Schwarze Linien, die nicht verschwinden |
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| William Kentridge: Drawing for Self-Portrait as a Coffee-Pot (2 Private Thoughts), 2021 | ||
| (Foto: Museum Folkwang/William Kentridge, 2025) | ||
Von Axel Timo Purr
Es beginnt mit einem Flimmern, einem Kratzen, einem Taktak, kaum wahrnehmbaren Geräuschen, das sich langsam in den Raum hineinfressen. Als würde jemand in die Wand hineinzeichnen. »Listen to the Echo« heißt die Ausstellung, und wer sie betritt, wird unweigerlich Teil dieses Echos – der Rückkopplung zwischen Erinnerung und Gegenwart, zwischen persönlicher Erfahrung und kollektiver Geschichte.
Anlässlich des 70. Geburtstags von William Kentridge, dem wohl bedeutendsten südafrikanischen Künstler der Gegenwart, zeigt das Museum Folkwang keine klassische Retrospektive, sondern eine konzentrierte, thematisch vibrierende Schau, die sich dem Herzstück seines Schaffens widmet: den Drawings for Projection, jenen elf Filmen, die Kentridges Werk seit den späten 1980er-Jahren wie eine innere Achse durchziehen. Vier davon sind in Essen zu sehen – Mine (1991), Sobriety, Obesity and Growing Old (1991), Other Faces (2011) und City Deep (2020). Sie kommunizieren miteinander wie Stimmen in einem vielstimmigen Chor – inhaltlich, ästhetisch, rhythmisch –, jede antwortet auf die andere, jede wiederholt und verwandelt, was zuvor erklang.
Kentridges Methode ist ebenso einfach wie existenziell: eine Kohlezeichnung (von denen einige in Essen ausgestellt sind), aufgenommen, überzeichnet, gelöscht, wieder aufgenommen. »Ich zeichne auf Papier, gehe zur Kamera, mache ein oder zwei Aufnahmen, gehe zurück zum Papier, verändere etwas, gehe wieder zur Kamera.« Ein Kreislauf, in dem sich der Prozess des Erinnerns spiegelt. Denn die Kohle löscht nie vollständig; was einmal da war, bleibt als Schatten sichtbar. Dieses Prinzip, das Sichtbare des Vergangenen, ist nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch.
In Mine wird daraus ein fast biblisches Drama aus Erde, Arbeit und Schuld. Der reiche Minenbesitzer sitzt in seinem Bett, während die Kamera sich in den Boden bohrt, hinab in die Schichten der Ausbeutung, wo Männer hämmern, schwitzen, sich duschen, während das Geld über ihnen rotiert – eingeblendet wie eine unsichtbare Sonne. Die Musik unterlegt das Geschehen wie ein pochender Herzschlag, eine rhythmische Folter aus Arbeit und Atem.
Sobriety, Obesity and Growing Old treibt dieses Motiv weiter. Der Körper als Last, die Welt als zu enges Kostüm. Kentridge arbeitet hier mit Farben – Lila für das Fleischliche, Rot für den Zorn. Ein Kuss zwischen Mann und Frau löst einen lila Schwall aus, der aus dem Lautsprecher quillt, als würde die Liebe selbst explodieren. Kurz darauf ein Aufmarsch, eine Demonstration, dieselbe Wucht, dieselbe Bewegung – das Private und das Politische, ineinander verwoben, ununterscheidbar.
In Other Faces schließlich bricht das Rot mit neuer Intensität ins Bild: Johannesburg, zerrissen zwischen Aufbruch und Stillstand, ein Mosaik aus Straßen, Mauern, Gesichtern. Kentridge zitiert den Stil der Ligne claire, lässt Comic-Anleihen von Jacques Tardi auf afrikanische Rhythmen treffen. In einem Panel mit der Aufschrift »Joburg Mall« blitzt zwischen Beton und Blech die Härte des Alltags auf. Der weiße Mann, der hier wie durch die Szenen der anderen Filme geistert, ist mal Soho Eckstein, mal Felix Teitelbaum, aber auch der Künstler selbst – nicht als Autorität, sondern als Mitschuldiger. Kentridge malt sich in die Geschichte hinein, um sich ihr nicht zu entziehen.
City Deep (2020) führt diesen Dialog in die Gegenwart: Das alte Johannesburg wird unter den neuen Finanzzentren begraben, Minenschächte werden zu musealen Erinnerungsräumen. »Her Absence filled the world«, heißt es, als Ecksteins Gebäude gesprengt wird – die Abwesenheit der Frau, die Abwesenheit der Stadt, das Verschwinden einer Epoche. Hier erreicht Kentridges Kunst eine fast archäologische Tiefe: Jeder Strich wird zum Grabungswerkzeug, jede Linie zum Fragment eines Gedächtnisses, das sich weigert, zu schweigen.
Viel Zeit ist seit den frühen Filmen vergangen – und doch sind sie erstaunlich gut gealtert. Die politischen Bezüge, die damals so brannten, haben nichts an Schärfe verloren, nur an unmittelbarer Hoffnung. Die Welt, scheint es, ist nicht besser geworden, sie ist nur geschickter im Vergessen. Vielleicht wirkt Kentridges Kunst deshalb heute dringlicher denn je: als poetischer Widerstand gegen die Beschleunigung des Vergessens.
Das funktioniert auch auf persönliche, ganz überraschende Weise, triggert Kentridge etwas auch meine eigenen Erinnerungen, muss ich plötzlich an das schon im Umbruch begriffene alte Johannesburg denken, als ich dort in den 1990er-Jahren in einer Umkleidekabine eines Kleidergeschäfts auf drei Tüten mit antiquarischen Büchern stieß – unter anderem eine Erstausgabe von Hesses Siddhartha. Auf Nachfrage durfte ich sie mitnehmen. Ich war glücklich und verstand erst viel später, dass diese Bücher nicht nur antiquarischen Wert besaßen, sondern eine eigene, viel wertvollere Geschichte erzählten: die von der Flucht vieler europäischer Juden nach Südafrika, von einem intellektuellen Exil, das Kentridge in seinen Filmen mitschwingen lässt. In diesen Tüten lag das vergangene Johannesburg, das der Künstler jetzt, dreißig Jahre später, in seinen Bildern endgültig verschwinden lässt – nicht als Verlust, sondern als Transformation.
Das Museum Folkwang präsentiert diese vier Filme mit einer beeindruckenden Sensibilität. Kein musealer Bombast, keine überladene Chronologie. Stattdessen ein dramaturgisch durchdachter Parcours, in dem Bild, Ton und Raum sich gegenseitig spiegeln. Die Geräusche der Stadt – das Klopfen, das Rufen, das Rattern der Telefone – hallen wie ferne Erinnerungen. Nur manchmal dringt der Sound anderer Installationen aus den Nachbarinstallationen herein, was man jedoch auch als Erweiterung des Echos deuten kann: das Unabgeschlossene, das Unaufhörliche.
Kentridge bleibt in all dem ein zutiefst humanistischer Künstler. Seine Figuren sind schuldig, verletzlich, erschöpft – und dennoch schöpferisch. Er zeigt, dass Kunst immer eine Form des Überlebens ist, dass Zeichnen ein Akt des Erinnerns und Widerstehens zugleich sein kann. Wer hier zuhört, hört nicht nur das Echo der Geschichte, sondern auch das Rauschen der eigenen Zeit.
Listen to the Echo ist keine Feier des Künstlers, sondern eine Feier des Prinzips, das ihn antreibt: des beharrlichen, tastenden Wiederholens. Es ist eine Ausstellung, die nicht zurückblickt, sondern in den Raum hineinhorcht. Sie zeigt Kentridge nicht als Monument, sondern als Bewegung – als den Mann, der die Welt mit Kohle zeichnet und sie gleichzeitig auslöscht.
Am Ende verlässt man die Räume mit schwarzen Fingern, als hätte man selbst die Geschichte berührt. Ein stärkeres Kompliment kann man einer Ausstellung kaum machen.