Dolce far niente am Lido |
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Fast nicht wiederzuerkennen: Emma Stone in Bugonia | ||
(Foto: La Biennale di Venezia · Yorgos Lanthimos) |
»Wir leben in einer Zeit des Terrors und der Einschüchterung. Und die Antwort, zu der auch die Kunst gehört, ist die Liebe.«
– Guillermo del Toro
Einen besonders schönen Abend hatte ich am Sonntag in der Bar Maleti mit den Österreichern Christine, Veronika und Severin, Dominik und Stefan.
Irgendwann nach ein paar Gläsern entspinnt sich eine interessante Diskussion: Wir haben auf der einen Seite die Breite des Kinos, die ästhetische Diversität, die es gibt, und auf der anderen Seite den aktuell eher traurigen Zustand größerer Teile des Autorenfilmbereichs, der durch Einfallslosigkeit gekennzeichnet ist, durch
Redundanz und Überalterung wie durch Relevanzverlust. Das Filmfestival von Venedig hilft diesem Zustand auch nicht gerade, weil hier doch viele mainstreamige Filme laufen, oft genug die üblichen Verdächtigen.
Das Gegenwartskino revisioniert auch im Venedigprogramm – allein vier Remakes im Wettbewerb – gerade die Bestände der Kunstarchive und ihrer Gesellschaften, überprüft und befragt Soll und Haben. Es scheint festzuhängen in einer Schleife der
Vergangenheit. Zukunftsweisenden Fragen und Antworten auf die Krisen der Gesellschaft begegnet man im Gegenwartskino dagegen gerade selten.
Aber dann doch immer wieder ganz Herausragendes, wie die Filme von Assayas und Mona Fastvold.
Es stellt sich außerdem natürlich die Frage: Was würde man eigentlich selber machen, wenn man in der Position von Alberto Barbera wäre?
Was würde man machen und was könnte man überhaupt machen?
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Der Lido ist anders, sagt Ugo, der italienische Filmkritiker, mit dem ich seit vielen Jahren befreundet bin, und der hier jedes Jahr gemeinsam mit anderen den Premio »Bisato d’Oro«, den »Preis der unabhängigen Filmkritik« vergibt. Ugo bricht immer wieder aus aus der Festivalblase, dann fährt er drei Kilometer nach Süden in die wahre Welt. Der wahre Lido, sagt er, das sind die kleinen Restaurants, wo an einem Tisch alte Männer in kurzen Hosen sitzen und auch die Bedienungen
männlich wie weiblich, alt wie jung, kurze Hosen haben und T-Shirts, und sich alle beim Vornamen nennen und wo der halbe Liter Wein nur 5 € kostet und viel besser schmeckt als der Liter für 25.
Mittags trinkt man dann schon drei Gläser, dann ein Mittagsschlaf, denn für alles andere ist es zu warm, am morgen schwimmt man im Meer, am Abend am besten nochmal. Dolce far niente
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Zum Lido gehören auch die Rentner auf ihren Fahrrädern. Wie Daniela, meine Wirtin seit 15 Jahren. Sie schreibt auch mit 80 noch Bücher über Venedig, wie jetzt gerade über »Venedig und Istanbul«, und kauft immer ein paar Karten fürs Festival. In diesem Jahr findet Daniela Yorgos Lanthimos ganz fürchterlich, »Horribile!« Aber den Film mit George Clooney hat sie auch gesehen, denn der Mann sieht halt toll aus: »Que Bello!«
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Bugonia vom Goldenen-Löwen-Gewinner Yorgos Lanthimos hat wieder Emma Stone als Hauptdarstellerin, eine Kombination, die mir allmählich auf die Nerven geht. Zumal das die Affektiertheit des Lanthimos-Kinos noch verstärkt.
Stone spielt die mächtige Vorstandsvorsitzende eines großen Unternehmens, die von zwei Männern entführt wird, die von Verschwörungstheorien besessen sind und sie für eine Außerirdische halten, die insgeheim die Erde terrorisiert. So beginnt der Film, der Denkanstöße darüber geben möchte, inwiefern das Netz unser Denken verformt und uns zu Positionen von »Flacherdlern« treibt, also Paranoikern und Spinnern, die glauben die Erde sei eine Scheibe. Drehbuch und Film gleiten wie ein TGV, weich und metallisch und abgehoben dahin.
Da ich die Bedeutung des Filmtitels nicht kannte, habe ich nachgeschaut: Er verweist auf einen falschen Glauben, evoziert im Mythos von Aristeus in Vergils »Georgica«. Demnach könne aus dem Kadaver eines toten Ochsen ein Bienenschwarm entstehen, der die perfekte Gesellschaft repräsentiere. Verschwörungstheorie der Antike. Die beiden Entführer sind Imker.
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Ich war trotz aller inzwischen bei mir gewachsenen Lanthimos-Skepsis sehr neugierig auf diesen Film.
Aber Jesse Plemons agiert in dem Film völlig größenwahnsinnig. Auf brutale Weise versuchen die beiden Männer, die Frau zu zwingen, Kontakt zu ihrem »Mutterschiff« und zu wahren Strippenziehern, den Aliens im All herzustellen und verirren sich dabei in den absurdesten Überzeugungen. »Nicht viel an dieser Dystopie ist fiktiv«, sagte Lanthimos bei der Pressekonferenz in Venedig. »Das meiste ist eine Reflexion unserer tatsächlichen Welt.«
Wie bei Lanthimos üblich, ist der Film grotesk und brutal, und will lustig gefunden werden. Ohne zu viel zu verraten, kommt er am Ende zu einer ähnlichen, klischierten »Pointe« wie Guillermo de Toros Frankenstein: »Das Ungeheuerlichste in unserem Leben sind keine jenseitigen Kräfte, sondern das, was uns am vertrautesten ist: der Mensch selbst.«
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Neben der Spinnerei verschiedenster Färbung war ein zweiter roter Faden an den ersten Tagen das Familienthema: Väter, Mütter, erst recht allgemeiner das Verhältnis von Eltern und Kindern.
Zum Beispiel der tschechische Film Vater von Tereza Nvolova. Sie zeigt herausragend inszeniert einen Menschen unter Stress, Hektik, mit subjektiver Kamera. Man sieht diesen Mann erstmal beim Joggen, dann gerät er ins Schwitzen, ein übersensibler Mann, der über einen Pickel im Gesicht nachdenkt und seine Frau fragt, ob es sich um ein Malignom handeln könnte, ob er Krebs hat. Die Familie ist gut ausgestatteter, gut situierter, bürgerlicher oberer Mittelstand.
Dies ist ein Film über Männlichkeit und Männer-Beweglichkeit. In die Firma kommt ein neuer Manager, der sagt: »It’s not my first time saving a company.«
Aber das alles führt uns 20 Minuten lang in die Irre, das alles zeigt uns eigentlich nur, wie diese Leute sich nicht fürs Arbeiten interessieren, wie sie unkonzentriert sind, andere Sachen im Kopf haben, dabei unter Dauerstress schweben. Und dann hat dieser treu sorgende, liebende Vater, der ziemlich viel Quatsch mit seiner Tochter macht, diese seine Tochter plötzlich im Auto vergessen, sechs Stunden lang bei 38 Grad Außentemperatur...
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Frage an Christoph Waltz bei der Venedig-Pressekonferenz: Wie bleiben Sie in diesen Zeiten hoffnungsvoll? – Antwort: »I don’t!«