04.09.2025

Dolce far niente am Lido

Bugonia
Fast nicht wiederzuerkennen: Emma Stone in Bugonia
(Foto: La Biennale di Venezia · Yorgos Lanthimos)

Gegen den Relevanzverlust: Das süße Leben, Verschwörungstheorien der Antike und der neue Film von Yorgos Lanthimos bei den Filmfestspielen – Notizen aus Venedig, 3. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wir leben in einer Zeit des Terrors und der Einschüch­te­rung. Und die Antwort, zu der auch die Kunst gehört, ist die Liebe.«
– Guillermo del Toro

Einen besonders schönen Abend hatte ich am Sonntag in der Bar Maleti mit den Öster­rei­chern Christine, Veronika und Severin, Dominik und Stefan.
Irgend­wann nach ein paar Gläsern entspinnt sich eine inter­es­sante Diskus­sion: Wir haben auf der einen Seite die Breite des Kinos, die ästhe­ti­sche Diver­sität, die es gibt, und auf der anderen Seite den aktuell eher traurigen Zustand größerer Teile des Autoren­film­be­reichs, der durch Einfalls­lo­sig­keit gekenn­zeichnet ist, durch Redundanz und Überal­te­rung wie durch Rele­vanz­ver­lust. Das Film­fes­tival von Venedig hilft diesem Zustand auch nicht gerade, weil hier doch viele main­strea­mige Filme laufen, oft genug die üblichen Verdäch­tigen.
Das Gegen­warts­kino revi­sio­niert auch im Vene­dig­pro­gramm – allein vier Remakes im Wett­be­werb – gerade die Bestände der Kunst­ar­chive und ihrer Gesell­schaften, überprüft und befragt Soll und Haben. Es scheint fest­zu­hängen in einer Schleife der Vergan­gen­heit. Zukunfts­wei­senden Fragen und Antworten auf die Krisen der Gesell­schaft begegnet man im Gegen­warts­kino dagegen gerade selten.

Aber dann doch immer wieder ganz Heraus­ra­gendes, wie die Filme von Assayas und Mona Fastvold.

Es stellt sich außerdem natürlich die Frage: Was würde man eigent­lich selber machen, wenn man in der Position von Alberto Barbera wäre?
Was würde man machen und was könnte man überhaupt machen?

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Der Lido ist anders, sagt Ugo, der italie­ni­sche Film­kri­tiker, mit dem ich seit vielen Jahren befreundet bin, und der hier jedes Jahr gemeinsam mit anderen den Premio »Bisato d’Oro«, den »Preis der unab­hän­gigen Film­kritik« vergibt. Ugo bricht immer wieder aus aus der Festi­val­b­lase, dann fährt er drei Kilometer nach Süden in die wahre Welt. Der wahre Lido, sagt er, das sind die kleinen Restau­rants, wo an einem Tisch alte Männer in kurzen Hosen sitzen und auch die Bedi­e­nungen männlich wie weiblich, alt wie jung, kurze Hosen haben und T-Shirts, und sich alle beim Vornamen nennen und wo der halbe Liter Wein nur 5 € kostet und viel besser schmeckt als der Liter für 25.
Mittags trinkt man dann schon drei Gläser, dann ein Mittags­schlaf, denn für alles andere ist es zu warm, am morgen schwimmt man im Meer, am Abend am besten nochmal. Dolce far niente

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Zum Lido gehören auch die Rentner auf ihren Fahr­rä­dern. Wie Daniela, meine Wirtin seit 15 Jahren. Sie schreibt auch mit 80 noch Bücher über Venedig, wie jetzt gerade über »Venedig und Istanbul«, und kauft immer ein paar Karten fürs Festival. In diesem Jahr findet Daniela Yorgos Lanthimos ganz fürch­ter­lich, »Horribile!« Aber den Film mit George Clooney hat sie auch gesehen, denn der Mann sieht halt toll aus: »Que Bello!«

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Bugonia vom Goldenen-Löwen-Gewinner Yorgos Lanthimos hat wieder Emma Stone als Haupt­dar­stel­lerin, eine Kombi­na­tion, die mir allmäh­lich auf die Nerven geht. Zumal das die Affek­tiert­heit des Lanthimos-Kinos noch verstärkt.

Stone spielt die mächtige Vorstands­vor­sit­zende eines großen Unter­neh­mens, die von zwei Männern entführt wird, die von Verschwörungs­theo­rien besessen sind und sie für eine Außer­ir­di­sche halten, die insgeheim die Erde terro­ri­siert. So beginnt der Film, der Denk­an­stöße darüber geben möchte, inwiefern das Netz unser Denken verformt und uns zu Posi­tionen von »Flacherd­lern« treibt, also Para­noi­kern und Spinnern, die glauben die Erde sei eine Scheibe. Drehbuch und Film gleiten wie ein TGV, weich und metal­lisch und abgehoben dahin.

Da ich die Bedeutung des Film­ti­tels nicht kannte, habe ich nach­ge­schaut: Er verweist auf einen falschen Glauben, evoziert im Mythos von Aristeus in Vergils »Georgica«. Demnach könne aus dem Kadaver eines toten Ochsen ein Bienen­schwarm entstehen, der die perfekte Gesell­schaft reprä­sen­tiere. Verschwörungs­theorie der Antike. Die beiden Entführer sind Imker.

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Ich war trotz aller inzwi­schen bei mir gewach­senen Lanthimos-Skepsis sehr neugierig auf diesen Film.

Aber Jesse Plemons agiert in dem Film völlig größen­wahn­sinnig. Auf brutale Weise versuchen die beiden Männer, die Frau zu zwingen, Kontakt zu ihrem »Mutter­schiff« und zu wahren Strip­pen­zie­hern, den Aliens im All herzu­stellen und verirren sich dabei in den absur­desten Über­zeu­gungen. »Nicht viel an dieser Dystopie ist fiktiv«, sagte Lanthimos bei der Pres­se­kon­fe­renz in Venedig. »Das meiste ist eine Reflexion unserer tatsäch­li­chen Welt.«

Wie bei Lanthimos üblich, ist der Film grotesk und brutal, und will lustig gefunden werden. Ohne zu viel zu verraten, kommt er am Ende zu einer ähnlichen, klischierten »Pointe« wie Guillermo de Toros Fran­ken­stein: »Das Unge­heu­er­lichste in unserem Leben sind keine jensei­tigen Kräfte, sondern das, was uns am vertrau­testen ist: der Mensch selbst.«

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Neben der Spinnerei verschie­denster Färbung war ein zweiter roter Faden an den ersten Tagen das Fami­li­en­thema: Väter, Mütter, erst recht allge­meiner das Verhältnis von Eltern und Kindern.

Zum Beispiel der tsche­chi­sche Film Vater von Tereza Nvolova. Sie zeigt heraus­ra­gend insze­niert einen Menschen unter Stress, Hektik, mit subjek­tiver Kamera. Man sieht diesen Mann erstmal beim Joggen, dann gerät er ins Schwitzen, ein über­sen­si­bler Mann, der über einen Pickel im Gesicht nachdenkt und seine Frau fragt, ob es sich um ein Malignom handeln könnte, ob er Krebs hat. Die Familie ist gut ausge­stat­teter, gut situ­ierter, bürger­li­cher oberer Mittel­stand.

Dies ist ein Film über Männ­lich­keit und Männer-Beweg­lich­keit. In die Firma kommt ein neuer Manager, der sagt: »It’s not my first time saving a company.«

Aber das alles führt uns 20 Minuten lang in die Irre, das alles zeigt uns eigent­lich nur, wie diese Leute sich nicht fürs Arbeiten inter­es­sieren, wie sie unkon­zen­triert sind, andere Sachen im Kopf haben, dabei unter Dauer­stress schweben. Und dann hat dieser treu sorgende, liebende Vater, der ziemlich viel Quatsch mit seiner Tochter macht, diese seine Tochter plötzlich im Auto vergessen, sechs Stunden lang bei 38 Grad Außen­tem­pe­ratur...

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Frage an Christoph Waltz bei der Venedig-Pres­se­kon­fe­renz: Wie bleiben Sie in diesen Zeiten hoff­nungs­voll? – Antwort: »I don’t!«