13.11.2025

Schwarze Linien, die nicht verschwinden

William Kentridge: Drawing for Self-Portrait as a Coffee-Pot
William Kentridge: Drawing for Self-Portrait as a Coffee-Pot (2 Private Thoughts), 2021
(Foto: Museum Folkwang/William Kentridge, 2025)

Zum 70. Geburtstag des südafrikanischen Künstlers widmet das Museum Folkwang William Kentridge mit »Listen to the Echo« eine konzentrierte Ausstellung seiner „Drawings for Projection“ – vier Filme, die ein vibrierendes Echo zwischen Erinnerung, Politik und Poesie erzeugen

Von Axel Timo Purr

Es beginnt mit einem Flimmern, einem Kratzen, einem Taktak, kaum wahr­nehm­baren Geräu­schen, das sich langsam in den Raum hinein­fressen. Als würde jemand in die Wand hinein­zeichnen. »Listen to the Echo« heißt die Ausstel­lung, und wer sie betritt, wird unwei­ger­lich Teil dieses Echos – der Rück­kopp­lung zwischen Erin­ne­rung und Gegenwart, zwischen persön­li­cher Erfahrung und kollek­tiver Geschichte.

Anläss­lich des 70. Geburts­tags von William Kentridge, dem wohl bedeu­tendsten südafri­ka­ni­schen Künstler der Gegenwart, zeigt das Museum Folkwang keine klas­si­sche Retro­spek­tive, sondern eine konzen­trierte, thema­tisch vibrie­rende Schau, die sich dem Herzstück seines Schaffens widmet: den Drawings for Projec­tion, jenen elf Filmen, die Kentridges Werk seit den späten 1980er-Jahren wie eine innere Achse durch­ziehen. Vier davon sind in Essen zu sehen – Mine (1991), Sobriety, Obesity and Growing Old (1991), Other Faces (2011) und City Deep (2020). Sie kommu­ni­zieren mitein­ander wie Stimmen in einem viel­stim­migen Chor – inhalt­lich, ästhe­tisch, rhyth­misch –, jede antwortet auf die andere, jede wieder­holt und verwan­delt, was zuvor erklang.

Kentridges Methode ist ebenso einfach wie exis­ten­ziell: eine Kohle­zeich­nung (von denen einige in Essen ausge­stellt sind), aufge­nommen, über­zeichnet, gelöscht, wieder aufge­nommen. »Ich zeichne auf Papier, gehe zur Kamera, mache ein oder zwei Aufnahmen, gehe zurück zum Papier, verändere etwas, gehe wieder zur Kamera.« Ein Kreislauf, in dem sich der Prozess des Erinnerns spiegelt. Denn die Kohle löscht nie volls­tändig; was einmal da war, bleibt als Schatten sichtbar. Dieses Prinzip, das Sichtbare des Vergan­genen, ist nicht nur ästhe­tisch, sondern auch moralisch.

In Mine wird daraus ein fast bibli­sches Drama aus Erde, Arbeit und Schuld. Der reiche Minen­be­sitzer sitzt in seinem Bett, während die Kamera sich in den Boden bohrt, hinab in die Schichten der Ausbeu­tung, wo Männer hämmern, schwitzen, sich duschen, während das Geld über ihnen rotiert – einge­blendet wie eine unsicht­bare Sonne. Die Musik unterlegt das Geschehen wie ein pochender Herz­schlag, eine rhyth­mi­sche Folter aus Arbeit und Atem.

Sobriety, Obesity and Growing Old treibt dieses Motiv weiter. Der Körper als Last, die Welt als zu enges Kostüm. Kentridge arbeitet hier mit Farben – Lila für das Fleisch­liche, Rot für den Zorn. Ein Kuss zwischen Mann und Frau löst einen lila Schwall aus, der aus dem Laut­spre­cher quillt, als würde die Liebe selbst explo­dieren. Kurz darauf ein Aufmarsch, eine Demons­tra­tion, dieselbe Wucht, dieselbe Bewegung – das Private und das Poli­ti­sche, inein­ander verwoben, unun­ter­scheidbar.

In Other Faces schließ­lich bricht das Rot mit neuer Inten­sität ins Bild: Johan­nes­burg, zerrissen zwischen Aufbruch und Still­stand, ein Mosaik aus Straßen, Mauern, Gesich­tern. Kentridge zitiert den Stil der Ligne claire, lässt Comic-Anleihen von Jacques Tardi auf afri­ka­ni­sche Rhythmen treffen. In einem Panel mit der Aufschrift »Joburg Mall« blitzt zwischen Beton und Blech die Härte des Alltags auf. Der weiße Mann, der hier wie durch die Szenen der anderen Filme geistert, ist mal Soho Eckstein, mal Felix Teitel­baum, aber auch der Künstler selbst – nicht als Autorität, sondern als Mitschul­diger. Kentridge malt sich in die Geschichte hinein, um sich ihr nicht zu entziehen.

Ausstellungsraum
Szene aus Other Faces, rechts im Hinter­grund die Kohle­zeich­nungen, die Grundlage für Kentridges Anima­tionen sind (Foto: Axel Timo Purr)

City Deep (2020) führt diesen Dialog in die Gegenwart: Das alte Johan­nes­burg wird unter den neuen Finanz­zen­tren begraben, Minen­schächte werden zu musealen Erin­ne­rungs­räumen. »Her Absence filled the world«, heißt es, als Ecksteins Gebäude gesprengt wird – die Abwe­sen­heit der Frau, die Abwe­sen­heit der Stadt, das Verschwinden einer Epoche. Hier erreicht Kentridges Kunst eine fast archäo­lo­gi­sche Tiefe: Jeder Strich wird zum Grabungs­werk­zeug, jede Linie zum Fragment eines Gedächt­nisses, das sich weigert, zu schweigen.

Viel Zeit ist seit den frühen Filmen vergangen – und doch sind sie erstaun­lich gut gealtert. Die poli­ti­schen Bezüge, die damals so brannten, haben nichts an Schärfe verloren, nur an unmit­tel­barer Hoffnung. Die Welt, scheint es, ist nicht besser geworden, sie ist nur geschickter im Vergessen. Viel­leicht wirkt Kentridges Kunst deshalb heute dring­li­cher denn je: als poeti­scher Wider­stand gegen die Beschleu­ni­gung des Verges­sens.

Das funk­tio­niert auch auf persön­liche, ganz über­ra­schende Weise, triggert Kentridge etwas auch meine eigenen Erin­ne­rungen, muss ich plötzlich an das schon im Umbruch begrif­fene alte Johan­nes­burg denken, als ich dort in den 1990er-Jahren in einer Umklei­de­ka­bine eines Klei­der­ge­schäfts auf drei Tüten mit anti­qua­ri­schen Büchern stieß – unter anderem eine Erst­aus­gabe von Hesses Siddha­rtha. Auf Nachfrage durfte ich sie mitnehmen. Ich war glücklich und verstand erst viel später, dass diese Bücher nicht nur anti­qua­ri­schen Wert besaßen, sondern eine eigene, viel wert­vol­lere Geschichte erzählten: die von der Flucht vieler europäi­scher Juden nach Südafrika, von einem intel­lek­tu­ellen Exil, das Kentridge in seinen Filmen mitschwingen lässt. In diesen Tüten lag das vergan­gene Johan­nes­burg, das der Künstler jetzt, dreißig Jahre später, in seinen Bildern endgültig verschwinden lässt – nicht als Verlust, sondern als Trans­for­ma­tion.

Das Museum Folkwang präsen­tiert diese vier Filme mit einer beein­dru­ckenden Sensi­bi­lität. Kein musealer Bombast, keine über­la­dene Chro­no­logie. Statt­dessen ein drama­tur­gisch durch­dachter Parcours, in dem Bild, Ton und Raum sich gegen­seitig spiegeln. Die Geräusche der Stadt – das Klopfen, das Rufen, das Rattern der Telefone – hallen wie ferne Erin­ne­rungen. Nur manchmal dringt der Sound anderer Instal­la­tionen aus den Nach­bar­instal­la­tionen herein, was man jedoch auch als Erwei­te­rung des Echos deuten kann: das Unab­ge­schlos­sene, das Unauf­hör­liche.

Kentridge bleibt in all dem ein zutiefst huma­nis­ti­scher Künstler. Seine Figuren sind schuldig, verletz­lich, erschöpft – und dennoch schöp­fe­risch. Er zeigt, dass Kunst immer eine Form des Über­le­bens ist, dass Zeichnen ein Akt des Erinnerns und Wider­ste­hens zugleich sein kann. Wer hier zuhört, hört nicht nur das Echo der Geschichte, sondern auch das Rauschen der eigenen Zeit.

Listen to the Echo ist keine Feier des Künstlers, sondern eine Feier des Prinzips, das ihn antreibt: des beharr­li­chen, tastenden Wieder­ho­lens. Es ist eine Ausstel­lung, die nicht zurück­blickt, sondern in den Raum hinein­horcht. Sie zeigt Kentridge nicht als Monument, sondern als Bewegung – als den Mann, der die Welt mit Kohle zeichnet und sie gleich­zeitig auslöscht.

Am Ende verlässt man die Räume mit schwarzen Fingern, als hätte man selbst die Geschichte berührt. Ein stärkeres Kompli­ment kann man einer Ausstel­lung kaum machen.