Loach, Figuren aus den »nied­ri­geren Ständen« zeigen, geben sie sie nicht so zwanghaft preis, wie Seidl. Nie tun seine Figuren etwas Uner­war­tetes, Unstan­des­ge­mäßes.

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Was man auch stellen muss, ist die Rassen­frage. Was ich mich nämlich weiterhin frage, ist, ob es ange­messen ist, Seidl Rassismus vorzu­werfen, oder doch ungerecht? Wie er die Afrikaner zeigt, mag das im natu­ra­lis­ti­schen Sinne schon irgendwie stimmen – viele Afrikaner »sind so«, aber es ist doch sehr einseitig. Die Afrikaner sind nur aufs Geld der Weißen aus, sind gerissen, dabei doch naiv, und prosti­tu­ieren sich alle. Hm. Seidls-Afrika-Bild ist ohne jede erkenn­bare Neugier. Ohne jeden Anar­chismus. Darum passt hier die Rede von der Exploita­tion.

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Seidls Bilder sind ausge­zeichnet und hoch­äs­the­tisch. Aber sie zeigen nichts, was man nicht bereits kennen würde, bewegen sich vielmehr oft stark an der Ober­fläche, vor allem wenn er Afrikaner zeigt. Sein Mitleid mit Sextou­ris­tinnen, deren Einsam­keit und Sehn­süchte er ernst nimmt, glaubt man Seidl – und moralisch angreifbar ist es auch nicht, denn er zeigt, dass das Verhältnis zu den Afri­ka­nern ein Geben und Nehmen ist. Dennoch: Es fehlen Über­ra­schungen, es fehlt ein Moment des Suchens in einem besser­wis­se­ri­schen, glatten, aller­dings sehr gut gemachten Film.

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Keine Hand regt sich zum Applaus am Ende der Pres­se­vor­füh­rung. Und man schleppt sich schon am ersten Tag reichlich müde, um zehn Minuten nach Mitter­nacht aus dem Kino. Treffe Diego und die Spanier, Augen­rollen, alle müssen noch schreiben, man geht nur zu McDonalds.
Ich trinke noch ein Bier, zusammen mit meinem Computer, und hacke Notizen in die Tasten. Um einsam zu sein, muss man jeden­falls nicht nach Afrika fahren

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Man möchte danach erstmal duschen, schreibt am nächsten Tag die Variety über Paradies: Liebe. Ich denke zweierlei: Erstens sollte Seidl auch mal mit Kindern arbeiten, wie Wes Anderson, das würde seinen Filmen gut tun. Zweitens: Was mich noch mehr nervt, als die Haltung dem Sujet gegenüber, ist Seidl pene­trante ästhe­ti­sche Pädagogik. Die langen styli­schen Einstel­lungen auf Häss­li­ches, aber von ihm per Kamera Lackiertes. Seidl macht’s mit den Bildern im Grunde nicht anders, wie die Alte mit ihrem Desin­fi­zier­spray. Und diese Bilder sagen dem Zuschauer dauernd: Hier musst Du jetzt gefäl­ligst hingucken.

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»It’s a rotten world«, »es ist eine dreckige verfaulte Welt« sagt die Haupt­figur, ein reak­ti­onärer ortho­doxer Priester in dem insgesamt frag­wür­digen rumä­ni­schen Exor­zismus-Film Beyond the Hill (Dupa dealuri) von Cristi Mungiu, dem zweiten großen Elends­film im Wett­be­werb, der ein typischer »Messa­ge­movie« ist, der um Bedeutung buhlt, und dessen – zuende gedacht: reak­ti­onäre – Botschaft sich hinter den bekannten, längst zur Pose erstarrten Gesten des gegen­wär­tigen europäi­schen Kunst­kinos – Lakonie, lange Einstel­lungen, Verzicht auf Musik, schock­ar­tige Gewalt­akte in uner­war­teten Momenten – gut versteckt.

Zudem ist seine Handlung recht beliebig inter­pre­tierbar und daher konsens­fähig: In einem rumä­ni­schen Nonnen­kloster, überaus karg, ohne Wasser und Strom, versucht eine junge Frau, Alina vergeb­lich, Voichita, ihre beste Freundin, die dort Nonne geworden ist, aus den Klauen eines fana­ti­schen Popen zu befreien. Man nimmt das einsame Mädchen auf, das sich aber bald merk­würdig benimmt. Statt die offen­kun­dige psychi­sche Störung zu behandeln, wird das Mädchen zunächst zur Außen­sei­terin; später prak­ti­ziert der fana­ti­sche orthodoxe Priester an ihr eine Teufels­aus­trei­bung: Sie wird mit Metall­ketten an ein Kreuz gefesselt und gefoltert, man entzieht ihr Nahrung und Wasser, und an der an der gewalt­tä­tigen »Teufels­aus­trei­bung« geht sie schließ­lich zugrunde.

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Der Priester heißt hier »Papa«, eine verrä­te­ri­sche Gleich­set­zung, und nochmal verdop­pelt, da Voichita einst aus dem Waisen­haus kam. Der Papa ist ein reak­ti­onärer Depp und führt schlaue Tisch­ge­spräche mit Gott und sich selbst, die Mädels hören mit großen Augen zu: »The West has lost the true faith ... drugs ever­y­where. When sins are forgiven, man finds peace ... God has a plan for you... God gives us what we want, no what we need. ... God is trusting you.«
Die anderen Nonnen gucken nach­sichtig auf Alina, und geben ihr irgend­wann den Katalog der 464 Sünden der Ortho­doxen Kirche zu lesen.

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Dass ist dann einer der Momente, wo der Film abkippen könnte in eine absurde Komödie, wo die versteckte Komik ausbre­chen könnte. Man sieht geradezu vor sich, was sich aus dem Szenario in der Hinsicht machen ließe. Oder ein trashiger C-Movie, ein rumä­ni­scher Girls-Camp-Film, mit Frauensex und Duschszene. Wein­krämpfen vor der Ikone...

Aber leider gibt es aber auch gar nichts zu lachen. Der Film meint sich selbst gar zu ernst, zumal er in seinen blau-grau-braun-schwarz-Farben einen angeb­li­chen realen Vorgang nach­er­zählt, den die Jour­na­listin Tatiana Niculescu Bran in einem Buch beschrieben hat.

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Dupa dealuri ist im Stil präten­tiös, in der Botschaft mise­ra­bi­lis­tisch. Die Botschaft des Films ist vor allem die, wie schreck­lich die Welt und die Menschen sind. Speku­lativ ist die distan­zierte Machart des Films, die es erst möglich macht, ihn als Metapher auf alles und nichts zu verstehen: Mungiu hält sich bedeckt in Bezug darauf was er uns mit dieser fürch­ter­li­chen, trotzdem recht banalen Geschichte eigent­lich sagen will: Das Panorama der kollek­tiven Hysterie der Nonnen und ihres Priesters kann man als eine Parabel auf reli­giösen Wahn ebenso verstehen, wie als Kritik der Hexen­jagden des Stali­nismus, Kritik poli­ti­scher Funda­men­ta­lismen jeder Art, ebenso aber auch als kultur­pes­si­mis­ti­sche, reak­ti­onäre Abrech­nung mit der liberalen, demo­kra­ti­schen Gesell­schaft der Gegenwart, die der Film nur mit Verach­tung straft.

Man kann sagen: Es geht hier um die Span­nungen zwischen dem Säkularen und dem Spiri­tu­ellen, der Gruppe und dem Einzelnen, innerhalb der mate­ri­ellen Mauern eines Klosters und den psycho­lo­gi­schen Mauern der Religion.

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Ganz ganz ganz schlimm ist aber das Ende: Die Polizei verhaftet Popen und Nonnen, fährt sie mit einem Wagen in die winter­lich verschmutzte Stadt. Unterwegs schimpfen die Poli­zisten. Der letzte Satz: »What a state the world is in...« In dem Moment fährt ein Auto vorbei, und eine große Dreck­pfütze platscht auf die Auto­scheibe, und langsam rinnt der Schmodder die Scheibe herunter.
Damit entlarvt sich Mungiu endgültig als der, der er ist: Ein Exploita­tion-Filme­ma­cher par excel­lence, der effekt­ha­sche­risch sich für nichts Grelles zu schade ist; berech­nend, sensa­tio­na­lis­tisch, menschen- und zuschau­er­feind­lich. Trunken von der eigenen Bedeutung.
Wie Seidl ein Para­de­bei­spiel dafür, wie das Kunstkino längst das wahre Exploita­tion-Kino geworden ist.

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»Tough hill to climb« schreibt Justin Chang in der »Variety«.

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Einmal haben Violeta aus Barcelona neben mir und ich doch gelacht: Als der Pope zur Obernonne den Satz sagte: »God is testing us with this Girl« murmelte ich: »God is testing us with this movie.«

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Heiß disku­tiert wird an den ersten Tagen die soge­nannte Frau­en­frage, sprich: Die Gründe dafür, warum diesmal keine einzige Regis­seurin im Wett­be­werb vertreten ist. Der Kommen­tator von »Le Monde« lästerte, obschon die Tages­zei­tung Cannes-Medi­en­partner ist, zum Auftakt kräftig über die vermeint­liche Frau­en­feind­lich­keit der beiden starken Männer von Cannes, Gilles Jacob und Thierry Fremaux, der zudem auch noch beken­nender Schwuler ist. Fremaux vertei­digte seine Entschei­dungen einleuch­tend, in dem er zum einen auf die drei Regis­seu­rinnen in der Sektion »Un Certain Regard« verwies, und dann sinngemäß sagte, man könne dann ja auch gleich Quoten nach Konti­nenten, Kulturen, reli­giöser und sexueller Orien­tie­rung aufstellen. Auf der Pres­se­kon­fe­renz der Jury­mit­glieder antwor­tete dann die direkt ange­spro­chene Andrea Arnold, die bereits zweimal im Wett­be­werb vertreten mit dem klas­si­schen und etwas abge­stan­denen Argument gegen jede Quote: Sie wolle doch einge­laden werden, weil ihr Film gut ist, nicht, um noch eine Frau für den Wett­be­werb zu finden.

So ganz versteht man(n) die große Aufregung und den Zorn mancher Kolle­ginnen nicht, denn erst im letzten Jahr liefen allein im Wett­be­werb schon vier Regis­seu­rinnen. Ein wenig erinnert mich das alles daher an inzwi­schen sehr alte Reflexe. Und ist es denn wirklich nur ein Zeichen für versteckten Machismo meiner­seits und bei anderen Kollegen, dass sich über so etwas fast immer nur Frauen aufregen? Oder doch auch ein ranzig gewor­dener Femi­nismus, der verzwei­felt nach echten Gegnern sucht? Klar wir Männer sind ja nicht betroffen. Aber das ist es ja gerade: Der Zwang der Grup­pen­iden­tität. Warum müssen sich Frauen über eine fehlende Frau – ein völliges Abstraktum, denn nie wird hier erwähnt, welche Frau und welchen Film man denn bitte­schön hätte unbedingt einladen müssen – eigent­lich mehr empören, als darüber, dass Woody Allens fertiger Film nicht in Cannes läuft, und nicht der neue von Terrence Malick, und nicht der neue von Wong Kar-Wai. Da heißt es dann, der sei halt nicht fertig geworden, was man immer sagt, wenn einer der »Üblichen Verdäch­tigen« dann doch nicht in Cannes läuft, oder Malick werde in Venedig laufen, denn der Mann wolle halt den Grand Slam der Regis­seure gewinnen – Goldene Palme und Goldenen Bär hat er schon, den Goldenen Löwen nicht. Oder die Entschul­di­gung sind, wie bei Cronen­bergs Freud-Film im letzten Jahr, die angeblich fehlenden Stars. Als ob wir es glauben, dass Keira Knightley wirklich irgend­eine Londoner Thea­ter­auf­füh­rung nicht für einen Abend mal absagen würde, um an der Croisette zu sein.

Aber bei einer Frau waren es natürlich geschlech­ter­po­li­ti­sche Vorur­teile, wenn der Film nicht gezeigt wird. Da wird dann auf angeb­liche Männer­kar­telle verwiesen, die es natürlich gibt, ohne aber auch nur mit einem Nebensatz zu erwähnen, dass die gleichen Kartelle im letzten Jahr überaus frau­en­freund­lich entschieden haben. Pardon, das war jetzt wieder so ein typisch männ­li­ches Vorurteil, denn im letzten Jahr waren die Einla­dungen natürlich nicht frau­en­freund­lich, sondern nur recht und billig.

Aber viel­leicht ist es doch so gewesen, dass ja wirklich die dies­jäh­rigen Filme von Frauen einfach zu schlecht waren? Nein, das kann nun wirklich nicht stimmen. Das beste Argument gegen diese These lieferte gestern Alexandra aus Wien: Noch schlechter wie der Ägypter, meinte sie, könne der Film irgend­einer Frau auch nicht gewesen sein.